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Der serbischen "Demokratie eine Chance" gegeben

Vor dem Hintergrund der Nato-Luftangriffe auf Serbien vor zehn Jahren hat der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Gert Weisskirchen, bekräftigt, die Nato habe damals keine andere Wahl gehabt. Nur so sei es möglich gewesen, im Kosovo Schlimmeres zu verhindern. Zudem habe man der Demokratie in Serbien eine Chance gegeben, fügte Weisskirchen hinzu.

Gert Weisskirchen im Gespräch mit Dirk Müller | 24.03.2009
    Dirk Müller: In der Nacht zum Donnerstag hat die NATO mit Luftschlägen gegen Ziele in Jugoslawien begonnen. So informierte Bundeskanzler Gerhard Schröder das Parlament und die Bevölkerung über den Beginn des Kosovo-Krieges am 24. März 1999, also heute vor zehn Jahren - ein Militäreinsatz, der ebenfalls bis heute umstritten ist. Bei uns am Telefon ist nun Gert Weisskirchen, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Guten Tag!

    Gert Weisskirchen: Guten Tag, Herr Müller.

    Müller: Herr Weisskirchen, bekommen Sie gleich schon wieder Bauchschmerzen, wenn Sie an den März 1999 zurückdenken?

    Weisskirchen: Oh ja! Das war für uns eine furchtbare Situation. Wir haben zum ersten Mal selbst miterleben müssen - damals als Abgeordnete, was es heißt, sich in einer tragischen Situation zu befinden, aus der es keinen Ausweg wirklich gibt, nur den Versuch, am Ende Milosevic zum Einlenken zu bewegen - Sie erinnern sich: Rambouillet. Nur, auch das war am Ende gescheitert, weil Milosevic nicht bereit war, auf die Forderungen wirklich einzugehen, und deswegen gab es keinen anderen Ausweg mehr.

    Müller: Wie schwierig, Herr Weisskirchen, war das für Sie persönlich, plötzlich zu sagen, wir müssen Krieg führen, wir müssen intervenieren?

    Weisskirchen: Das war deshalb schwierig, weil beispielsweise ich als junger Mann Kriegsdienstverweigerer gewesen bin, anerkannt war und für mich gerade weil ich auch Freunde, Bekannte, die in Belgrad lebten, sehr gut kannte, ihre Ängste, ihre Furcht. Und von daher war es ein schreckliches Dilemma, es hat uns alle bis ins Herz getroffen.

    Müller: War der Einsatz in dieser Massivität angemessen?

    Weisskirchen: Das muss man sich immer wieder fragen, immer wieder neu, und wir haben uns das auch ständig selbst gefragt, in allen Phasen, die wir beobachtet haben, und besonders die Brücke, die vorhin noch einmal beschrieben worden ist, mit diesem fürchterlichen Wort des Kollateralschadens, das war für mich der letzte Punkt, wo ich mir selbst sagte, jetzt müssen wir einen anderen Weg suchen. Zum Glück hat dann Milosevic doch nach diesen kriegerischen Auseinandersetzungen selbst eingelenkt, sodass es dann im Juni doch möglich war, einen anderen Weg zu gehen.

    Müller: Sie denken also schon darüber nach, inwieweit auch der Westen sich schuldig gemacht hat?

    Weisskirchen: Aber gewiss doch ist es so, dass wir uns gar nicht aus dieser Frage herauslösen können, und selbstverständlich stellt man sich immer wieder auch selbst ganz persönlich die Frage, war das richtig, dass wir uns so verhalten haben, war es richtig - und das war eine der schwierigsten Legitimationsfragen, die man sich dann stellen muss -, zum Beispiel ohne einen Beschluss des Weltsicherheitsrates zu dieser Intervention zu greifen und Militär einzusetzen. Das sind alles Fragen, die einen tief im Innersten getroffen und fast zerrüttet haben. Am Ende glaube ich doch, dass wir die Frage richtig beantwortet haben, aber es bleiben immer Zweifel.

    Müller: Und dann ausgerechnet, Herr Weisskirchen, Rot-Grün. Rot-Grün beschließt diese Intervention, von der Verteidigungsarmee zur Interventionsarmee.

    Weisskirchen: Ja. Auch das war für uns sozusagen ein Test, in die Realität hineingeworfen zu werden, in eine Realität, die wir uns so nicht vorgestellt haben, aber der wir sofort begegnen mussten, eine Antwort finden mussten, und wir sind geradezu in diese Entscheidung hineingeworfen worden und mussten von einem auf den nächsten Tag uns entscheiden. Es gab zwar schon 1995, als Srebrenica zu erkennen war, dass Milosevic einen schrecklichen gewalttätigen Weg gehen will, den Beginn eines vorsichtigen Umdenkens, aber diese Frage wurde uns dann mit einer Geschwindigkeit gestellt, bei der wir fast atemlos waren, aber wir mussten entscheiden, es ging nicht anders.

    Müller: Heißt das für Sie seitdem, seitdem diese Entscheidung getroffen worden ist - Sie haben das ja auch mit unterstützt, Sie haben ja auch zugestimmt im Bundestag -, gibt es einen gerechten Krieg?

    Weisskirchen: Das ist die schwierigste Frage, die man sich, wenn man politische Verantwortung trägt, selbst stellen muss. Ich will dieser Frage nicht ausweichen, sondern ich will nur sagen, es gibt Abwägungsgründe, immer wieder neu zu überlegen, was muss man in einer Situation tun, wo Hunderttausende von Menschen auf der Flucht waren, wo die Ereignisse sich überstürzten, wo zu erkennen war, dass Milosevic am Ende vielleicht sogar bereit gewesen wäre, Völkermord zuzulassen, ja selbst in Gang zu setzen. Das hat man dann ja auch in Den Haag noch mal miterleben müssen, wie er in einer zynischen kalten Weise über die Menschen geredet hat, die unter ihm haben leiden müssen und die er in den Tod getrieben hat, ja der er selber mitbeteiligt war an diesem Töten, an diesem Sterben. Ich glaube, wir hatten gar keine andere Wahl, wenn wir nach Abwägungsgründen dann sagen, ja, trotz allem, wir müssen jetzt bereit sein, militärisch zu intervenieren.

    Müller: Dann hat Heiner Geißler, der ja mal umstrittene Worte in diesem Zusammenhang formuliert hat, indirekt zumindest oder auch direkt Recht, indem er sagt, Pazifismus, das ist anders übersetzt zumindest fahrlässig?

    Weisskirchen: Ich würde das etwas anders formulieren. Pazifismus wäre die richtige Alternative zu allem anderen. Das Problem steckt in der Tat nur darin, wenn es Diktatoren gibt, die bereit sind, über Menschen hinwegzugehen, über ihr Leiden achtlos hinwegzugehen, sie zu opfern, und besonders dann, wenn das in Europa geschieht, dürfen wir Europäer, darf Deutschland zusehen, wenn sich etwas wiederholt, was wir doch 1945 überwunden glaubten?

    Müller: Vor zehn Jahren begann diese Intervention im Kosovo, die Intervention der NATO. Gert Weisskirchen, wenn wir auf die aktuelle Situation schauen, Unabhängigkeit des Kosovo nach wie vor umstritten, war das das Ergebnis, was Sie auch mittel-, langfristig haben wollten?

    Weisskirchen: Nun, das Kosovo hat sich etwas beruhigt. Ich war - das ist vielleicht auch bekannt - durchaus kritisch demgegenüber, sehe aber jetzt, dass die Entwicklung doch im Kosovo ganz vorsichtig sich zum besseren wendet. In der Tat allerdings: In Südosteuropa werden die Gespenster leider gegenwärtig wieder wach. Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit, das wird dort leider gegenwärtig wieder Fuß fassen. Das ist so. Ich glaube, wir müssen als Europäische Union erkennen: das - damals hat es Joschka Fischer, es ist ja eben noch einmal in Erinnerung gerufen worden mit seinen eigenen Worten -, was wir damals geglaubt haben, eine europäische Perspektive für den Gesamtraum Südosteuropa anzubieten, das ist nur fast unvollkommen vorangekommen. Slowenien ist das einzige Land, Mitglied der Europäischen Union, volles Mitglied; die anderen warten noch. Ich glaube, wir müssen einen neuen Ansatz wählen, einen neuen Thessaloniki-Ansatz, der 2003 in Kraft gesetzt worden ist, um die gesamte Region doch wieder etwas näher an die Europäische Union heranzuführen.

    Müller: Herr Weisskirchen, wir haben nur noch gut 20 Sekunden. Ich möchte Sie das trotzdem noch fragen. Wenn Sie heute, was Sie ja oft tun, nach Belgrad reisen, haben Sie ein schlechtes Gewissen?

    Weisskirchen: Ja, ich habe ein schlechtes Gewissen, aber umso mehr freue ich mich darüber, dass diejenigen, die damals schon kritisch gegenüber Milosevic waren, jetzt in der Regierung sind und das ist ein gutes Zeichen. Die haben wir ständig unterstützt und besonders dieses fürchterliche Ereignis zum Anlass genommen, der Demokratie eine Chance zu geben.

    Müller: Live heute Mittag im Deutschlandfunk Gert Weisskirchen, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Vielen Dank für das Gespräch.