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"Der Wunschbruder"
Die Sehnsucht nach Freundschaft

Kurt Oesterles Buch "Der Wunschbruder" ist vieles in einem: Bildungs- und Entwicklungsroman, aber auch Heimatroman im besten, unromantischen Sinne. Oesterle erzählt darin die autobiografisch angehauchte Geschichte zweier ungleicher Freunde in einem schwäbisch-fränkischen Dorf in den 1960er-Jahren.

Von Eva Christina Zeller |
    Blick auf ein Grafitti in Tel Aviv
    Warum buhlt der Protagonist in "Der Wunschbruder" um eine Freundschaft zu einem, der so ganz anders ist als er? (deutschlandradio.de / Daniela Kurz)
    "Ich glaube, so weit ich die eigene Geschichte durchschaue, dass der größte Antrieb, nennen wir ihn Sehnsucht, von außen kommt. In der bäuerlichen Welt um 1960 in der schwäbisch-fränkischen Provinz gibt es noch die Vorstellung, dass jeder, der keine Geschwister hat, unvollkommen, unvollständig ist. Und dass man diesem Jungen und seinen Eltern dieses einredet. Dass er ein Einzelkind ist, erweist sich als Zufall für ihn, aber ständig darauf hingewiesen, dass es sich um einen Mangel handle, empfindet er diesen Mangel immer stärker und sehnt sich danach."
    Kurt Oesterle hat einen in jeder Hinsicht großen Roman geschrieben, den "Wunschbruder". Dieser ist sowohl ein Bildungs- und Entwicklungsroman als auch ein Heimatroman im besten, völlig unromantischen Sinne. Gleichzeitig auch ein spannendes Psychodrama um zwei Stiefbrüder.
    Sehnsucht nach einem Freund, einem Bruder
    Der Roman spielt in den 60er-Jahren in einem schwäbisch-fränkischen Dorf, reicht aber bis in unsere Gegenwart. Die autobiografisch gefärbte Hauptfigur Max wächst als Einzelkind behütet und umsorgt auf. Eltern und Großeltern sitzen um den Tisch, die Schreinerwerkstatt des Vaters liegt im Haus, er wird geliebt und in das geordnete dörfliche Leben und Arbeiten miteinbezogen. Max aber wünscht sich mit unbändiger Sehnsucht einen Freund, besser noch einen Bruder.
    Er bekommt diesen Pflegebruder in Gestalt von Wenzel Bogatz, einem vernachlässigten Flüchtlingsjungen, der mit ihm in eine Klasse geht. Er fühlt sich zu diesem Stotterer, der vom Lehrer geschlagen wird, hingezogen. Warum buhlt er um eine Freundschaft zu einem, der so ganz anders ist als er?
    "Ich glaube zum einen, weil er zu haben war. Der ist nicht umhegt und umsorgt wie Max selber, wie Gleichaltrige im Dorf, die sind nicht herauszubrechen aus ihren Familien. Der aber ist ein vernachlässigtes und misshandeltes Kind, der läuft allein im Dorf herum. Hat der eigentlich Eltern? Ist der wirklich einer, der von Eltern gezeugt wurde, ich frage das aus der kindlichen Perspektive? Ist es eine wirkliche Welt oder eine vollständig unwirkliche Welt, in die man sich hineinmengen kann? Natürlich spielt auch die Fantasie dessen, der sich einen Bruder oder Freund, Freund wäre sozusagen der Einstieg in die Bruderschaft, ersehnt, das kurbelt die Fantasie an. Ich glaube auch, dass so die christliche Prägung durch die Instanz Großmutter ganz wichtig und mitentscheidend ist, dass es die sind, die eine solche Zuwendung brauchen. Der wird misshandelt, der hat vielleicht gar niemanden, der ihn liebt."
    "Die Geschichte hat für mich Aktualität"
    Dieser Roman hat eine große Wucht. Er berichtet aus einer dörflichen Welt, die es so nicht mehr gibt, er berichtet von großen, spannungsvollen Polaritäten. Hier das Einzelkind, das Heimat hat, da der Flüchtlingsjunge aus undurchschaubaren Verhältnissen. Hier das geordnete Handwerkerleben, da die Säufermutter, der Vater ein Knecht, unzählige Halbgeschwister. Dieser Roman, das merkt man ihm an, musste geschrieben werden. Warum?
    "Je älter ich wurde, desto mehr habe ich an dieser Geschichte, die immer da war, wenn sie auch nicht immer gleich hell brannte im Hintergrund, sagen wir so, mit dem Wunschbruder eine Erfahrung gemacht - soweit sich das Ganze sich in meinem Leben abgespielt hat -, die außerordentlich tief ging. Die, ich deute es an einer Stelle an, das einzig Tragische ist, das mich kurz berührte, das vorübergestreift ist. Daraus hätte mehr werden, hätte sehr Schlimmes werden können, es nimmt ja auch gewaltförmige Züge an am Ende und macht der Familie von Max Angst.
    Aber ich dachte auch, wenn ich emotional ein bisschen zurücktrete, es hat Gleichnischarakter. Das ist noch fast archaisches, zum Teil vormodernes Landleben in diesem kleinen Winkel, Limburger Land, im Norden Württembergs, aber diese eine Geschichte, Einzelkind und Flüchtling, hat für mich eine gewisse Aktualität, eine große Aussagekraft gehabt, ich habe versucht, die zu gestalten."
    "Nicht nur ein Privatschicksal"
    Der "Wunschbruder" spielt nicht nur in der Kindheit der Protagonisten Max und Wenzel, sondern er bekommt seine Dramatik durch die Wiederbegegnung dieser ungleichen Brüder als erwachsene Männer. Max will wissen, wie Wenzel es schaffte, nach seinem Rausschmiss aus der Pflegefamilie nicht unterzugehen. Wenzel braucht für seinen Sohn eine geschönte Vergangenheit. Das ist psychologisch glaubwürdig und packend in einer äußerst genauen, musikalischen und vergangenheitsgesättigten Sprache geschrieben. Wie geht man mit einem autobiografischen Stoff um, wie schafft man es, ihn in Literatur zu überführen?
    "In der Kindheit bin ich nahe an dem Kern, den ich glaubte nicht verändern zu können: Hier das vernachlässigte und streckenweise fast verwahrloste Flüchtlingskind, auf der anderen Seite das wohlbehütete, gut gepamperte Einzelkind mit seinen Bildungschancen. Da habe ich mir erlaubt, manches vom Richtigen ins Wahre zu verschieben, das ist nicht richtig, aber wahr, so wie ich es sehe.
    Auch die Zeitumbrüche im Dorf, was das Aufbrechen von Bildung für so viele Menschen wie nie zuvor in diesem Dorf wirklich bewirkt, das Verschwinden von Berufen. Es ist wie ein sanft drückendes Geröll von hinten, das die Verhältnisse verändert und die Menschen durch die Zeit voran schiebt, Neubauen zum Beispiel oder auch welchen Status man erlangen kann, indem man sich in den Genuss von höherer Bildung bringt. All das gehört zu den Rahmenbedingungen, es ist nicht nur ein Privatschicksal. Es gibt die Zeit und dahinter auch die Geschichte, das wäre noch eine andere Schubkraft, Nationalsozialismus, Krieg und Kriegsende und natürlich die Vertreibung und Wiedereinbürgerung von so vielen Leuten. Zumal ich selber aus einer Gegend komme, in der viele Heimatvertriebene gelandet sind. Mehr als ein Viertel kamen noch mal neu dazu und mussten versorgt werden. Zwischen richtig und wahr habe ich versucht immer zu unterscheiden."
    "In der Verzweiflung die falsche Rechnung aufgemacht"
    Die Dringlichkeit und das Anrührende dieses Buches liegen in der versuchten Freundschaft und Bruderschaft dieser ungleichen Jungen und in Max großer Liebes- Wunsch- und Sehnsuchtsfähigkeit. Die Eltern bieten ihm etwas an, was sie selbst nie zu Genüge hatten: Bildung. Damit wird Max den dörflichen Radius verlassen können. Aber er will sich lieber für seinen ersehnten Bruder aufopfern, warum?
    "Dieser kleine Junge, der auf dem Weg ist in eine Bildungskarriere, in der er gewaltig ins Stolpern kommt, der geht als ein Stämmling dieser Welt genauso davon aus, dass das Glück in der Liebe und der Aufopferung liegt - da hat sich unsere Welt natürlich auch sehr gründlich geändert -, in dieser ungeheuren Abhängigkeit des einen vom anderen. Ich vermisse das nicht, aber ich habe das am Stoff meiner Erinnerung sehr oft studieren können, wie die Freundschaften zum Beispiel meiner Eltern gefärbt waren, da gab es noch Beziehungen, die ein Leben hielten und wenn sie durch die schwersten Krisen gingen. Und davon ist auch dieser Max getrieben, ohne das zu durchschauen, als ein Abkömmling dieser alten, bäuerlich, handwerklichen Welt, allerdings jung genug, um dann dort über die Grenze zu gehen in diese moderne Bundesrepublik in ihre Bildung- und Mediengesellschaft. Da zeigt sich allerdings, dass die Eltern in ihrer Verzweiflung eine falsche Gleichung für ihn aufgemacht haben, nämlich Bildung für fehlende Geschwister, als könne man etwas Abstraktes, Nichtdurchblutetes, sag ich mal, dafür geben, wenn einem andere Menschen fehlen."
    Kurt Oesterle "Der Wunschbruder". Roman, erschien im April 2014 bei Klöpfer & Meyer in Tübingen, 536 Seiten, 25 Euro.