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Demonstrationen von Deutschtürken
"Das sind Menschen, die sich hier nicht ganz zugehörig fühlen"

Nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland haben Menschen gegen den versuchten Putsch protestiert. Das habe vor allen damit zu tun, dass sich viele Deutschtürken mit Staatspräsident Erdogan identifizierten, sagte der Psychologe Kazim Erdogan im DLF. Vor allem AKP-Anhänger hätten die Demonstrationen in Berlin und Köln organisiert.

Kazim Erdogan im Gespräch mit Sarah Zerback |
    Demonstranten stehen am 16.07.2016 in Berlin mit türkischen Fahnen vor dem Botschaftsgebäude der Türkei. Nach Angaben der Polizei demonstrierten dort 500 Menschen gegen den Putschversuch des türkischen Militärs.
    In Berlin demonstrierten viele Menschen vor der türkischen Botschaft gegen den Putschversuch. (dpa/picture alliance/Paul Zinken)
    Sarah Zerback: Egal wohin wir auch schauen, verurteilt wird der versuchte Putsch von allen Seiten. Auch die Gegner Erdogans, die Kurden, und sogar dessen Erzfeind, der islamische Prediger Gülen, positionieren sich gegen die Machtübernahme, die gescheiterte. Und so sind bereits am Samstag Tausende Menschen auf die Straße gegangen, nicht nur in der Türkei; auch in Deutschland haben Menschen mit türkischen Wurzeln demonstriert. Darüber möchte ich jetzt sprechen mit Kazim Erdogan. Er ist Diplompsychologe und Vorsitzender des Vereins "Aufbruch Neukölln". Guten Abend, Herr Erdogan.
    Kazim Erdogan: Einen wunderschönen guten Abend.
    Zerback: Jetzt liegen ja zwischen Ankara und Neukölln fast 3000 Kilometer. Was treibt denn Deutschtürken auch hierzulande auf die Straße?
    Erdogan: Ich sage mal, dass zirka 75 bis 80 Prozent der Menschen, die hier leben und aus der Türkei kommen, sehr enge Bindungen in die Türkei haben, weil fast alle von denen dort Verwandte haben, Eltern haben, Freunde haben. Das ist der eine Grund. Und der zweite Grund: Das sind Menschen, die sich hier nicht ganz zugehörig fühlen. Das heißt, sie identifizieren sich mehr mit unserem Staatspräsidenten als mit unserer Bundeskanzlerin, weil wir auch nach zirka 55, 56 Jahren immer noch nicht zueinander gefunden haben. Und ich hätte mich gefreut, wenn auch so viele Menschen sich in die Politik in Deutschland einmischen würden, weil der Lebensmittelpunkt dieser Menschen Deutschland ist.
    "Ich habe Angst, dass es innerhalb des Volkes zu größeren Auseinandersetzungen kommt"
    Zerback: Und das, was wir jetzt da am Wochenende gesehen haben in Deutschland, waren das jetzt Demonstrationen gegen den Militärputsch, oder für Erdogan?
    Erdogan: Ich würde eher sagen, eher für Erdogan. Man sieht doch jeden Tag in der Türkei, jeden Tag, dass mehrere Hunderttausend Menschen auf die Straße gehen, und ich habe Angst davor, dass da wirklich jetzt innerhalb des Volkes, der Bevölkerung es zu größeren Auseinandersetzungen kommt, weil das ein bisschen zu sehr übertrieben ist, finde ich. Und was die Lieder, die Gebete, die Sprüche angeht, die dort gezeigt werden, macht mir das große Sorgen, oder alleine mit der Fahne auf die Straße zu gehen. Ich gebe mal ein Beispiel: Unser Präsident hat vor drei Jahren die Demonstranten vom Gezi-Park als Verräter des Vaterlandes abgestempelt, weil sie von ihrem demokratischen Recht Gebrauch machen wollten und demonstrieren wollten. Und derselbe Präsident, weil es um ihn geht, um sein System geht, ruft die Leute auf, auf die Straße zu gehen, und da sind über 260 Zivilisten ums Leben gekommen. Die wurden erschossen. Hätte er vielleicht diesen Aufruf nicht gemacht, dann wären nicht so viele Menschen erschossen worden. Man darf nicht übertreiben.
    Zerback: Am Wochenende war es sehr gewalttätig in der Türkei, in Istanbul und Ankara. Da standen den Demonstranten Soldaten mit Maschinengewehren und Panzern gegenüber. Das wurde zumindest am Anfang ja auch als Zeichen der Solidarität interpretiert gegenüber Erdogan. Glauben Sie, diese Solidarität, die wird ihm jetzt nützen, dem türkischen Staatspräsidenten?
    Erdogan: Ich bin mir sicher, das hat nur ihm was genützt, und wir wissen auch nicht, unter welchen Umständen dieser Putschversuch gestartet wurde. Wir wissen nicht, von wem das inszeniert und durchgeführt wurde, und das System in der Türkei, die Regierung, die Behörden haben so schnell den Dieb gefunden, und das ist die Gülen-Bewegung, und 20.000 Menschen sind eingekerkert worden, deren Schuld nicht bewiesen ist ohne Gerichtsbeschlüsse. Ohne Gerichtsurteile, ohne Beweise sind sie festgenommen worden, entlassen worden, und das macht mir ganz, ganz große Sorgen. Ich verteidige keinen Militärputsch, sondern man muss die Bedingungen und die Ursachen der Militärputschs bekämpfen und die Antwort darauf kann nur Demokratie sein, Rechtsstaatlichkeit sein und Gemeinsamkeit sein, dass man Wir und Ihr-Situationen bekämpft, und mit diesen Aktionen in der Türkei erreicht man, vermute ich mal, exakt das Gegenteil.
    "Es fehlt eine ruhige Hand, die regiert"
    Zerback: Sie sind ja mit vielen Menschen im Gespräch. Wie verläuft denn die aktuelle Debatte hier in Deutschland unter Deutschtürken?
    Erdogan: Wir haben heute Abend in meiner Vätergruppe darüber diskutiert. Es kommen Tränen, alle Leute haben Angst, alle machen sich große, große, große Sorgen um ihre Verwandten und Bekannten, weil dort eine ruhige Hand fehlt, die regiert. Dort fehlen Menschen, Politiker, die Geduld, Gelassenheit und Ruhe ausstrahlen. Unsere Politiker, Staatspräsident und Ministerpräsident, sie rufen andauernd die Leute auf, auf die Straße zu gehen, und da passieren unmögliche Sachen, dass da nur Nationalismus gepredigt wird, und das ist natürlich für ein friedliches demokratisches Land zu wenig.
    Zerback: Das was Sie da beschreiben, das wird ja oft auch damit erklärt, dass es eine tiefe Spaltung in der türkischen Gesellschaft gibt, die verläuft zwischen dem islamisch-konservativen Milieu und der kemalistisch-laizistischen Bevölkerungsschicht. Ist denn dieser Riss auch hier in Deutschland zu spüren?
    Erdogan: Selbstverständlich. - Selbstverständlich! Die Einigkeit, was die Bekämpfung des Putsches anbelangt, gibt es hier nicht und hier waren nicht alle von allen Parteien vor der türkischen Botschaft in Berlin oder in Köln, sondern das waren nur die AKP-Anhänger, die spontan Demonstrationen organisiert haben.
    "Ich habe vor niemandem Angst"
    Zerback: Sie selbst, wenn ich Sie da richtig verstehe, sind ja eher kritisch der türkischen Regierung gegenüber und haben sich auch in der Vergangenheit immer wieder kritisch und ganz deutlich geäußert, auch schon in der Debatte um den Völkermord an den Armeniern. Haben Sie da denn selbst Sorge vor Reaktionen, auch vielleicht Sorge um Ihre Sicherheit?
    Erdogan: Nein! Nach meinem Interview im "Spiegel Online" habe ich mehrere Hassmails bekommen und alle von Menschen mit türkischer Zuwanderungsgeschichte. Auf der anderen Seite habe ich von meinen deutschen Landsleuten Hunderte von Mails bekommen, die mein Interview verteidigt haben und stolz darauf waren, dass man deutlich und klar die Meinung äußert. Ich äußere meine Meinung und wenn man im Leben nicht mal angstfrei seine Meinung äußern darf, äußern kann, das ist das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann. Ich habe vor niemandem Angst, weil ich der Meinung bin, dass ich dann nicht nur für die Türken, egal wo sie leben, sondern auch für meine deutschen Landsleute und für die Menschlichkeit einen guten Beitrag leiste.
    Zerback: Und dieses Gespräch haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet mit Kazim Erdogan.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.