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Desmond Tutu
Versöhnung ist nichts für Weichlinge

Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu setzte sich immer dafür ein, dass sich Täter und Opfer des Apartheid-Regimes in Südafrika aussöhnen. Diese Haltung vertritt er auch im "Buch des Vergebens", das er gemeinsam mit seiner Tochter geschrieben hat.

Von Ralph Gerstenberg |
    Desmond Tutu
    Desmond Tutu war auch Mitglied der Wahrheits- und Versöhnungskommission (picture alliance / dpa/Nic Bothma)
    "Es ist klar, dass Vergebung und Versöhnung keine sentimentalen Dinge sind. Versöhnung ist nichts für Weichlinge. Das ist eine harte Sache. Und wenn es uns nur darum geht, uns selbst zurückzukriegen, Auge um Auge, wie es heißt, dann werden wir die Welt ziemlich blind verlassen."
    "Vergebung" ist ein Schlüsselbegriff in der Weltanschauung Desmond Tutus. Der südafrikanische Friedensnobelpreisträger, dem der Jazz-Musiker Miles Davis ein ganzes Album widmete, war Vorsitzender der Wahrheits- und Versöhnungskommission. Sie war nach dem Ende der Rassentrennung eingesetzt worden, um Täter und Opfer politisch motivierter Verbrechen in einen Dialog zu bringen. Versöhnung statt Vergeltung, lautet das Motto Tutus. Doch Versöhnung sei nur denkbar, wenn das Opfer dem Täter vergeben könne und der Täter dem Opfer das Vergeben möglich mache. Das sei ein notwendiger Prozess zur Heilung seelischer Wunden, heißt es im "Buch des Vergebens", das Desmond Tutu gemeinsam mit seiner Tochter Mpho Tutu geschrieben hat.
    "Ich habe oft gesagt, dass es für Südafrika ohne Vergebung, ohne Versöhnung keine Zukunft gegeben hätte. Unsere Wut und das Streben nach Rache hätten uns in den Untergang geführt. (...) Es hat Zeiten gegeben, als jede und jeder Einzelne von uns vergeben musste. Und es gab Zeiten, als jede und jeder Einzelne von uns Vergebung bedurfte. Und das wird auch in Zukunft immer wieder so sein. (...) Vergebung ist die Reise, die wir unternehmen, um das Gebrochene, das Wunde und Zerrissene zu heilen."
    Vergeben bedeutet nicht, vergessen
    Für diese Reise haben Vater und Tochter Tutu eine Art Leitfaden für jede und jeden Einzelnen entwickelt, einen Reiseführer mit vielen Anregungen, persönlichen Erlebnissen und gewonnenen Einsichten. Mit ihnen begibt sich der Leser auf einen sogenannten vierfachen Pfad, für den er immer wieder Meditationsanleitungen und Vorschläge für Rituale und Übungen erhält. Zunächst gehe es darum, die eigene Geschichte zu erzählen, die Verletzung zu benennen, erst danach könne Vergebung praktiziert und die Beziehung erneuert oder beendet werden. Denn eines stellen die beiden Autoren immer wieder heraus: zu vergeben bedeutet nicht, zu vergessen. Im Gegenteil!
    "Der Zyklus der Vergebung kann nur in Gang gesetzt und abgeschlossen werden, wenn absolute Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit herrschen. Vergebung erfordert, die Verbrechen laut auszusprechen und das Leid beim Namen zu nennen, das wir erlitten haben. (...) Ich bin verletzt, sagen wir. Ich wurde betrogen, erklären wir. Ich leide und trauere (...) Vielleicht kann ich niemals vergessen, was ihr mir angetan habt, aber ich werde euch vergeben. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit ihr mir nie wieder Leid zufügt. Ich werde keine Vergeltung üben, nicht gegen euch und nicht gegen mich selbst."
    Auch wenn die Vergebung zum Kern des christlichen Glaubens gehört, haben der ehemalige anglikanische Erzbischof Desmond Tutu und seine Tochter Mpho, die als Priesterin in einer Episkopalkirche wirkt, kein christliches, kein religiöses Buch geschrieben. Ihre ebenso eindringliche wie praxisorientierte Methodik vereint Elemente des Buddhismus, der japanischen Naikan-Lehre sowie der afrikanischen Ubuntu-Philosophie, die betont, dass jeder Mensch Teil eines Ganzen sei.
    "Deshalb habe ich eine Mitverantwortung nicht nur für jeden Konflikt, an dem ich persönlich unmittelbar beteiligt bin, sondern für alle Konflikte, die gegenwärtig in meiner Familie, in meiner Gemeinde, in meiner Nation und auf der ganzen Welt stattfinden. Dieser Gedanke mag wie eine übergroße Last erscheinen. Doch liegt das Geschenk des Ubuntu darin, dass wir auf diesem Weg Frieden erschaffen können, ohne nach politischer Macht streben zu müssen. Jeder von uns kann eine friedlichere Welt erschaffen, und zwar dort, wo wir in dieser Welt gerade stehen."
    Immer wieder unterfüttern Desmond und Mpho Tutu ihre Thesen mit Vergebungsgeschichten aus der Gegenwart und der Vergangenheit ihres Landes, aber auch aus Kriegs- und Krisengebieten in aller Welt. Wie ein roter Faden zieht sich die Geschichte von Angela, der Haushälterin Mpho Tutus, durch das ganze Buch. Angela wurde bei einem Raubüberfall im Hause Tutu ermordet. An diesem Beispiel schildert die Co-Autorin, wie sie selbst die Phasen von der stummen Wut und der sprachlosen Trauer über das Benennen des Schmerzes bis zur Überwindung des Traumas durchschritten hat, wie sie eine innere Beziehung zum Täter, einem ehemaligen Hausangestellten, aufbauen und ihm schließlich vergeben konnte.
    Individuelle Handlungsmöglichkeit und politische Vision
    "Die Geschichte der Ermordung Angelas und die Geschichte ihres Mörders wird für immer Teil unserer Geschichte sein, Teil der Kindheit meiner Töchter. Aber ich vergebe dem Mörder, damit nicht unsere ganze Lebensgeschichte um dieses Thema kreist und wir neue Geschichten, bessere Geschichten, glücklichere Geschichten schreiben können."
    Am Ende plädieren Desmond und Mpho Tutu für eine Versöhnungsjustiz, die sie einer Vergeltungsjustiz, die auf dem Prinzip "Auge um Auge, Zahn um Zahn" beruhe, als Alternative gegenüberstellen. Desmond Tutu, der als Vermittler und Versöhner in und nach der Zeit des Apartheid-Regimes für Vergebung eingetreten ist, um den Zyklus von Unrecht und Rache zu durchbrechen, hat gemeinsam mit seiner Tochter ein Buch geschrieben, das man als Orientierung für das eigene, individuelle Handeln lesen kann, aber auch als humanistische Vision und als politische Möglichkeit der Vergangenheitsbewältigung. Es gehe um den sozialen Frieden, heißt es. Darüber wird man sich vielleicht wundern in einem Land wie Südafrika, in dem Gewalt, Mord und Missbrauch in erschreckendem Ausmaß an der Tagesordnung sind. Andererseits sollte man sich die Frage stellen, was wäre Südafrika ohne Leute wie Desmond Tutu und seine Tochter Mpho, die für nichts Geringeres als eine bessere Welt eintreten - nicht für eine Welt ohne Schmerzen, Verbrechen, Verletzungen, aber für eine Welt, in der Vergebung möglich ist?