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"Dunkel, fast Nacht" von Joanna Bator
Ein düster-groteskes Familiendrama

"Im Grunde schreibe ich ständig die Geschichte einer und derselben Frau, die sich zusammen mit mir entwickelt und verwandelt" - so beschreibt die polnische Autorin Joanna Bator ihre Frauenfiguren in ihren Romanen "Sandberg" und "Wolkenfern". Und auch in ihrem neuen Roman "Dunkel, fast Nacht" führt die Geschichte die Protagonistin wieder in Bators Heimatstadt in der polnischen Provinz.

Von Marta Kijowska | 29.08.2016
    Die polnische Schriftstellerin und Journalistin Joanna Bator
    Die polnische Schriftstellerin und Journalistin Joanna Bator (dpa / picture alliance / Rafal Guz)
    Die schlesische Stadt Waldenburg ist kein schöner Ort. Das denkt man jedenfalls, wenn man Joanna Bators frühere Romane liest. Und doch wäre man fast enttäuscht, wenn der Schauplatz ihres neuen Buches anders hieße. Denn dieses Waldenburg, das sie zeichnet – als einen dunklen Zauberort, dessen Geheimnisse nur darauf warten, erzählt zu werden - möchte man als Leser immer wieder erleben. Joanna Bator selbst geht es offenbar genauso; sie behauptet sogar, sie könne gar nicht anders, als an diesen Ort zurückzukehren, weil er es ständig von ihr verlange.
    "Ich habe in Waldenburg 18 Jahre verbracht. Ich bin dort geboren, und es ist der Ort, an dem ich am längsten gewohnt habe. Ich habe ihn mir aber trotzdem nicht als Handlungsort meiner Romane ausgesucht. Diese Stadt hat mich ausgesucht. Ich bin nicht imstande, ein Buch woanders spielen zu lassen - das funktioniert einfach nicht. Es sind diese bestimmten Bilder und Gerüche, die nur in Verbindung mit dem Gedächtnis eines Kindes und eines Teenagers wiederkommen. Ich muss aber nicht mehr dorthin fahren, um sie zu finden. Es gibt in meinem Gehirn eine Art 'Waldenburger Vorratskammer', aus der ich immer noch schöpfe."
    Rückkehr in die Stadt ihrer Jugend
    Die Figur, die an Joanna Bators Stelle diesmal nach Waldenburg fährt, heißt Alicja Tabor und ist eine erfolgreiche Warschauer Journalistin. Sie hat in dieser Stadt ihre Jugend verbracht und kehrt dorthin zurück, um das Rätsel einer dreifachen Entführung zu lösen und eine Reportage darüber zu schreiben. Als sie allerdings in Waldenburg ankommt, kann sie ihren Fluchtreflex kaum noch unterdrücken:
    "Ich betrachtete die schlafende Stadt, und jede unverändert gebliebene Stelle weckte in mir zugleich Abneigung und jene Genugtuung, die sich einstellt, wenn man nach Jahren die Landschaft seiner unglücklichen Kindheit wiederentdeckt: Das Kino Apollo mit abblätternder waldbeerenblauer Fassade, die Konditorei Olenka mit ihrem unvergänglichen Angebot an Fettgebäck und Festtagstorten, die alten Roma-Häuser in der Pocztowa-Straße, die sich mit letzter Kraft aufrechthielten."
    Gemeinsamkeiten mit der Protagonistin
    Alicja bezieht ein altes Haus, das ihr gehört und seit dem Tod ihres Vaters leer steht. Und schon kriechen aus allen Ecken die alten Dämonen – Bilder und Menschen, die sie in der Kindheit genauso faszinierten wie erschreckten: Das Schloss Fürstenstein mit seinen unterirdischen Tunneln, in denen ihr Vater vergeblich nach den Schätzen der Fürstin Daisy, der letzten Besitzerin, suchte. Der dunkle Garten, in dem sie unzählige Male Schutz vor ihrer geisteskranken Mutter suchte und wo sie mit dem "roten Hans", einem Plüschbären aus der DDR, spielte. Oder der Wald, in dem ihre geliebte Schwester Selbstmord beging: die unberechenbare, fantasievolle Ewa, die sie zärtlich Kamelin nannte und die jeden gemeinsamen Tag zu einem Abenteuer machte. Alicjas Erinnerungen sind so traumatisch, dass man kaum wagt, dahinter die Erfahrungen der Autorin zu vermuten. Allerdings leugnet Joanna Bator nicht, dass sie mit ihrer Protagonistin vieles verbindet.
    "Ich denke, das fing schon mit Dominika, meiner Protagonistin in 'Wolkenfern', an. Sie tut genau das, was ich selbst getan habe: Sie entfernt sich von ihrem Heimatort und wandert durch die Welt, doch sie macht es nur, um danach die Kraft zu haben, dorthin zurückzukehren und sich mit all dem zu messen, was ihre überstarke Mutter verkörpert. Durch die verschiedenen unglaublichen Geschichten, die sie unterwegs erlebt, schöpft sie eine neue Kraft und lernt eine neue Sprache. Danach kehrt sie nach Polen zurück, um sich später, also in meinem jetzigen Roman, in Alicja Tabor zu verwandeln. Denn im Grunde schreibe ich ständig die Geschichte einer und derselben Frau, die sich zusammen mit mir entwickelt und verwandelt."
    Verdrängte Traumata brechen auf
    Alicjas Rückkehr nach Waldenburg wirkt umso qualvoller, als dort seltsame und bedrohliche Dinge geschehen. Zwei Kinder sind verschwunden, und es wird zwar nach ihnen gesucht, doch irgendwie zaghaft, halbherzig. Denn gleichzeitig scheinen die Bewohner in einer kollektiven Trance zu verharren. Viele sehen in einem verunglückten Bergmann einen Heiligen oder verehren einen selbst ernannten Propheten. Erst die Entführung des dritten Kindes bewirkt, dass sich die aufgestauten Emotionen Bahn brechen und in Wut und Angst umschlagen.
    Wie schon in den Romanen "Sandberg" und "Wolkenfern" erweist sich Bator als eine Schriftstellerin, die es meisterhaft versteht, jene Momente festzuhalten, in denen Stimmungen kippen und verdrängte Traumata in unkontrollierbare Ausbrüche von kollektivem Wahnsinn umschlagen. In denen also die "Katzenfresser", wie das Böse von Alicjas Schwester genannt wurde, aus allen Ecken kriechen und ihr zerstörerisches Werk in Gang setzen:
    "'Die Katzenfresser', sagte Ewa, 'sind überall, sie nehmen jedes Mal eine andere Gestalt an, Kamelin. Sie sind zäher als Kamele, stärker als Nashörner. Gefräßiger als der Menschenfresserhai. Sie bleiben da und fressen. Sie dringen durch die Wände, in den Körper, und wenn sie erst mal drin sind, sorgen sie dafür, dass alles verfault.'"
    Orte und Zeitebenen miteinander verknüpft
    Am Ende, als der Fall der verschwundenen Kinder geklärt ist, zeigt sich, dass menschliche Dummheit genauso im Spiel war wie Gier oder Grausamkeit. Alicja nimmt an dieser Aufklärung energisch teil, doch sie ist auch für die Geschichten anderer Protagonisten empfänglich. Ihre Gesprächspartner sind sich oft gar nicht bewusst, wie stark ihre Geschichten ineinandergreifen, zumal Bators Fantasie problemlos reicht, um nicht nur diverse Orte, sondern auch verschiedene Zeitebenen miteinander zu verknüpfen – die noch frühere, deutsche Vergangenheit eingeschlossen. Und jedes Mal, wenn man glaubt, die Handlung würde sich langsam dem Ende zuneigen, wartet die Autorin mit einer weiteren Figur und einer neuen Geschichte auf.
    "Nur so kann ich erzählen, so lebe ich in dieser Welt. Ich lerne sie kennen, mache sie mir gefügig durch solche kleinen Geschichten, solche Mikroerzählungen. Ich bin für sie sehr empfänglich, große Geschichten hingegen interessieren mich nicht. Das hängt auch mit meinen intellektuellen und emotionalen Abenteuern zusammen. Während meiner eigenen Reise durchs Leben habe ich nämlich erkannt, dass meine Erzählweise etwas mit diesem Land zu tun hat. Dass nur hier, in Polen, meine private Mikrogeschichte und die Mikrogeschichten anderer Menschen auf eine Weise ineinandergreifen, die ich nirgendwo sonst finde."
    Raffinierte Erzählperspektive
    Wenn sie mit der Arbeit an einem Romans beginne, sagt Joanna Bator, sei alles schon in ihrem Kopf fertig: der Plot, die Sprache, die Form. Sie müsse gar nichts mehr erfinden, sodass sie beim Schreiben ein geradezu sinnliches Vergnügen empfinde. Das glaubt man ihr sofort und staunt dennoch über ihr literarisches Können. Darüber, wie viele Details sie zusammenzutragen und wie stilsicher sie mit ihnen zu jonglieren weiß. Über ihre raffinierte Erzählperspektive, in der sich Beobachtungsgabe mit Distanz und Empathie mit Ironie vermischen.
    "Dunkel, fast Nacht" ist aber auch – wenn nicht gar vor allem – ein Roman über den allgegenwärtigen Missbrauch der Sprache. Über die Primitivität und Idiotie der verbalen Schlachten, die auf der Straße, in den Medien und im Internet ausgetragen werden. Und die sie sowohl in ihre Narration einfließen lässt als auch in Form von drei, jeweils mit Schwall überschriebenen Intermezzi nachahmt.
    "In die Gaskammern mit euch in die Gaskammern. – Katholiban nach kathostan! -. – AUSMERZEN DEN BODENSATZ – Kastrieren… sicherlich aber die wilde HORDE mit Namen EU. Das ist keine Befreiung, sondern eine UNFREIHEIT der Triebe… – alle anders! – anormal – Alle anderen verpisst euch!"
    So geht es noch seitenlang weiter. Es sind völlig sinnlose Hasstiraden gegen Schwächere und Andersdenkende, die Alicja Tabor – deren Nachname übrigens leicht als Anagramm des Namens der Autorin zu dechiffrieren ist – dennoch immer wieder liest, weil sie dort nach Hinweisen sucht, die sie bei ihren Recherchen weiterbringen könnten. Und die diesen erstklassigen, teils als Krimi, teils als Groteske gestalteten Roman umso lesenswerter machen, als sie die Realität im heutigen, von Jaroslaw Kaczynski regierten Polen bestens wiedergeben.
    Joanna Bator: "Dunkel, fast Nacht"
    Aus dem Polnischen von Lisa Palmes
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 511 Seiten, 24,95 Euro.