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Der Weg in den Ersten Weltkrieg
Österreich-Ungarn: Ein Reich, geeint im Hass

Anfang des 19. Jahrhunderts befand sich Österreich-Ungarn in einer Dauerkrise. In dem Vielvölkerstaat rangen die verschiedenen Nationalitäten um ihre Rechte. "In meinem Reich geht die Krise nicht unter", soll Kaiser Franz Joseph gesagt haben. Am Ende schien einzig der Krieg Erlösung zu bringen.

Von Karl-Markus Gauß | 28.12.2013
    Kaiser Franz Joseph I. von Österreich, Gemälde, Portrait
    Kaiser Franz Joseph I. von Österreich-Ungarn (dpa/picture alliance/MTI)
    1897 kommt der berühmteste amerikanische Schriftsteller nach Wien, wo er sich mehr als ein Jahr aufhalten und zum Liebling der guten Gesellschaft avancieren wird. Mark Twain füllte mit seinen Lesungen und Vorträgen die Säle, ließ sich von einem Empfang zum nächsten reichen und einmal auch in den Reichsrat führen. Dieses Erlebnis hat er in einer großen Reportage festgehalten, mit der er sein amerikanisches Publikum über die Wirren auf dem alten Kontinent unterrichten wollte und die unter dem Titel „Turbulente Tage in Österreich“ erst kürzlich ins Deutsche übersetzt wurde.
    Bei dem, was sich in der Sitzung vom 28. bis zum 30. Oktober 1897 im österreichischen Parlament abspielte, verging dem vom jungen Karl Kraus verächtlich als „Humorgreis“ titulierten Mark Twain sein berühmtes Schmunzeln, und was er weniger amüsiert als schockiert verfasste, das war der Bericht aus einem Tollhaus.
    Ungeklärte Nationalitätenfrage
    Die nicht nur wegen ihrer Länge legendäre Sitzung hatte, nachträglich gesehen, enorme historische Bedeutung, trat der Staat der Habsburger mit ihr doch in seine Phase der Agonie. Zur Debatte stand eigentlich der Finanzausgleich zwischen Ungarn und Österreich, das heißt die Frage, wie hoch sich das Königreich Ungarn an den gemeinsamen Staatsausgaben des Kaiserreiches zu beteiligen habe. Die Sitzung geriet jedoch zum Fanal, weil deutschnationale Politiker verschiedener Couleur ein Gesetz ganz anderer Art nicht hinnehmen wollten, nämlich jene Sprachenverordnung des Ministerpräsidenten Kasimir Badeni, die für Böhmen und Mähren neben dem Deutschen das Tschechische als Amtssprache vorsah. Damit die historisch ohnedies verspätete Verordnung auch in Zukunft nicht wirksam werde, bemühten sich zahlreiche Abgeordnete, die Finanzfrage Ungarns mit der neuen Regelung der Amtssprachen in Böhmen und Mähren zu verquicken. Diese politische Obstruktion, auch Dinge, die damit nicht das Geringste zu tun hatten, unheilvoll immer mit der ungeklärten Nationalitätenfrage zu verbinden, hat verhindert, dass die öffentlichen Angelegenheiten der Monarchie am Ende überhaupt noch sinnvoll verhandelt, geregelt oder gar verändert werden konnten.
    Die parlamentarische Sitzung endete in einer stundenlangen Saalschlacht, in der der Präsident, David Ritter von Abramowicz, als „Polackenschädel“ beschimpft wurde; seine Ordnungsrufe verhallten ungehört, weil national erregte Abgeordnete, kaum dass er sein Wort erhob, die Deckel ihrer Pulte lautstark auf diese knallen ließen. Der Tumult zeigt drastisch, dass es damals einzig der Hass aller auf alle war, der Parlament und Staat noch zusammenhielt. In jedem anderen Land, vermutete Twain, wäre nach einem dreitägigen Exzess wie diesem die Revolution ausgebrochen. In Österreich brach sie nicht aus, weil sich die vielen Nationalitäten in zahllosen Parteien und Fraktionen gegenüberstanden, von denen keine willens war, ein Bündnis mit anderen einzugehen.
    Schule des Hasses
    Der Hass verband und trennte selbst die verschiedenen deutschnationalen und großdeutschen Gruppierungen, deren Propagandisten einander als „Judenknechte“ zu beschimpfen pflegten.
    Wer damals die österreichischen Volksvertreter waren? Lauter Aristokraten, Pfarrer, Kaufleute, Ladenbesitzer, Doktoren - völlig zerstritten, doch einig im Hass, den sie gegen die Juden empfanden - und von denen sie sich gegenseitig vorhielten, selbst welche zu sein.
    Zehn Jahre nach dem amerikanischen Autor wird ein junger Arbeitsloser aus Braunau auf der Besuchertribüne des österreichischen Reichsrats sitzen. Und fasziniert beobachten, wie die Vertreter des Volkes, der Völker geifernd übereinander herfallen und vorsätzlich jedwede zivilisierte Übereinkunft außer Kraft setzen. Er ist in das österreichische Parlament wie in eine Schule des Hasses gegangen und hat auch aus dieser Schule seine eigenen Lehren gezogen, mit denen er Europa in Schutt und Asche legen würde.
    Gäbe es Österreich nicht, müsste man es erfinden.
    -František Palacký, tschechischer Historiker und Politiker.
    Es gibt kaum ein Land in Österreich, das von einer Nation allein bewohnt ist; daher ist es notwendig, dass zum Schutz der Schwachen ein Stärkerer eintritt: der Staat.
    -Eduard Herbst, Abgeordneter der Deutschliberalen im österreichischen Reichsrat.
    Keine Idylle gleichberechtigter Nationalitäten
    1906, acht Jahre nachdem Mark Twain schaudernd aus Wien in die Vereinigten Staaten von Amerika zurückgekehrt war, acht Jahre, bevor der greise Kaiser Franz Joseph sich in einem Manifest an seine Völker wenden würde, um diese in den Krieg zu führen, veröffentlichte ein junger Rumäne eine interessante Denkschrift. Aurel Popovici lebte damals als Student in Graz und hatte Eingang in die Kreise um den Thronfolger Franz Ferdinand gefunden. Die Schrift, mit der er die notorische Staatskrise beenden wollte, trug den Titel „Die Vereinigten Staaten von Österreich“ und legte ein detailliertes Programm vor, wie die staatliche Struktur des Reiches segensreich umgebaut werden könnte.
    Die Monarchie der Habsburger war über die Jahrhunderte zu einem Reich vieler Nationen, Nationalitäten und Nationalitätensplitter geworden, und jeder gewonnene Krieg hatte der Zahl ihrer sprachlichen, ethnischen, religiösen Gruppen neue hinzugefügt. Die Donaumonarchie war keine Idylle gleichberechtigter Nationalitäten, die sich, eine bunte Völkerfamilie, einträchtig um das Herrscherhaus scharten. Aber sie war auch nicht jener „Völkerkerker“, als der sie an ihrem Ende von ihren Feinden verdammt wurde. Tatsächlich haben vor allem die kleinen und kleinsten Völkerschaften diesen Staat geschätzt, weil er allein ihnen das Überleben inmitten größerer, mächtigerer Nationen garantierte, mit oft erstaunlichen Rechten, die den damals noch nicht so genannten „Minderheiten“ zugebilligt wurden.
    Die nationale Berauschung
    Als überall in Europa die Nationen erwachten und sich zu geschichtsmächtigen Kräften emanzipierten, wurde diese nationale Vielfalt der Monarchie zu einem Problem, von dem die allermeisten ihrer Staatsmänner wussten, dass es sich im Laufe der Zeit immer weiter verschärfen werde und es dennoch auf grundsätzliche Weise gar nicht zu lösen war. Während sich im Westen, etwa in Frankreich, eine große französische Nation formierte, die sich die Bretonen, Provenzalen oder Okzitanen in den gemeinsamen Staat einverleibte und deren Sprachen und regionale Kulturen aus dem öffentlichen Raum gewissermaßen in die Dörfer, die Häuser, die Familien zurückdrängte, war eine solche Lösung im Staate der Habsburger völlig undenkbar. Überall im Reich lebten die Nationen und Sprachgemeinschaften so durchmischt zusammen, dass national purifizierte Regionen nur über ethnische Säuberungen oder massenweise Zwangsassimilation zu erreichen gewesen wären. Insbesondere seit dem sogenannten Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867, mit dem das Königreich Ungarn zur herrschenden Macht des einen Reichsteiles wurde, hat es in den ihr zugefallenen Ländern zwar eine grobe Magyarisierung der slowakischen, rumänischen oder kroatischen Untertanen betrieben; aber so unnachsichtig die ungarischen Magnaten dabei auch vorgingen, es hat doch nicht zu dem erwünschten Ergebnis geführt, sondern überall einen Nationalismus der Unterdrückten, Benachteiligten, Beleidigten geweckt, die ihrerseits nun jene Rechte verlangten, die bisher den Deutsch-Österreichern und den Ungarn allein vorbehalten gewesen waren.
    Wien - Geburtsstadt vieler Nationen
    Es hat zahllose Versuche gegeben, eine vermeintlich vernünftige, vorgeblich gerechte Neuordnung der Donaumonarchie nach dem Nationalitätenprinzip zu konzipieren. Selbst die prägenden Ideologen der jungen Nationen setzten dabei die längste Zeit noch auf eine Reform der habsburgischen Staatsstruktur, auf eine Zukunft innerhalb der Monarchie.
    Man darf nicht vergessen, dass nahezu alle slawischen Nationen ihre Geburtsstunde in Wien erlebten, als sich kaisertreue Gelehrte daranmachten, aus regionalen Dialekten verbindliche Schriftsprachen zu formen und Wörterbücher wie Grammatiken zu verfassen.
    So ist die Monarchie zerfallen, weil die Nationen, allen voran die Serben und ihnen nachfolgend eine nach der anderen, statt in einem übernationalen Reich in eigenen Nationalstaaten leben wollten; paradoxerweise haben sie sich aber, als sie diese endlich hatten, alle erst recht in national gemischten Staaten wiedergefunden, in denen die alten Konflikte fortschwelten und in die nächste Katastrophe führten.
    Wenn wir gegen Serbien auftreten, so steht Russland hinter ihm, und wir haben Krieg mit Russland. Wollen sich der Kaiser von Österreich und der Zar gegenseitig vom Thron stoßen und der Revolution die Bahn freigeben?
    -Thronfolger Franz Ferdinand (1913)
    Zweifach hat uns Franz Joseph unendlich geschadet, einmal durch seine Jugend, und das zweite Mal durch sein Alter.
    -Ernest von Körber, österreichischer Ministerpräsident
    Flucht in den Krieg
    Österreich-Ungarn hat den Krieg mit dem Ultimatum und der nachfolgenden Kriegserklärung an Serbien begonnen und hatte dabei die ausdrückliche Rückendeckung des Deutschen Kaiserreiches. Die Donaumonarchie trägt große Schuld an den Millionen Toten, die er forderte, aber auch am eigenen Untergang, den zu verhindern oder immerhin hinauszuschieben doch einer der Hauptgründe war, ihn überhaupt zu beginnen. Wie Österreich in diesen Krieg hineingeriet, hineinschlitterte, das ist ein Fall von politischem Defätismus, es war, wie ein Aperçu lautet, ein „Selbstmord aus Lebensangst“. Die Verantwortlichen, vor allem der greise Kaiser, dessen bald nach dem Zerfall der Donaumonarchie verklärte Rolle in Wahrheit kaum übler hätte sein können, wetteiferten darin, der Welt und sich selbst weiszumachen, dass der Krieg unausweichlich wie ein schicksalhaftes Naturereignis über sie alle verhängt worden sei.
    Dem war natürlich nicht so, gleichwohl ist bemerkenswert, dass Studien amerikanischer und britischer Historiker, die traditionell eher das Versagen der österreichisch-ungarischen Seite anzuprangern pflegten, neuerdings die Gewichte, was Schuld, Versäumnisse, Versagen betrifft, anders beurteilen. Der Brite Christopher Clark und der US-Amerikaner Timothy Snyder zeigten zuletzt erstaunlich viel Nachsicht, was die österreichische Politik in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, ja sogar was die Kriegserklärung selbst anbelangt. Das geradezu Kuriose an der Sache ist, dass heute kein einziger seriöser Historiker zu sagen weiß, mit welcher klügeren Politik die Donaumonarchie, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sichtlich ihrem Ende entgegentaumelte, hätte gerettet werden können; dass aber andrerseits auch kaum jemand mehr in der alten Propaganda von vorgestern denkt und diesen Untergang als historische Notwendigkeit, als unabdingbar für eine bessere Zukunft Europas begreift.
    Erkenntnis nach dem Zerfall
    Noch über 1914 hinaus glaubten die späteren Gründerväter der tschechoslowakischen Republik, Benes und Masaryk, es gelte den Tschechen und Slowaken keinen eigenen nationalen Staat, sondern innerhalb der Donaumonarchie einen gleichberechtigten Status zu erkennen. Das heißt, selbst jene, die zu Protagonisten des Zerfalls wurden, sind lange dafür zu haben gewesen, auf die Entwicklung ihrer Nationen innerhalb des Reiches zu bauen. Aber wie hätte sich das tatsächlich machen lassen? Nehmen wir nur eine Region von vielen: In Triest kämpften die italienischen Irredentisten längst nicht mehr nur gegen die fernen Österreicher, sondern mit besonderer Aversion gegen die Slowenen, die im nahen Hinterland der Hafenstadt siedelten oder als Hafenarbeiter und Dienstmädchen in die Stadt zogen. Damit Triest als Stadt mehrerer Völker der Monarchie erhalten geblieben wäre, hätte es einer rigorosen Gleichberechtigung aller dort lebenden Nationalitäten bedurft; genau das aber wollten die Italiener keineswegs, die das Joch der Österreicher ja nicht deswegen abstreifen wollten, um sich friedlich einen gemeinsamen Staat mit den Slowenen zu teilen. Der Kampf gegen die Slowenen in der eigenen Stadt und in der ganzen Region wurde bis in die jüngste Vergangenheit geführt. Echte Gleichberechtigung zeichnet sich erst neuerdings ab, unter dem Schirm der Europäischen Union. Es ist, als hätte ein Staat, dessen Übernationalität höchst unvollkommen war, zuerst in teils brachiale Nationalstaaten zerfallen müssen, um diese später die Vorteile erkennen zu lassen, die eine andere, eine neue supranationale Einheit bietet.
    In meinem Reich geht die Krise nie unter.
    Wenn die Monarchie schon untergehen muss, so soll sie wenigstens anständig untergehen.
    -Kaiser Franz Joseph I. von Österreich
    Krise als Überlebensprinzip
    Das Grundproblem der Donaumonarchie war, dass selbst weitere Demokratisierung den inneren Zerfall nicht mehr aufhalten konnte, ja ihn sogar beschleunigte. Wo keine echte Klärung in Sicht war, und zwar nicht nur wegen der Dummheit der herrschenden Kräfte, prägte sich eine spezifische Form des politischen Agierens - oder eher des Nichtagierens - aus, das man als „Fortwursteln“ bezeichnet hat. Es ist eine keineswegs simple Art, sich den Dingen zu stellen, indem man sich ihnen in Wahrheit nicht wirklich stellt, sondern sie mit pragmatischer Charakterlosigkeit allmählich forttreibt, von ihnen mitunter ablenkt, sie jedenfalls niemals grundsätzlich angeht. Man könnte sagen, dass die permanente Krise der Donaumonarchie schon fast ihr einziger Daseinsgrund geworden war und sie ihre Legitimität gerade noch aus ihr bezog. Erinnert das nicht ein wenig an die Europäische Union von heute mit der die Verwandtschaft zur Donaumonarchie sonst nicht überbetont werden soll: dieses Regieren von Krisengipfel zu Krisengipfel, bei dem die größten Probleme gerade nicht angegangen, die echten Konflikte nicht ausgetragen werden?
    Die Habsburger hatten eine erstaunliche Fertigkeit ausgebildet, zu regieren, indem sie fast nur mehr reagierten, und das dem Kaiser Franz Joseph zugeschriebene Bonmot „In meinem Reich geht die Krise nicht unter“ fasst die Lage sehr treffend. Die Krise ging nicht vorüber, weil sie das Überlebensprinzip der Monarchie geworden.
    Sehnsucht nach Erlösung
    Diese gewissermaßen staatstragende Lethargie konnte weder ewig gut gehen noch auf Dauer den Zuspruch gerade der feurigsten Geister finden. Und so tönt in dieser Endzeit Kakaniens nicht nur das Lob des Stillstands und das Lamento des Fortwurstelns auf; was sich zu Wort meldet, schrill und verzweifelt, ist vielmehr ein Aktivismus, der kein anderes Ziel kennt, als mit all dem faulen Zauber endlich Schluss zu machen.
    „Lassen wir Österreich doch in seinem eigenen Dreck verrecken“, hat der slowenische Nationaldichter Ivan Cankar kurz vor seinem frühen Tod geschrieben, und in seinem politischen Aufruf klang weniger die Begeisterung für einen Staat der Südslawen auf als die definitive Gewissheit, dass sich in Österreich-Ungarn die Dinge niemals mehr zum Besseren wenden würden. Eine merkwürdige Sehnsucht nach dem Ende von dem allen, von dem ewigen Zank um mickrige Reformen, die proklamiert, unter Druck zurückgezogen, wieder verkündet, neuerdings verhindert wurden, eine gefährliche Sehnsucht nach Erlösung ist in so vielen Zeugnissen aus den letzten Jahren und Monaten vor dem Krieg zu vernehmen, Zeugnissen von jungen Intellektuellen, die für die Unabhängigkeit ihrer unterdrückten Nationen kämpfen, aus Zeugnissen von alten Militärschädeln, wie dem sinistren Chef des österreichischen Generalstabs, Franz Conrad von Hötzendorf, der aus der Misere des Staates, dem öden Frieden in nichts als den Krieg flüchten wollte und in seinem Tagebuch schrieb: „Was aber, wenn die Dinge anders kommen und sich alles im faulen Frieden fortschleppt ...?“Der faule Frieden, das in seinem eigenen Dreck verrottende Reich: Am Ende war es der Krieg, der die Probleme lösen sollte, die zu lösen sich der Staat, die Gesellschaft, die Nationen, der Reichsrat, die Herrschenden und ihre Untertanen als unfähig erwiesen hatten.