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Der besondere Fall
Spätfolgen der Polio

Viele der ehemals an Polio erkrankten Kinder können als Erwachsene ein halbwegs normales Leben führen. Bei einigen ist das jedoch nicht der Fall. Jahrzehnte später machen ihnen Müdigkeitsattacken und Muskelschmerzen zu schaffen.

Von Christina Sartori | 26.09.2017
    Utensilien zur Injektionsimpfung gegen die Krankheit Kinderlähmung liegen am 24.10.2014 in der Universitätsklinik in Magdeburg (Sachsen-Anhalt) bereit.
    Utensilien zur Impfung gegen Polio (dpa/ picture alliance/ Jens Wolf )
    Es war wie ein Befreiungsschlag für die junge Studentin: Als Daniela von Raffay in den Semesterferien mit einer kleinen Fähre nach Formentera übersetzte, stellte sie sich an die Reeling, löste die Bein-Schiene von ihrem rechten Bein und schleuderte sie in hohem Bogen ins glitzernde Mittelmeer. 17 Jahre nach ihrer Polio Erkrankung trennte sie sich von dem schweren Eisengestell, das sie an ihrem rechten Bein tragen musste. Nie hatte sich die gebürtige Münchnerin damit anfreunden können:
    "Die hat so gedrückt und im Sommer eingeschnitten durch die Hitze und im Winter mit der Kälte war das kälter das Bein, weil ja diese Eisenstangen da rechts und links waren. Und wie ich Anfang 20 war, da bin ich nach Berlin gezogen und da hab ich die ins Meer geschmissen, da waren wir mal in Formentera am Mittelmeer und da hab ich die in großer Geste weggeworfen."
    Denn ohne Schiene ging alles noch schneller.
    "Und bin nur noch mit zwei Krücken gelaufen, weil ich sehr kräftige Oberarme hatte und da konnte ich wesentlich schneller laufen oder in großen Sätzen die Treppen runterhechten und das war viel angenehmer, wie mit dieser schweren Schiene am Bein."
    Daniela von Raffay hat sich nie bremsen lassen durch die Kinderlähmung, an der sie mit drei Jahren erkrankt war. Sechs Wochen lang wurde sie damals im Krankenhaus behandelt, unter Quarantäne. Ihre Eltern sah sie nur durch ein Fensterchen, direkter Kontakt war verboten. Als sie entlassen wurde, waren beide Beine gelähmt. Doch nach zwei Jahren regelmäßiger Behandlungen und Übungen konnte sie das linke Bein wieder bewegen. Das rechte Bein blieb aber gelähmt. Eine schwere Schiene gab ihm Halt, so dass sie jetzt wieder laufen konnte. Und turnen:
    "Ich hatte eine ganz tolle Turnlehrerin, muss ich sagen. Ich war immer das einzige behinderte Kind und diese Sportlehrerin hat mich notenmäßig genauso bewertet, wie nicht Behinderte, also hat mir immer eine 2 in Turnen gegeben, weil ich halt ganz toll am Barren turnen konnte und so."
    Bewegungen wurden von Jahr zu Jahr mühsamer
    Daniela von Raffay ist immer aktiv: Als Mädchen turnt und reitet sie, später spielt sie Rollstuhl-Basketball und macht Yoga. Doch dann wird alles mühsam, Arbeit und Sport – von Jahr zu Jahr mühsamer:
    "Praktisch ab 40, 50. Es geht so ganz schleichend und man denkt irgendwie ich hab eine Grippe oder ich bin eben mal hingefallen oder ich bin halt müde von der Arbeit – ich hatte ja auch einen 8-Stunden-Job. Und das hat da immer mehr zugenommen, so vor ungefähr 20 Jahren, 25 Jahren, da wurde es ganz massiv, das ich so ganz schlimme Müdigkeitsattacken bekam und mich hätte mittags tot unter den Tisch legen können, da half kein Kaffee und kein gar nichts."
    Nicht nur Müdigkeitsattacken machen Daniela von Raffay zu schaffen. Auch ihre Muskelkraft nimmt ab. Sie nutzt jetzt häufiger den Rollstuhl, und auch die Arme werden schwächer. Dabei konnte von Raffay bisher durch ihre kräftigen Arme die Lähmung im Bein gut ausgleichen: Durch Krücken schnell vorwärtskommen und Treppen steigen, beim Basketball den Rollstuhl über das Feld flitzen lassen. Und auch um für die Yoga Übungen aus dem Rolli auf den Boden zu kommen, setzt sie hauptsächlich ihre Arme ein. Jetzt merkt sie:
    "Die Kraft lässt nach. Einfach dieses nicht mehr hochkommen vom Liegen ins Sitzen oder um vom Boden in den Rolli oder vom Rolli auf den Boden, das fällt halt zunehmenden schwerer."
    Nach dem Rollstuhl-Basketball schmerzen ihre Oberarme, schlimmer als normaler Muskelkater. Doch von Raffay kommt es erst einmal nicht in den Sinn, dass die Müdigkeitsattacken, die Muskelschmerzen und die abnehmende Muskelkraft zusammenhängen, Symptome für eine Krankheit sein könnten. Auch ihre Ärzte und Physiotherapeuten, die sie in diesen Jahren aufsucht, sehen keinen Zusammenhang. Kein Wunder, denn zu diesem Zeitpunkt kennt kaum einer die Krankheit, die all das verursacht, sie steht in keinem Lehrbuch. Noch nicht.
    Daniela von Raffay geht schließlich zu einem Polio Experten, Dr. Manfred Tesch, heute Oberarzt der neurologischen Abteilung der Schlosspark Klinik Berlin.
    "Bei Frau von Raffay, das war im Grunde die typische Geschichte wie bei anderen auch: Das jemand einem schildert, irgendwie habe ich nicht mehr die gleiche Kraft wie vorher, man merkt der Patient hat definitiv weniger Kraft, aber es könnte vielleicht sein, dass es schon immer so war, und hat diffuse Schmerzen, nicht ganz heiß und stark, aber so irgendwie so ein Muskelziehen. Und es ist jemand, der sich nicht drückt vor Bewegungen, sondern eigentlich ganz tüchtig ist und ganz viel tut."
    Die Ursache: Eine Überbelastung bestimmter Nerven, die Muskeln aktivieren
    Manfred Tesch hat zu dieser Zeit mehrere Patienten, deren Zustand sich Jahrzehnte nach einer Polio Erkrankung deutlich verschlechtert – und er kennt dazu passende Berichte aus den USA. Deswegen hat der Neurologe einen Verdacht. Er führt verschiedene Untersuchungen durch um zu sehen, ob er richtig liegt: Dann müssten bei Daniela von Raffay Muskeln geschädigt sein:
    "Eine Nadel kommt dann in den Muskel, in den Oberarm, glaube ich, und in den Oberschenkel und dann wird so eine kleine Gewebeprobe entnommen und da können die das wohl dran erkennen, ob da so ein Muskelabbau ist."
    "Das wichtigste war die Blutuntersuchung. Es gibt bestimmte Muskelwerte wie CK, die hat jeder im Blut und die hat eine bestimmte Höhe. Und wenn man den Muskel schädigt, dann steigt dieser Wert an."
    Weitere Untersuchungen schließen andere Ursachen aus und Manfred Tesch ist sich jetzt sicher: Daniela von Raffay hat das Post Polio Syndrom. Eine Nervenkrankheit, die bei manchen Menschen, die früher Polio hatten, Jahrzehnte danach auftritt. Die Ursache: Eine Überbelastung bestimmter Nerven, die Muskeln aktivieren. Diese Nerven müssen seit der Polioerkrankung mehr leisten, als vorher, weil durch die Polioviren einige Muskelnerven zerstört wurden – nun müssen sie deren Arbeit zusätzlich übernehmen.
    "Das ist zum Teil das Siebenfache von dem, was sonst ein normaler Nerv versorgt. Und diese vergrößerte Versorgung lässt sich vom Stoffwechsel her offenbar über viele Jahre nicht so gesund durchhalten, wie das, was normalerweise zu leisten ist von einem Nerven."
    Rückgängig machen kann man die Schädigungen nicht
    Vor allem nicht, wenn man sich immer wieder körperlich fordert und überanstrengt, sagt Manfred Tesch.
    "Diese starke Anstrengung, die macht sich dann irgendwann in diesen nicht ganz gesunden Muskelstrukturen als Erschöpfung, als Schmerz, als Kraftverlust bemerkbar."
    Rückgängig machen kann man die Schädigungen nicht, aber man kann verhindern, dass es schlimmer wird, sagt Tesch:
    "Leichte Belastung und Erholung, wenn man sich das leisten kann und das hinkriegt, dann wird es auch nicht schlechter, zum Teil ist es dann jahrelang stabil."
    Auch wenn es keine Heilung gibt – Daniela von Raffay war froh, als Dr. Tesch bei ihr Post Polio Syndrom feststellte:
    "Das ist immer eine Erleichterung, wenn man einfach unter irgendwas leidet, diffuse Dinge, denkt spinn ich oder hab ich Depression oder was ist los oder bin ich faul oder so oder muss ich mich mehr anstrengen, mehr zusammenreißen. Und dann kommt eben raus, das ist ein eigenständiges Krankheitsbild…Das ist sehr erleichternd."