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Der besondere Fall
Trommelschlegelfinger oder der unentdeckte Tumor

Hinter weit verbreiteten Beschwerden stecken in der Regel auch weit verbreitete Erkrankungen. Doch manchmal sind die offensichtlichen Anzeichen irreführend. So müssen Schmerzen in den Fingergelenken nicht unbedingt mit einer Rheumaerkrankung zu tun haben, sie können auch auf eine Krebserkrankung hinweisen.

Von Thomas Liesen | 14.11.2017
    Das MRT-Bild des Gehirntumors (heller Fleck)
    Schmerzende Fingerspitzen können auf Tumore an ganz anderen Stellen hinweisen. (picture-alliance / dpa / Rolf Vennenbernd)
    "Ja vor etwa 8, 9 Jahren begann diese Leidensgeschichte, relativ plötzlich."
    Der Biologe Dr. Marko Birke ist 35 Jahre alt, als er merkt: Sein Körper verändert sich.
    "Die erste Symptome waren – da ging es mir körperlich noch gut – dass meine Fingerenden, die Fingerspitzen geschwollen waren. Da habe ich mich gewundert, aber noch keine großen Gedanken gemacht."
    "Dann wurde es schlimmer, ich hatte geschwollene Knie, richtig dick, die haben geschmerzt und ich konnte mich dann irgendwann kaum noch bewegen, also ich brauchte Hilfe beim Aufstehen, von der Toilette, musste mich aktiv hochziehen, dass das überhaupt geht. Treppensteigen war schwierig, das ging nur mit Ziehen am Geländer."
    Falsche Diagnose
    Er fühlt sich wie 70 und nicht wie Mitte 30. Marco Birke geht zu seinem Hausarzt, der tippt tatsächlich auf eine typische Alterskrankheit: Rheuma. Zur Sicherheit werden Blutwerte bestimmt. Doch Fehlanzeige: Alle Werte sind völlig in Ordnung. Sein Arzt verschreibt ihm daher erst mal entzündungshemmende Medikamente. Und siehe da: Die Schmerzen sind wie weggeblasen.
    "Ich habe mich ganz gut gefühlt. Bloß wenn ich die wieder abgesetzt habe, war am nächsten Tag wieder alles wie vorher, Gelenke geschwollen, ich konnte kaum laufen etc.pp."
    Marko Birke greift daher erneut zu den Medikamenten. Jeder weitere Versuch, sie abzusetzen, rächt sich sofort durch schlimme Gelenkschmerzen.
    "Das war ein gutes halbes Jahr, dass wir das so gemacht haben, ohne dass sich irgendetwas Neues ergeben hätte."
    Hunderte verschiedene Erkrankungen
    Sein Arzt beruhigt ihn. Da die Blutwerte ok sind, könne es nicht Ernstes sein. Und dieser Schluss ist zunächst nachvollziehbar, sagt Prof. Bernhard Manger, leitender Oberarzt der Klinik für Immunologie und Rheumatologie der Universität Erlangen. Dass es einmal um Leben und Tod gehen wird, hätte man zu diesem Zeitpunkt kaum ahnen können.
    "Gelenkschmerzen ist was Häufiges, Rheuma ist ja keine Erkrankung, das sind ja hunderte verschiedene Erkrankungen, die alle Schmerzen an den Gelenken, an den Knochen machen können und in den meisten Fällen ist erst mal ein zuwartendes Verhalten mit Rheumamedikamenten wie Ibuprofen, Diclofenac, durchaus gerechtfertigt. Zumal es ja geholfen hat in dem Fall."
    Nun ist Marko Birke selbst Wissenschaftler, hin und wieder googelt er daher in medizinischen Fachpublikationen.
    "Aber nicht so richtig was gefunden, ich habe mich da echt auf den Arzt verlassen tatsächlich. Das vielleicht ein bisschen naiv."
    Schlimmer Verdacht
    Und es wird schlimmer. Plötzlich scheint etwas von innen gegen seinen Hals zu drücken. Das Schlucken fällt schwer. Ein Freund rät ihm, er solle sich mal an der Uniklinik Erlangen vorstellen. Marko Birke folgt dem Rat und trifft auf Bernhard Manger. Er berichtet ihm von seinen Gelenkschmerzen.
    "Es klang wie Rheuma. Aber dann war es eben das, was er mir zusätzlich erzählt hat, dass eben der Groschen gefallen ist und an eine bestimmte Erkrankung hat denken lassen.
    Manger wird besonders auf die Finger aufmerksam.
    "Dieses Anschwellen der Fingerendglieder so um die Nagelfalz herum, das bezeichnet man auch als Trommelschlegel-Finger."
    Bernhard Manger hat einen schlimmen Verdacht – den er aber zunächst nicht äußert. Er rät Marko Birke dringend zu einer Röntgenuntersuchung der Lunge.
    "Auf dem Überweisungszettel stand Pierre-Marie-Bamberger-Syndrom und natürlich, neugierig wie ich bin, bin ich nicht direkt in die Klinik, sondern erst in mein Büro und habe dann gegoogelt."
    Das Pierre-Marie-Bamberger Syndrom
    Und er ist schockiert. Das Pierre-Marie-Bamberger Syndrom ist eine seltene Erkrankung. Sie äußert sich tatsächlich wie eine Art Rheuma. Aber in Wahrheit ist die eigentliche Ursache Krebs. Irgendwo im Körper wächst unerkannt ein Tumor. Durch biochemische Signale noch unbekannter Art löst er rheumatische Symptome an ganz anderer Stelle aus.
    "Aber ich hatte immer noch die Hoffnung: Das ist es nicht."
    Die Lungenuntersuchung ist auch tatsächlich ohne Befund. Dann folgt eine Tomographie des ganzen Körpers – und sie bringt es ans Licht.
    "Am Montag Nachmittag kam dann die Aussage: Ja, es ist ein bösartiger Tumor im Bereich der Speiseröhre und des oberen Magens. 12:15 Klingt jetzt vielleicht ein bisschen stärker, als es damals war, aber ich wollte da offensiv gegen vorgehen. Ich wollte jetzt nicht sterben."
    Der Tumor ist so groß, dass er nicht operiert werden kann.
    "Da gab es eben die Situation, wo mir gesagt wurde: Jetzt liegt es an Ihnen, wie es weiter geht. Da habe ich gesagt: Na ja, Möglichkeit eins: Ich mach nichts und bin in sechs Monaten tot oder ich mach jetzt sofort was, so schnell es geht."
    Chemotherapie gegen den Tumor
    Es gibt nur eine Chance: Chemotherapie. Die soll den Tumor verkleinern, bis er operiert werden kann. Und tatsächlich: Die Chemo schlägt gut an. Der Tumor schrumpft, Marko Birke landet schließlich auf dem OP-Tisch. Dennoch: Es steht alles auf des Messers Schneide.
    "Ich habe damals über 100 Kilo gewogen, was eigentlich nicht gesund ist aber ich hatte Reservoir. Am Ende, als das mit er OP durch war, habe ich um die 72 Kilo gewogen."
    Die komplizierte OP verläuft erfolgreich. Es scheint, als sei der Tumor komplett entfernt.
    "Na ja, es gab dann noch eine Zusatzprämie."
    Und zwar bei der Nachuntersuchung nach einigen Wochen.
    "Und da wurde eben ein CT vom Kopf mitgemacht und dann habe ich einen Anruf bekommen, ich muss sofort in die Klinik kommen."
    Metastase im Gehirn
    Dort eröffnet man ihm: Oberhalb des linken Auges sitzt eine Metastase im Gehirn, Durchmesser fast 5 Zentimeter. Sofort operieren. Die einzig gute Nachricht dabei:
    "Es war eine isolierte Metastase, die man quasi – ich sage es mal pauschal – herauslöffeln kann."
    "Wurde noch eine prophylaktische Bestrahlung angeschlossen und dann war es gut."
    Das alles ist jetzt fast 10 Jahre her. Marko Birke gilt als geheilt. Und er weiß, dass er großes Glück hatte. Vor allem, weil Bernhard Manger das Pierre-Marie-Bamberger-Syndrom erkannte.
    "Das Entscheidende war glaube ich, die Gelenk- und Knochenschmerzen zusammenzubringen mit diesen Veränderungen an den Fingern, das ist der diagnostische Clou gewesen."
    Der Marko Birke das Leben rettete. Wenn auch nicht ganz ohne Folgen. Bei der Bestrahlung des Kopfes nach der Hirntumor-OP wurde nämlich aus Versehen die Netzhaut mit bestrahlt. Daher kann er auf einem Auge immer schlechter sehen.
    "Es hinterläßt Spuren, aber die nehme ich gerne in Kauf."