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Die Freiheit der Anderen

Auf 220 Seiten Verantwortungsgefühl für die ganze Welt zu wecken, ist geradezu ein Kunststück. Dem Buch "Dass wir heute frei sind ..." über die Menschenrechtsorganisation Amnesty International gelingt das.

Von Sabine Pamperrien |
    Von Amnesty International haben die meisten Deutschen schon gehört. Doch nur 30 Prozent nennen die größte und einflussreichste Menschenrechtsorganisation der Welt, wenn nach Organisationen für die Durchsetzung der Menschenrechte gefragt werde, zitieren die Herausgeber des Amnesty-International-Lesebuchs aus Umfragen. 40 Prozent der Befragten fiel gar nichts ein. Wie auch, wenn, so die Herausgeber,

    "... 42 Prozent der Befragten kein einziges Menschenrecht nennen können. Und 28 Prozent haben noch nie etwas von der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen gehört."

    Anlass genug, um ein wenig Nachhilfe anzubieten. Zum 50-jährigen Bestehen der Organisation ist nun eine Textsammlung erschienen, die unter zahlreichen Aspekten die Arbeit der Organisation veranschaulicht. Dazu zählen auch Berichte über die persönlichen Schicksale politisch Verfolgter. Sie vermitteln nicht nur schmerzhafte Einblicke in die brutalen Abgründe politischer Unterdrückung, sondern auch die große Bedeutung, die die international organisierten Aktionen von Amnesty haben. Der Fernsehjournalist Gerd Ruge zählt zu den Gründungsmitgliedern der deutschen Sektion von Amnesty. Die Deutschen waren die ersten, die sich einer entsprechenden Aktion aus Großbritannien anschlossen. Gewiss förderten auch die ideologischen Fronten des Kalten Kriegs die Gründung. Zuvor gab es etliche Gefangenenhilfsorganisationen, die einseitig nur für Gefangene in der DDR oder Kommunisten in der Bundesrepublik eintraten. Die Idee aus England verhinderte ideologische Vereinnahmung, indem die Aktivisten immer drei Gefangene aus den unterschiedlichen Machtblöcken, damals im kommunistischen Osten, im demokratischen Westen und in der Dritten Welt betreuen mussten.

    "In dieser Zeit, in der sich die politischen Spannungen zwischen Ost und West ständig verschärften, war das Misstrauen gegen eine Gruppe, die weder der einen noch der anderen Seite Gefolgschaft versprach, außerordentlich hoch. Wer für Verfolgte, Inhaftierte und Gefolterte, egal aus welchem Lager sie kamen, Hilfe in der Öffentlichkeit suchte und zugleich der Öffentlichkeit zeigen wollte, was politische Verfolgung bedeutet, geriet auf beiden Seiten ins Zwielicht. In der Bundesrepublik gab es den Vorwurf kommunistischer Propaganda, in der DDR die Verdächtigung, dass westliche Geheimdienste dahinter steckten."

    Angesichts der eingangs erwähnten Umfrageergebnisse hat der Herausgeber Urs M. Fiechtner durchaus Grund zum Groll. Nicht nur er muss davon ausgehen, dass viele jener Ungebildeten das Engagement für Amnesty abfällig in die modische Schublade Gutmenschentum einsortieren.

    "Amnesty International ist keine Luxusveranstaltung gut meinender Menschenfreunde, die ein Freizeitproblem haben und die Welt ein bisschen besser machen wollen. Während dieses Buch entsteht, gibt es Berichte über systematische Folterungen und Misshandlungen in fast 70 Prozent aller Länder der Welt."

    Eine Stärke des Buchs ist, nachvollziehbar zu machen, warum Menschen aus politischen Gründen so viel Leid auf sich nehmen. Der in Deutschland lebende Lehrer Sakir Bilgin wurde während eines Urlaubs in der Türkei verhaftet. Sein Vergehen: Er hatte sich in Deutschland für politische Häftlinge in der Türkei engagiert. Drei Jahre Haft unter erschwerten Bedingungen mit Folter und Isolationshaft verbrachte er in den Gefängnissen der damaligen Militärdiktatur, bis er 1986 wegen des öffentlichen Drucks aus Deutschland entlassen wurde. Sein Beitrag ist exemplarisch für die Selbstwahrnehmung zahlreicher anderer politischer Häftlinge.

    "In der Haft habe ich die wahre Bedeutung von Freiheit verstanden. Die Freiheit eines Menschen kann nicht mit Handschellen, Eisentoren oder Gittern vernichtet werden. Die Finsternis der Kerker und die Grausamkeiten der Folter können das Licht im Inneren des Menschen nicht auslöschen. Die wahre Freiheit ist diejenige, die sich in der Seele, im Gewissen und im Herzen des Menschen befindet."

    Eine der jüngsten Autorinnen des Bandes, Jahrgang 1990, berichtet von ihren Beobachtungen im afrikanischen Benin. Benin gelte im afrikanischen Vergleich als Modellnation, die Zivilgesellschaft genieße einen hohen Stellenwert, so Lea Richtmann. Sie schildert die Arbeit der dortigen Sektion von Amnesty International als Wegbereiter der Demokratisierung des Landes.

    "Der Hauptaspekt der Arbeit liegt auf der Menschenrechtsbildung. Oft kommen die aktiven Mitglieder aus der Oberschicht und wollen ihren Beitrag leisten, ihr Land weiterzuentwickeln. Im Juli 2010 haben Vertreter aller Amnesty-Jugendgruppen einen langen Marsch für das Recht auf Bildung - auch besonders für Mädchen - veranstaltet."

    In weiteren Beiträgen geht es um Bildung, Frauenrechte, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung oder Kindersoldaten. Selbst manchem Kenner von Amnesty wird wohl erst bei der Lektüre bewusst werden, wie vielschichtig die Aktivitäten der inzwischen fast drei Millionen Mitglieder und Unterstützer in mehr als 150 Ländern sind. Mehrere Autoren berichten davon, wie sie dazu gekommen sind, sich bei Amnesty zu engagieren. Bei den Jüngsten davon spielt auch eine Rolle, dass es sich gut im Lebenslauf macht. Warum auch nicht? Und Öffentlichkeit wird längst auch durch Flashmobs über Facebook organisiert. Das Erzeugen öffentlicher Aufmerksamkeit ist nach wie vor eine der wichtigsten Waffen der Organisation. Immer wieder gelingt es, durch öffentlichen Druck Menschen zu befreien. Ein ehemaliger Gefangener schrieb an die Gruppe, die mit Briefaktionen und Protesten seine Freilassung betrieb:

    "Dass wir heute frei sind, verdanken wir dem ganz unwahrscheinlichen Umstand, dass viele Menschen auf der ganzen Welt offenbar bereit sind, über alle Grenzen zu springen, die sie sonst voneinander trennen. Dass sie bereit sind, nicht nur für die eigenen Rechte einzutreten, sondern auch für die Rechte der anderen, und mit einer Stimme zu sprechen, obwohl sie nicht dasselbe denken."

    Dieses Lesebuch hält, was es verspricht. Man kann darin blättern und quer lesen und stößt dabei immer wieder auf fesselnde Stellen, die zum Weiterlesen animieren. Die 50 Jahre scheinen ein unendlich langer Zeitraum. Zahlreiche der geschilderten Unrechtsregime sind längst untergegangen. Doch zeigt das Buch in vielfältigster Weise, wie aktuell und wichtig die Arbeit der Menschenrechtsorganisation weiterhin ist. Auf 220 Seiten Verantwortungsgefühl für die ganze Welt zu wecken, ist geradezu ein Kunststück. Und es gelingt.

    Urs M. Fiechtner und Reiner Engelmann (Hrsg.): Dass wir heute frei sind ... Menschen schützen Menschenrechte. Ein Lesebuch.
    Sauerländer Verlag
    200 Seite, 16,95 Euro
    ISBN: 978-3-794-18107-0