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Egon Ammann
Die ganze Welt als offenes Buch

Das Leben ist wie ein Buch: Es kann reich beschenken, aber auch erschöpfen. Vor allem kann es nicht endlos dauern. Im Gedenken an seinen Verleger und Freund Egon Ammann vergleicht Navid Kermani die Bücherwelt und die Lebenswelt.

Von Navid Kermani | 10.04.2020
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Der Verleger Egon Ammann (imago/Eßling)
In seinem ersten von drei Essays zu den Osterfeiertagen nimmt uns Navid Kermani mit in seine Bibliothek. Er stößt dort auf die Bücher von Joseph Roth, Isaak Babel, Fernando Pessoa - und Egon Ammann. Der Schweizer Egon Ammann war Lektor bei Suhrkamp und gründete dann in Zürich den Ammann Verlag. Dort veröffentlichte Ammann auch die vier ersten literarischen Werke Kermanis und wurde zum Freund und Weggefährten des Autors. Als Egon Ammann den Verlag krankheitsbedingt schloss, wechselte Kermani zu Hanser.
Für Navid Kermani ist Egon Ammann der Leser schlechthin: ein Mann, der sich in der eigenen Halle voller Bücher am wohlsten fühlte. Eine solche Bibliothek versammelt - wie jeder Einzelne von uns in sich - eine Fülle von Geschichten. Allerdings lässt sich eine solche Halle voller Bücher von zumeist schon toten Autoren auch als riesige Gruft denken. Und so deutet der Vergleich von Bücherwelt und Lebenswelt stets zweierlei an: die Hoffnung auf beglückende Ewigkeit und das Wissen um die bedrückende Endlichkeit.

Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen, lebt als freier Schriftsteller in Köln. Er ist habilitierter Orientalist und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie des 1. FC Köln. Für seine Romane, Essays, Reportagen und Monografien wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kleist-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
(Teil 2 am 12.4.2020)

Die letzte Mail, die ich von Egon Ammann erhielt, ist vom 1. Februar 2017, ein halbes Jahr vor seinem Tod. Das Herz war schon so lange krank, und jetzt wog auch noch das Blut in den Adern schwer, das hörten wir seiner dennoch immer freundlichen, immer warmherzigen Stimme an. Die Tage verbrachte er meist vorm Fernseher, hatte sich von den Büchern verabschiedet, für die er nach dem Umzug nach Berlin eigens eine Fabrikhalle angemietet, hatte sich verabschiedet vom Leben selbst, also seinem bisherigen Leben, das aus Büchern bestand, und erwartete geduldig, keineswegs schlechtgelaunt, was nun passiert.
Ich hörte, dass das Leben mit Marie‑Luise besonders innig war, das glaubte ich gern, aber schwer fiel es, mir Egon bereits am Vormittag vorm Fernseher vorzustellen. Es fiel schwer, anzunehmen, dass Egon seine Tage anders als mit Büchern verbrachte, doch er selbst bestätigte mir am Telefon, dass, obwohl die Augen noch könnten, die Kraft nicht mehr reiche. So sehr hätten ihn Bücher beschenkt, so reich sei er durchs Lesen geworden, und jetzt sei es auch gut. Nur noch in seinem Pessoa las er täglich ein bisschen, in seinem Isaak Babel oder in seinem Joseph Roth; neue Bücher nahm er allenfalls zur Kenntnis, er vertiefte sich nicht mehr in sie. Ein schlechtes Gewissen hatte er deswegen nicht. Egon war genau der Typ Leser aus Begeisterung, von dem Montaigne und Borges sprechen, das Wort Pflichtlektüre war ihm ein Widerspruch in sich.
"Genausogut könnte man von Pflichtglück sprechen",
spottet Borges, und Montaigne gesteht 400 Jahre früher, dass er sich in der Auswahl seiner Lektüren allein von Lust und Laune leiten lasse:
"Ohne solch muntres Drauflosgehn schaffe ich nichts, denn zu langes Bemühen und übertriebene Anstrengung machen mir den Verstand trübe, müde und matt."
Ein Buch gelingt nur in der Beziehung
Aber auch für die Begeisterung muss man sich, nein, nicht anstrengen, aber man muss geduldig sein und sich bemühen durchaus, aufnehmen und reagieren, fühlen und selbst auch berühren. Und erst, wenn man sich gegenseitig gibt, entsteht jene Verbundenheit, die sich auch zwischen Büchern und Menschen Liebe nennt, wenn jeder am anderen wächst. Es ist nicht wie Fernsehen, wo man nur aufnimmt, aber nichts von sich selbst hinzutut. Ein Buch gelingt nur in der Beziehung, und es gibt keine Beziehung, oder jedenfalls ist sie sehr öde, wenn nur einer von beiden spricht. Und so wie ein Autor verstummen kann, so kann es auch ein Leser; er hat dann nichts mehr, was er einem Buch antworten kann.
Egon kannte als Leser so viele Autoren, die sich erschöpft hatten, als Verleger hatte er einige vermutlich selbst begleitet; das war kein zwingender, aber ein natürlicher und jedenfalls nicht weiter tragischer Verlauf, sofern der Autor ihn akzeptiert, statt sich mit seiner Routine zu quälen und anderen die Zeit zu stehlen mit Büchern, die nicht notwendig sind. Nun hatte Egon selbst sich als Leser erschöpft, so kam es mir vor.
Natürlich spürte ich, dass er, da er kaum noch las, sich bereitmachte für den Tod. Auch ein Buch kann nicht endlos dauern, wenn man es aufschlägt, weiß man schon, dass es auf ein Ende zuläuft. Warum sollte es im Leben anders gehen? Erst alle Bücher zusammen ergeben eine Art Ewigkeit, so wie der Mensch nur als Menschheit überdauert, genauer gesagt als eine Zelle, die mit einer anderen Zelle verbunden ist und dadurch eine dritte Zelle schafft, die Trinität als das Urprinzip. Als einzelne ist unsere Existenz so flüchtig, dass allenfalls ein Gott sie unter seinem mikroskopischen Blick erkennt, aber alle Existenz zusammen ist so groß wie das All selbst. Was für das Buch die lange Dauer einer Lektüre ist, wenn ein liebender Leser es wachküsst, ist für den Menschen die kurze Atemwende, nachdem Gott in uns ausgeatmet hat und bevor Er die Seele zurück in seine Brust zieht. Seinen Joseph Roth las Egon bis zum Ende, seinen Isaak Babel und am liebsten seinen Fernando Pessoa, den er den Deutschen aufgetan hatte, bestimmt auch dieses von Inés Koebel übersetzte Gedicht:
"Ich habe in mir gleich einem Nebel,
Der nichts ist und nichts enthält,
Eine Sehnsucht nach nichts,
Ein Verlangen nach vagem Wohl.
Ich bin umhüllt von ihm
Wie von einem dichten Schleier,
Und sehe den letzten Stern über
Den Rand meines Aschenbechers leuchten.
Ich habe das Leben geraucht. Wie ungewiss
Alles, was ich sah und las!
Und die ganze Welt ist ein großes offenes Buch,
Das mir in einer unbekannten Sprache zulächelt."
Nach der Schließung des Verlags mietete Egon eine Fabrikhalle an, irgendwo außerhalb oder am Rande Berlins, an einem See oder sogar auf einer Insel, so meine ich mich zu erinnern. Manchmal, so sagte er mir zwei, drei Jahre vor seinem Tod, manchmal fahre er zu der Halle, obwohl er dort gar nichts Bestimmtes zu tun habe, auch kein spezielles Buch brauche.
Er wollte nur bei den Büchern sein
Er wolle nur dort sein, zwischen all den Büchern. Ich stelle mir vor, wie Egon dann zwischen den Regalen stand, in denen seine Bücher aufgereiht waren, er stumm, sie stumm, völlige Stille in dieser vermutlich doch wohl hohen, fensterlosen Halle, allenfalls Oberlicht, und von draußen die Vögel zu hören oder vom See ein Schiffshorn. Es gab dann nicht ein einzelnes Buch, es waren die Bücher an sich, die er aufsuchte, von A wie Aischylos bis Z wie Zwetajewa nichts Geringeres als eine arbiträre, weder regional noch zeitlich ausgewogene, aber umso wahrhaftigere Menschheitsgeschichte, die er im Laufe von 60, 70 Jahren zusammengetragen hatte. Sammelt nicht jeder Leser Geschichten, die alle zusammen seine eigene Menschheit ergeben?
Menschheit, ach, nun schon zum zweiten Mal dieses viel zu große Wort. Es gibt so etwas wie eine Menschheit ja gar nicht, denn wo sollte sie wohnen, wovon sollte sie träumen, hat sie genug Brot, was flüstert sie ihrem sterbenden Vater ins Ohr und muss sie auch gemeinschaftlich aufs Klo? Es gibt immer nur einzelne Menschen, mit denen man ein Stückchen seines Lebens teilt oder eben nicht. Auch Bücher haben als Kollektivum keine Bedeutung, und deshalb strahlen Bibliotheken, zumal wenn man allein in ihnen ist, in ihrer Erhabenheit auch etwas Trauriges aus. Denn all diese Bücher reden ja nicht von selbst, sie sind ja nur Papier, wenn niemand sie liest, lebendig begraben die Autoren darin, so kommt es mir vor, wenn ich an meinen eigenen Regalen entlanggehe, in denen so viele Bücher aufgereiht sind, die ich seit Jahren nicht mehr oder noch gar nicht zur Hand genommen habe, so dass ich mich nicht mehr erinnere oder, schlimmer noch, nie erfahren werde, wovon sie erzählen und wie. Dann verwandeln sich die Buchrücken in lauter Grabsteine, und ich stehe vor der Grabwand als der einzige Mensch, der die Toten dahinter, die lebendig Begrabenen, wiedererwecken könnte. Und ich denke jedesmal, ich müsse sie alle lesen oder wiederlesen, jedes einzelne Buch, so viel Mühe hat sich ein Autor damit gemacht, so viele Qualen, Zweifel, Entbehrungen ausgestanden, einen solchen Reichtum an Gedanken, Erfahrungen, Fantasien auf 100 oder 200 oder 1.000 Seiten gebannt.
Und so stelle ich mir vor, dass sich auch Egon wie in einer Gruft vorkam manchmal, wenn er in der Fabrikhalle stand. Aber dann nahm er ein Buch aus dem Regal, um blind eine Seite aufzuschlagen oder eine Stelle wiederzufinden, die er vor vielen Jahren mit einem Bleistift markiert hatte. Und wenn es ein gutes Buch war – und ich bin sicher, dass in Egons Bibliothek alle Bücher das Lesen lohnten –, hatte er sofort ein ganzes Schicksal vor Augen, ein Junge, der ohne Eltern hinter den Ural deportiert wird, eine Nacht in Buenos Aires im Sommer '73 oder zwei Liebende mit all ihren Illusionen.
Ob Poesie oder Prosa, schon mit den ersten zufälligen Zeilen kroch eine Stimmung in ihm hoch, Erinnerungen kehrten zurück an die erste Lektüre oder an etwas, was man selbst so ähnlich oder ganz genauso erlebt hatte oder gern erleben wollte oder hoffte, nie erleben zu müssen. So aufmerksam, wie Egon las, fiel ihm sofort auch eine Eigentümlichkeit auf, die er von keinem anderen Autor kannte, und wäre es nur eine Abweichung von der gewohnten Wortstellung, eine originelle oder bisweilen auch gewollt schiefe Metapher, ein Vers, der viel zu bedeuten schien, ohne dass der Leser auf Anhieb verstand, ein Satz, der auch auf der nächsten Seite nicht enden wollte.
Und in manchen Büchern blätterte er eine weitere Seite um und noch eine und noch eine, im Stehen ja noch, trotz des wehen Herzens, auf das schon in Zürich kein Verlass gewesen war, sprach zu sich selbst, selbst wenn er das Buch längst kannte, dass dieser Satz nun wirklich unglaublich oder jene Beschreibung ganz besonders eindringlich sei, murmelte es vielleicht sogar laut vor sich hin in seiner Schweizer Sprachmelodie, die in jedem Wort genau einen Vokal keck in die Höhe hebt, aber als Deutscher weiß man nie, welcher Vokal es sein wird und warum.
Egon und sein Buch
Und dann nahm Egon das Buch mit in den Lesesessel, an den Schreibtisch oder nach draußen auf die Bank, von wo der See zu sehen war und die Vögel und das Schiff, dessen Horn die beiden begrüßte, Egon und sein Buch, das er nun vorne aufschlug, und wenn es spät wurde über der Lektüre, steckte er das Buch ein, um nach Berlin zu fahren, wo Marie-Luise wartete, aber vielleicht war Marie-Luise unterwegs oder schon im Bett, und in seiner Bibliothek hatte er eine Matratze wie ich und einen Kühlschrank mit ein bisschen Käse darin, dazu Brot und Wein.
Und wenn er am nächsten Tag endlich heimkehrte, schwärmte er Marie-Luise von dem Buch, das er entdeckt oder wiedergefunden hatte, und bestimmt las er ihr die wundersamsten Stellen vor. Dabei war das eigentliche Wunder er selbst, er als Leser, denn er hatte mit einer einzigen Lektüre das Kontinuum wiederhergestellt, das alle Bücher zusammen sind. Wenn es in Thora und Koran beinah wortgleich heißt, dass, wer einem Menschen das Leben rettet, die ganze Menschheit rettet, dann gilt das für die Literatur erst recht: Wer ein Buch liest, wer es beseelt liest und also seine eigene Existenz beigibt, um sich im anderen selbst zu erkennen, bringt zum Leuchten die gesamte Bibliothek.
Bücher aus ihrem bloß materiellem Sinn befreien
Ja, das ist alles mehr ein Traum, ich weiß schon, als es die Wirklichkeit sein konnte; ich zweifle sogar, ob die Fabrikhalle tatsächlich auf einer Insel stand, wie ich es im Ohr habe, denn wie wäre er mit dem geliebten Auto dorthin gekommen? Mag es in Wirklichkeit auch anders gewesen sein mit den täglichen Fahrten zu seiner Bibliothek, immer stelle ich mir Egon als jemanden vor, der Bücher aus ihrem bloß materiellen Sein befreit.
Unter seinen Augen, unter den Augen eines jeden Lesers, für den Egon ein Beispiel ist, verwandeln sich einige Bogen bedruckten, damit wertlos gewordenen Papiers in eine Fülle des Lebens, wie sie draußen hinterm Oberlicht, auf dem Festland, nirgends so dicht und geistvoll zu finden ist, schmerzhaft und schön. Und wer mich aufklären will, dass die Halle in Wirklichkeit in einem Gewerbegebiet stand, dem halte ich entgegen, dass, wenn Egon über seine Bibliothek sprach, es eben so klang, als läge sie auf einer Insel, und das Vogelgezwitscher und das Schiffshorn gabʼs meinetwegen nur – was heißt "nur"? – in der Fantasie.
Viele Menschen haben einen solchen Raum für ihre Bücher, wenn es auch keine ganze Fabrikhalle ist. Zumal Schriftsteller lesen sicher nicht weniger intensiv. Sie alle stehen vor einer Wand mit Beziehungen, die möglich sind, und kennen den Impuls, auf der Stelle alles von Aischylos bis Zwetajewa lesen zu wollen, was es Großartiges bereits gibt oder neu ins Regal gestellt werden kann. Aber dann nehmen sie in der Regel eben nicht ein Buch aus dem Regal wie Egon und noch eins und lesen ungestüm darauf los, bis ihnen die Augen zufallen, und fahren früh am nächsten Morgen fort. Schon gar nicht füllen sie ihre Tage mit Manuskripten, die erst noch in Bücher zu verwandeln sind, denn sie hätten keine Zeit mehr zu schreiben selbst. Und was sie lesen, wirkt direkt oder indirekt stets an dem eigenen Buch mit. So zwingend das Lesen für den Autor ist, so notwendig beschränkt und bestimmt sein Schreiben das Lesen auch.
"Nach einigen Minuten schrieb stets ich das Buch, und was geschrieben stand, stand nirgendwo",
erklärte Fernando Pessoa, was ihm beim Lesen passiert. Anders ein Verleger, wie Egon einer war: Für ihn ist das Lesen sein eigener Zweck. Er selbst hat das so gesagt:
"Ich habe einfach eine Liebe zu Büchern gehabt, und ich habe diese Liebe immer gelebt als Leser, und dann wollte ich meiner Umgebung erzählen, was ich gelesen hatte."
Was für eine glückliche Entscheidung! Nicht nur für seine Autorinnen und Autoren, die lebenden oder wiederentdeckten, eine glückliche Entscheidung bis zuletzt auch für ihn selbst; oder mindestens, solange er noch mit dem Auto übers Wasser fuhr. Für eine der Formen der Glückseligkeit hielt Jorge Luis Borges das Lesen. Im Vergleich sei das Schreiben beziehungsweise die dichterische Schöpfung eine weit mindere Form der Glückseligkeit. Wobei das, was wir Schöpfung nennen, im Grunde auch nur aus Lektüren bestehe.
Der Autor, so könnte man Borges verstehen, ist ein degenerierter Leser, insofern er auf ein eigenes Buch hin liest. Egon dagegen muss ein glücklicher Mensch gewesen sein.
Sicher, Egon Ammann war auch ein Sohn, er war Cousin, er war Freund, Geliebter, Ehemann und Vater, er war ein politischer Kopf und ein Vorgesetzter und Vertreter seiner Branche, er liebte nicht nur die Literatur, sondern auch das Autofahren, er liebte Geselligkeit, Wein und gutes Essen. Aber für seine Autoren war Egon nun einmal zuerst und zuletzt ihr Verleger. Und was ist ein Verleger, ein Verleger als eine Idealvorstellung, die der Wirklichkeit nur selten so nahe kommt wie bei ihm, also zugleich Lektor und Förderer, Freund und Berater, Propagandist und Kritiker, Bewunderer und Lehrmeister, Finanzier und Abzocker?
Verlage gibt es noch nicht so lange, 500 Jahre vielleicht. Unter dem Berufsbild des Verlegers jedoch, das also für die Geschichte der Literatur noch recht neu ist und mit der zunehmenden Konzentration der Branche auch wieder verschwinden wird, darunter schimmert etwas anderes, etwas viel Älteres und Elementares hervor.
Der Verleger verkörpert den Leser schlechthin
Der Verleger verkörpert für den Autor den Leser schlechthin, der seit dem ersten Buch notwendig existiert und noch die Schließung des letzten eigenständigen Verlags überleben wird. Der Verleger steht für alle Leser, die ein Buch finden mag oder nicht, er liest mit der Hingabe des Liebenden und urteilt zugleich so neutral wie ein Richter, ist in seinen Neigungen maximal subjektiv und vertritt gleichzeitig die Leserschaft an sich.
Es gibt niemanden, der für den Autor mysteriöser wäre als der Leser. Der Verleger ist eine konkrete Person, erfolgreich oder nicht, großzügig, geschickt, gerissen, warmherzig, was auch immer, es gibt nicht den Verleger an sich. Der Leser hingegen ist niemals ein einziger. Er ist dem Autor nicht einmal bekannt, selbst wenn er ihn auf Lesungen trifft oder von ihm Briefe erhält. In der Einsamkeit, die für das Schreiben Voraussetzung ist, kennt der Autor keine Leser, sondern nur eine notwendig abstrakte und weitgehend ja auch anonyme Leserschaft. Um so mehr fragt er sich, wer dieser Unsichtbare ist. Denn warum sollte es jemanden interessieren, was der Autor tagaus tagein aus sich hervorholt? Als ob sein Geist etwas Besonderes wäre, dass es solcher Mitteilung lohnte, die eines jeden praktischen Zwecks und selbst der Logik entbehrt.
Man muss sein kümmerliches Ich schon gewaltig aufpumpen, um allein am Schreibtisch gegen die Anfechtungen des gesunden Menschenverstandes zu bestehen. Ja, der Narzissmus muss zum Berufsbild gehören, wenn einer Stunde um Stunde, über Wochen und Jahre alle vernünftigen Maßstäbe der Selbstbescheidung sprengt. Da ist ja niemand, nur links und rechts in den Regalen die großen Vorgänger als stumme Zeugen, die mit den Augen rollen, der Autor ruft in den leeren Raum. Wenn er sich nach einer bestimmten Person richten würde, verfehlte er den Leser an sich. Im besten Fall beruhigen ihn nach und nach Verkaufszahlen, Rezensionen, Preise oder Einladungen, dass es da draußen tatsächlich jemanden gibt oder sogar viele, denen er offenbar etwas zu sagen hat, sonst würden sie ihm nicht seinen Lebensunterhalt bescheren. Aber bis zum Ende kommt er nicht dahinter, für wen er schreibt.
Mag sein, dass manche Autoren behaupten, es bekümmere sie nicht, wer ihre Texte liest und ob überhaupt. Er schreibe nur, um sich vom Leben abzulenken, und er veröffentliche nur, weil dies zur Spielregel gehöre, notierte selbst Pessoa, der bestimmt kein Prahler war; wenn morgen seine gesamten Aufzeichnungen verlorengingen, so dass niemand je läse, was er schreibt, würde ihn dies weniger heftig und wahnsinnig schmerzen, als man das vielleicht annehme. Aber das glaube ich den Autoren nicht, ich glaube es nicht einmal Fernando Pessoa, und als Beleg kann ich ihn selbst anführen: Denn schon im folgenden Satz widerspricht Pessoa sich selbst, wenn er behauptet:
"Es ist nicht anders als mit einer Mutter, die ihr Kind verloren hat: Nach einigen Monaten ist sie wieder dieselbe wie zuvor."
Was für ein Unsinn! Keine Mutter, die ihr Kind verloren hat, wird je wieder dieselbe sein, die sie zuvor war. Zumal das Christentum existiert aus nichts anderem als aus dem Schmerz über den ermordeten Sohn. Auch in anderen Religionen kann der Gläubige alles erdulden und lehnt sich erst auf, wenn sein Kind vor ihm stirbt, es ist dann, als ob er wie Christus am Kreuz von Gott verlassen wäre. Wenn Pessoa den Verlust seiner Aufzeichnungen mit dem Verlust eines Kindes vergleicht, heiligt er den Leser, statt seine Bedeutung zu relativieren.
Abgesehen davon, dass meine Sachbücher einen eigenen Verlag haben, der mich ebenfalls mit einem ersten Leser beschenkt, mag es vorgekommen oder sogar die Regel gewesen sein, dass andere ein Manuskript bereits gelesen hatten, bevor ich es Egon schickte, meine Frau oder ein guter Freund, doch waren sie für mich keine Leser im eigentlichen Sinne, sie gehörten noch zu mir, die Frau, der beste Freund, waren und sind eine Erweiterung des eigenen Bewusstseins.
Als Schrifsteller schreibt man für niemand bestimmten
Für sie schreibe ich nicht; als Schriftsteller schreibt man für niemand bestimmten, schon gar nicht für eine Zielgruppe oder auch nur für seine eigene Zeit. Mit dem Verleger – dem Verleger als einem Ideal, für andere Schriftsteller wird ein Lektor diese Funktion haben oder sein Professor am Literaturinstitut oder seine Autorengruppe, falls es so etwas tatsächlich geben kann – mit dem Verleger, wie Egon einer war, bekommt der Leser das erste und eigentlich auch einzige Mal ein Gesicht, eine Stimme, einen Charakter, er bekommt Launen, Prägungen und natürlich auch Schwächen, die der Autor ihm jedesmal zuschreibt, wenn er sich nicht wertgeschätzt fühlt. Denn der Verleger ist nicht nur Anwalt des Autors, er ist zugleich Anwalt des Lesers, er steht genau an der Schwelle, an der ein Buch in die Öffentlichkeit tritt oder eben nicht. Deshalb liest er nicht nur für sich selbst, sondern denkt von der ersten Seite an immer auch all die anderen, unbekannten Leser mit. Er ist der Türsteher, der ein Manuskript dieser anonymen Leserschaft übergibt oder nicht.
Das ist eine existentielle Beziehung, nichts weniger, wenn Schreiben die eine, Verlegen die andere Existenz ist, und sie hat im Falle von Egon und mir alle Insignien einer langen Liebe getragen, von der Verliebtheit am Anfang zum ehelichen Alltag, aber auch den Verrat, die Abwendung und die rechtzeitige Versöhnung, bevor man endgültig zusammen alt wird. Das erste Mal seine Stimme gehört habe ich auf meinem Anrufbeantworter, ungefähr 2001 in Köln, und während das Band noch lief, auf dem er von meinem "Buch der von Neil Young Getöteten" schwärmte, hatte er sich in Zürich bereits ins Auto gesetzt, um mich persönlich kennenzulernen.
Man wird sich ausmalen können, wie erhoben sich ein junger Autor fühlt, der keinen Roman veröffentlicht hat, wenn sich ein renommierter Verleger nach der Lektüre sofort auf den Weg macht, um ihn unter Vertrag zu nehmen. Dieses Gefühl – so lächerlich es sich anhört, wenn man es selbst formuliert – dieses Gefühl, dass das eigene Manuskript, und sei es nur für die Dauer einer Atemwende, das Wichtigste werden kann, was es für einen Leser gibt, das braucht man, das brauche jedenfalls ich, um Stunde um Stunde, über Wochen und Jahre in der Einsamkeit meines Büros den Selbstzweifeln zu widerstehen. Egon hat mir dieses Gefühl seit der ersten Nachricht auf dem Anrufbeantworter gegeben, wenn er auch verschwieg, dass ein Verleger mehr als nur einen Geliebten hat und das Schwärmen zu seinem Berufsbild gehört wie der Narzissmus zu unserem.
Im Verlagskatalog nach hinten zu rutschen oder mitanzusehen, dass der Verlag mit anderen Autoren wirbt, ist nicht nur ein Signal, dass man in der Mischkalkulation nunmehr zu den Verlustgeschäften zählt; bei einem wie Egon, der den Verlag mit seinem Enthusiasmus bestritt, fühlte es sich immer auch an, als würde man den Liebhaber beobachten, wie er nachts an der Bar mit einer anderen knutscht. Zugleich konnte ich mich darauf verlassen – und das macht eine Liebe eben auch aus –, dass er meine Bücher selbst dann noch verlegen würde, wenn niemand sie kauft, aus Treue vermutlich sogar, wenn sie nicht mehr notwendig sind.
So bedeutend seine Briefe für mich waren, so sehr schockierte es mich deshalb, dass während der Arbeit an dem Roman "Dein Name", auf dessen Proben er anfangs noch voller Zuspruch reagiert hatte, danach über Jahre die Antwort ausblieb. Ich kann mich an einen Besuch in Zürich erinnern, als ich um den Verlag in der Neptunstraße herumschlich wie Hölderlin um Suzettes Haus in Frankfurt. Und warum? In der irren Hoffnung, dass er, der wissen musste, dass ich in der Stadt war, während das Manuskript bei ihm lag, mich heranwinken würde, um zu rufen, ja, um mich zu umarmen: Das Manuskript sei großartig! Schließlich kam die Antwort doch, so warmherzig wie eh, aber da hatte er schon keinen Verlag mehr. Als der Liebende, der er in seiner Treulosigkeit blieb, hatte Egon vielleicht gespürt, dass ich mich nicht mehr über die Zweifel beruhigen durfte, wenn ich weiter kommen wollte als bisher. Allerdings bin ich ebenfalls ein Liebender und rede mir seine Untreue vielleicht nur schön.
Diese letzte Mail, die er mir schickte, vom 1. Februar 2017, betraf gar kein Buch mehr. Ich hatte mich in der Nacht, als Donald Trump gewählt wurde, zu einer Reihe von politischen Veranstaltungen in Theatern und Schulen entschlossen, aus einem pathetischen Impuls heraus, dass der Vormarsch des Nationalismus, das Ende Europas, die Herrschaft des IS in weiten Teilen Syriens und des Irak und der nächste Krieg, als dessen Schlachtfeld sich bereits Iran abzeichnete, doch aufzuhalten sein müssten, wenn jeder sich mit seinen Mitteln endlich wehrte. Und ich dachte, das Mittel, zu dem ich jetzt greifen müsse, wenn schon alle Bücher nichts geholfen haben, wäre dann wohl das öffentliche Gespräch.
Als das Programm feststand, 15 Veranstaltungen in acht Tagen, kam ich mir längst schon lächerlich vor und bereute es, nicht am Schreibtisch geblieben oder, statt von Podium zu Podium zu jetten, auf eine wirkliche Reise gegangen zu sein, von der Welt zu berichten, statt ebenfalls Meinungen zu produzieren. Egon las keine Bücher mehr, aber er erhielt weiterhin Post, und so auch die Ankündigung der Diskussionsreihe. So gut, wie er mich kannte, ahnte er offenbar, dass mich der Mut schon wieder verlassen hatte, denn er gratulierte mir um so enthusiastischer zu dem "ganz großartigen und in dieser Zeit wichtigen Unternehmen, zu dessen Gelingen ich Dir mit all meiner Kraft Glück wünsche".
Er hatte keine Kraft mehr und dennoch gar er sie mir
Er hatte keine Kraft mehr, das wusste ich, und dennoch gab er sie mir. Er selbst schaffe es leider nicht zu kommen, nicht einmal zu der Veranstaltung in Berlin. Aber er könne mein Tun ja sicher in der Presse verfolgen, das sei auch etwas. Und weil das schon ziemlich resigniert klang, rief er mir am Ende zur Sicherheit zu:
"Einmal mehr: Chapeau!",
und unterzeichnete als
"Stets Dein Partisan, Egon."
Und da war er wieder, bis in die letzte Mail mit seinem ganz eigenen, schwärmerischen Ton, der uns noch über seinen Tod hinaus über die Verzagtheit hinweghilft.
"Der Tod ist die Kurve in der Straße,
Sterben ist nur dem Blick entzogen sein.
Lausch ich, höre ich deine Schritte
Sein, so wie ich bin.
Die Erde ist aus Himmel.
Die Lüge hat keine Bleibe.
Keiner ging je verloren.
Alles ist Wahrheit und Weg."
Danke, Egon, auch im Namen der anderen Autorinnen und Autoren, deine Partisanen stets: Tudo é verdade e caminho.