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Ehemaliger Generalanwalt: Abgeordnete benötigen keinen "Rückenwind aus Karlsruhe"

Vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Euro-Rettungsschirm sieht der frühere Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof, Carl Otto Lenz, die parlamentarische Demokratie "nicht in Gefahr". Die Abgeordneten seien selbst in der Lage, ihre Rechte wahrzunehmen.

Carl Otto Lenz im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Peter Gauweiler: "Die Abgeordneten haben innerhalb weniger Tage nach dem Motto friss, Vogel, oder stirb zu entscheiden gehabt, und es hieß dann als Drohung, wenn ihr dem nicht zustimmt, dann platzt Europa."

    Jasper Barenberg: Scharf und grundsätzlich ist nicht nur die Kritik des CSU-Abgeordneten Peter Gauweiler; auch die anderen vier Kläger zielen in Karlsruhe darauf, das System von Euro und Währungsunion insgesamt zum Einsturz zu bringen. Sie hatten bereits gegen die Einführung des Euro geklagt, damals vergeblich. Jetzt betrachten sie Währungsunion und Euro-Rettung als gescheitert und als hoffnungslos, gefährlich und verfassungswidrig den Versuch, Rettungsschirme für Griechenland und andere zu spannen.

    Ein Argument der Klageschrift: Die Regierung entzieht den Abgeordneten jede Möglichkeit, Einfluss auf die Entscheidungen zu nehmen. Die nimmt den Vorwurf und die Antwort der Karlsruher Richter sehr ernst.

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    Mitgehört hat Professor Carl Otto Lenz, als Abgeordneter der CDU viele Jahre lang Vorsitzender im Rechtsausschuss des Bundestages, danach bis 1997 Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof. Schönen guten Morgen, Herr Lenz.

    Carl Otto Lenz: Schönen guten Morgen, Herr Barenberg.

    Barenberg: Herr Lenz, die Kläger in Karlsruhe fahren ja schweres Geschütz auf, rhetorisch jedenfalls. Ist die parlamentarische Demokratie in Gefahr?

    Lenz: Die parlamentarische Demokratie ist überhaupt nicht in Gefahr. Die ganze Diskussion um die Rechte der Abgeordneten ist ja im Vorfeld von den Parlamentariern selbst geführt worden, und wenn ich richtig informiert bin, haben sich die Parteien, die Fraktionen auch auf ein Verfahren geeinigt.

    Es gibt ja hier zwei Dinge, die man beachten muss: einmal die Rechte des Bundestages und das andere, die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland. Die Rechte des Parlaments dürfen die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht einfach aushebeln. Das hat ja das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über die Parlamentsauflösung 2005 auch erklärt. Also hier ist eine Abwägung zu treffen, und ich bin der Meinung, dass die Abgeordneten durchaus selbst in der Lage sind, ihre Rechte wahrzunehmen, und dazu keines Rückenwindes aus Karlsruhe gebrauchen.

    Barenberg: Da maßt sich das Bundesverfassungsgericht zu viel an?

    Lenz: Ich war ja, wie Sie eben selbst gesagt haben, lange Jahre Vorsitzender des Rechtsausschusses. Wenn uns damals jemand gesagt hätte, eine Einigung über Verfahrensfragen im Parlament, die zwischen Opposition und Regierung und Mehrheitsfraktionen getroffen worden ist, bedarf noch einer Absegnung durch Karlsruhe, hätten wir schon sehr erstaunt geguckt. Das muss ich schon sagen.

    Barenberg: Nun gibt es ja seit einigen Wochen schon Streit, nicht zuletzt in den Regierungsfraktionen selber, über die Frage, wie viel Rechte die Abgeordneten einfordern müssen und was sie aus der Hand geben können. Der Eindruck, der bei vielen Beobachtern bleibt, ist, dass in den letzten Monaten die Abgeordneten schlicht übergangen wurden bei allem, was mit der Euro-Rettung zu tun hat. Warum sehen Sie das anders?

    Lenz: Nun, ich habe hier vor mir liegen den Bericht, den der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion am Dienstag vor der Fraktion gegeben hat, und da heißt es wörtlich, "die Beteiligungsrechte des Parlamentes werden wir selbst regeln". Ich meine, das ist ein klares Wort, und so sollte es sein. Dass es manchmal Entscheidungen unter Zeitdruck gibt, das liegt in der Natur der Sache.

    Ich kann mich an einen Vorgang erinnern, wo wir in einem Tag von der ersten Lesung bis zur Verkündung im Bundesgesetzblatt alles gemacht haben. Das darf nicht der Normalfall sein, aber wenn objektive Gründe dafür sprechen, dass jede Verzögerung mehr Geld kostet, um es mal ganz plastisch auszudrücken, dann muss man das eben auch mit in Betracht ziehen. Und die Abgeordneten leben ja nicht in einer, sagen wir mal, keimfreien Zone, sondern sie leben in dieser Welt und müssen in dieser Welt Politik machen und müssen deshalb objektive Zwänge auch bei dem Tempo ihrer Entscheidungen begründen.

    Und was die konkrete Sache jetzt angeht: Seit Wochen wird über nichts anderes diskutiert. Ich kann mir keinen Bundestagsabgeordneten vorstellen, der auch ohne Vorlage sich nicht dazu bereits eine Meinung gebildet hat. Also ich glaube, wenn in dieser Woche die erste Lesung ist und bis Ende des Monats das Verfahren abgeschlossen ist, kann man von einer Überforderung des Parlaments nicht reden. Ich sage das ausdrücklich nach 18 Jahren Tätigkeit im Deutschen Bundestag.

    Barenberg: Herr Lenz, und damit, wenn ich das zu Grunde lege, was Sie erklärt haben, dann führt kein Weg daran vorbei, dass auch in Zukunft, weil die Probleme so groß sind, wie sie sind, weil der Handlungsdruck so groß ist, wie er ist, die Regierungen in Brüssel im Kreis der Regierungschefs etwas beraten und dann der Bundestag nur noch vor der Frage steht, friss oder stirb, so wie das gerade der Kläger Peter Gauweiler im O-Ton ausgedrückt hat?

    Lenz: Also so läuft das doch nicht. Jede Konferenz in Brüssel hat ihren Vorlauf. Außerdem gibt es das Europäische Parlament, das über die Vorgänge in Europa sehr viel besser informiert ist als der Deutsche Bundestag. Und ich würde es so machen – das ist ja auch aus dem Europäischen Parlament bereits gefordert worden -, dass die operative Begleitung des Rettungsfonds durch das Europäische Parlament kontrolliert wird.

    Das halte ich für notwendig und richtig. Aber das Europäische Parlament ist auch die richtige Ebene, denn es geht nicht um nationale, sondern um europäische Fragen. Der Bundestag muss das Geld zur Verfügung stellen oder nicht zur Verfügung stellen, das hat er zu entscheiden. Aber die operative Seite der Rettungsaktionen, die sollte meines Erachtens vom Europäischen Parlament kontrolliert werden.

    Barenberg: Nun erwarten viele Beobachter von dem Urteil der Karlsruher Richter heute, dass sie noch mehr Einfluss und noch mehr Mitwirkung der Bundestagsabgeordneten verlangen werden. Was wäre das aus Ihrer Sicht für ein Signal?

    Lenz: Es wäre aus meiner Sicht ein Signal, dass die Verfassungsordnung in Deutschland auf den Kopf gestellt wird. Nach dem Grundgesetz ist der Bundestag das höchste Staatsorgan. Dann kommen die anderen Staatsorgane, und dann kommt lange nichts, und dann kommt die Rechtsprechung, und da ist das Bundesverfassungsgericht aufgeführt. Ich meine, die Priorität in diesen Fragen gehört dem Deutschen Bundestag, solange nicht ganz offensichtliche Verfassungsverstöße passieren. Ich glaube, das ist die Ordnung unserer parlamentarischen Demokratie, und daran sollte sich das Bundesverfassungsgericht erinnern.

    Barenberg: Und nicht ein weiteres Mal, wie ja schon geschehen im Lissabon-Urteil, die Abgeordneten ermahnen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Das ist überflüssig aus Ihrer Sicht?

    Lenz: Das ist nicht nur überflüssig, das ist schädlich. Das Bundesverfassungsgericht ist nicht der Vormund des Deutschen Bundestages.

    Barenberg: Wie wichtig ist dann diese Entscheidung, die wir heute erwarten?

    Lenz: Nun, die Kläger haben ja beantragt, die Gesetze für verfassungswidrig zu erklären, und es ist natürlich wichtig, dass das Bundesverfassungsgericht feststellt, dass das nicht der Fall ist. Außerdem interessiert mich noch eine andere Frage. Die Kläger haben ja auch europäische Rechtsakte angegriffen. Ich bin mal gespannt, wie das Bundesverfassungsgericht damit umgeht.

    Barenberg: Der frühere Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof heute Morgen im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Vielen Dank, Carl Otto Lenz.

    Lenz: Bitteschön. Gern geschehen!

    Barenberg: Danke.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.