Dienstag, 19. März 2024

Archiv


"Ein Wunder ist kein fauler Zauber"

Dass Gott tot sei und das Ende der Religionen gekommen, erscheint angesichts von religiösen Massenereignissen wie dem Weltjugendtag als Irrtum. Offenbar kämen die Menschen ohne die Religion nicht aus, so die Berliner Schriftstellerin Felicitas Hoppe. Der Versuch, auf sie zu verzichten, hinterließe eine Art Leerstelle, die man durch etwas anderes fülle.

Moderation: Michael Köhler | 09.07.2006
    Michael Köhler: Es ist ja schon vieles für beendet erklärt worden. Der amerikanische Publizist Francis Fukuyama etwa sprach vom Ende der Geschichte, meinte damit aber eine Art Sieg des Welt-Liberalismus und -Kapitalismus, die Absage an jede Art von naivem Fortschrittsglauben. In unserer Reihe über Irrtümer der Moderne habe ich mit der Berliner Schriftstellerin Felicitas Hoppe über ein anderes Ende gesprochen, nämlich ich habe sie gefragt, ob sie dem Satz, Gott sei tot und das Ende der Religionen gekommen, der seit über hundert Jahren als Gespenst umgeht, zustimmt.

    Felicitas Hoppe: Na ja, ich glaube, ehrlich gesagt, an Sätzen kann man eigentlich sowieso nicht festhalten, und diese Sätze sind an sich zweifelhaft. Das sind ja Behauptungen, also so ein Satz wie "Gott ist tot", der eigentlich von der Existenz Gottes ausgeht, sonst könnte er nicht gestorben sein, der ist ja polemisch, der ist ja eigentlich rhetorisch, und deshalb ist es doch vielleicht interessanter, da sich anzuschauen, was man vorfindet, und da kommt man doch zu dem Schluss, dass erstens die Religionen natürlich nur in ganz bestimmten Gegenden dieser Welt vermeintlich tot sind. Ich meine, wir schauen ja immer von unserem Ort aus, und Religion hat es ja nie nicht gegeben und gibt es auch jetzt immer noch, und zwar weltweit. Das heißt, die Menschen kommen offenbar ohne das nicht aus. Also das heißt, wenn man versucht, darauf zu verzichten, entsteht, polemisch würde ich jetzt sagen, eine Leerstelle, und die füllt man dann eben durch etwas anderes. Sie sprachen von der Erzählung. Man erzählt dann seine Geschichten in einer anderen Form und diese Geschichten wechseln, aber vielleicht gibt es ja eine Urgeschichte, die eigentlich keiner von uns erzählen kann, und aus dieser Not heraus nimmt man eben diese ständigen Geschichten- und Behauptungswechsel vor.

    Köhler: Man kann nicht nicht kommunizieren, ist so ein berühmter Satz in der Kommunikationswissenschaft. Wenn ich den jetzt mal übertrage, könnte man sagen, man kann auch nie nicht glauben.

    Hoppe: Ja, ich würde das unterschreiben, man kann nie nicht glauben. Die Frage ist doch, ob man darüber nachdenkt, was es bedeutet. Und wir diskutieren Religion ja, glaube ich, sehr, sehr stark im Kontext der Konfessionen auch, und daher kommt es natürlich, dass das schon sehr stark besetzt ist, und wenn man sich von einem solchen Zwang befreit, heißt es ja noch lange nicht, dass das religiöse Bedürfnis oder das Ausüben oder das Nachdenken oder das Vorhandensein von Religion erlischt. Das ist ja zweierlei, und ich glaube, das wird relativ häufig vermischt.

    Köhler: Sie sprechen da einen ganz wichtigen Punkt an, Sie sagen, vom Zwang befreit. Es zählt zum Kern unserer neuen Welt, unserer neuen Zeit, unserer so genannten Moderne, dass wir all diese Zwänge bereitwillig abgestreift haben und das als Erfolg feiern. Also individuelle Freiheit ist Freiheit von Zwängen, auch von, was Sie sagen, konfessionellen Zwängen. Was tritt aber dann an die Stelle?

    Hoppe: Also das ist eine Sache, die eigentlich wunderbar zu beobachten ist. Wenn man jetzt einfach sich mal leistet das anzuschauen, das Sich-von-Zwängen-Befreien ist ja ein Zwang in sich, das heißt, daraus entsteht dann eine neue Doktrin. Das heißt, dass jemand, der nicht bereit ist, sich von vermeintlichen Zwängen zu befreien, vermeintlich schlechter da steht, und es ist natürlich ein Trugschluss. Die Befreiung von Zwängen erzeugt natürlich am Ende eine merkwürdige Leere, und wir sind doch im Moment an einem Punkt, und das sehe ich überall, vor allem auch bei meinen Kollegen in der Literatur, das ist absolut faszinierend, wo man merkt, da ist tatsächlich eine Leerstelle, und die ist nur mit Mühe und Not zu füllen, und keiner weiß eigentlich, wie. Man hat so unglaublich viel Zeit mit Befreien verbracht, dass man jetzt völlig ratlos in der Landschaft steht und nicht genau weiß, was zu tun ist. Und das ist eine ganz simple Sache: Es geht um Form. Das heißt, wenn ich glaube, mich aller Zwänge entledigt zu haben, dann meine ich auch, auf Formen verzichten zu können, und wenn ich keine Form mehr habe, bricht alles auseinander, so wie jede Geschichte auseinander fällt, wenn sie keine Form mehr hat.

    Köhler: Ich sehe in dem, was Sie sagen, zwei Probleme: Erstens den legitimen Wunsch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach Werten, das sehen wir ja überall, Wertewunsch, den gibt es eindeutig, aber es gibt auch zugleich die Bindungsangst, also in dem Moment, wo ich, sagen wir mal, einer Konfession zuneige, sei es nun, dass ich bekennender Vegetarier bin und an die zwölf Gesetze der Heidelbeere glaube oder an die Sakramente oder an das Alte Testament oder Mohammed oder was auch immer, unterwerfe ich mich neuen Bindungen, und da sehe ich das Problem unserer Zeit eigentlich, Wertewunsch, ja, Bindungsangst auf der anderen Seite zugleich, also sich neuen Bindungen, neuen "Zwängen" zu unterwerfen.

    Hoppe: Na ja, ich bin vorsichtig mit dem Gebrauch des Begriffes der Schizophrenie, das wäre leichtsinnig, aber das ist in der Tat ein Widerspruch in sich. Man kann nicht das eine haben und das andere zugleich. Man kann natürlich beides wollen, und dieses beides Wollen, das reibt sich eigentlich ständig aneinander, und es erzeugt, muss ich ganz ehrlich sagen, eine ungeheure Komik. Es ist schon sehr witzig zu sehen, wie wenig Menschen den Widerspruch dieser Sache begreifen. Sie wollen das Wunderbare und sie wollen auch das Menschliche. Ich habe das in diesem Da-Vinci-Code-Fieber ganz, ganz toll gefunden und faszinierend, wie man sich mit einer ganz besonderen Person konfrontieren möchte und sich an ihr abarbeitet, wie in diesem Fall Jesus Christus, und andrerseits die ganze Zeit massiv daran arbeitet, diese Gestalt irgendwie zu entmythologisieren, das heißt auch menschlich zu machen, und zu seinesgleichen zu machen, und dieser Widerspruch eigentlich zwischen einer Angleichung und dem Wunsch nach ständiger Bewunderung, also auch einer Form und einer Größe, die außerhalb meiner selbst läge, der ist beachtlich. Wie gesagt, ich finde, das erzeugt Komik. Aber das merken die meisten nicht.

    Köhler: Woran liegt das, tun wir uns so schwer mit exemplarischen Existenzen, denen man nachleben kann, weil sie etwas vorgelebt haben, also eine Christusfigur, eine Prometheusfigur oder andere?

    Hoppe: Ich glaube, ja. Ich glaube, wir tun uns unglaublich schwer damit, und das ist auch sehr verständlich, weil von solchen Gestalten, von diesen Figuren, von diesen, seien sie Helden, seien sie was auch immer, geht natürlich eine unglaublich Faszination aus und auf der anderen Seite eine ungeheure Provokation. Sie tun also etwas, was wir vielleicht gerne tun würden, was wir aber a) nicht tun können, weil uns die Kapazitäten fehlen in den meisten Fällen, und b) auch weil wir uns davor fürchten und weil es viele Dinge einschlösse, die unseren grundmenschlichen Bedürfnissen eigentlich überhaupt nicht entsprechen. Das bedeutet dann wieder Anziehung und Abstoßung. Also es finden ja alle Jesus irgendwie gut und meinen, er sei ein guter Typ gewesen. Denkt man sein Programm aber in Konsequenz zu Ende, dann ist das, wie ich sagte, eine ungeheuerliche Provokation, und dem nachzuleben, womöglich nachzueifern, und dies dann womöglich auch in einer wie auch immer institutionalisierten Form oder konfessionellen Form, das ist eine andere Sache. Das erlebt man immer wieder, ich habe ja ein Buch über Johanna von Orleans, über Jeanne D'Arc geschrieben, und das ist so faszinierend zu sehen, wie stark auf diese Figur reagiert wird, und mir kommt das vor mit diesen Gestalten wie der berühmte heiße Brei, eigentlich will jeder etwas davon abhaben, alle umkreisen ihn, aber alle haben wahnsinnig Angst, sich die Finger zu verbrennen.

    Köhler: Sie sagen es, es neues Buch von Ihnen handelt von Johanna von Orleans, Jeanne D'Arc. Wir haben doch heute, wenn ich das richtig beobachte, seit der Hippie-Bewegung bis hin heute zu den obligatorischen Bekreuzigungszeremonien von Fußballern während der WM so eine Art Bastelreligion. Man steht morgens auf und denkt, ach, heute habe ich so ein bisschen Kummer, heute ist mir so ein bisschen mennonitisch zumute, ja, also richte ich den Tag mennonitisch ein, am nächsten Tag vielleicht ein bisschen benediktinisch, dann vielleicht wieder ganz ohne. Leben wir nicht auch in der Zeit der Bastelreligionen, wo man sich so etwas so ein bisschen zusammensucht ohne große Verpflichtungen?

    Hoppe: Absolut. Ich meine, das zählt ja auch zu den Errungenschaften der Demokratie, die man ja damit verbindet, dass man wählen kann, was man möchte, und wenn man ein Wechselwähler sein kann, warum kann man da nicht auch ein Wechselgläubiger sein sozusagen. Das heißt, man schaut halt, was man glaubt, was einem gut täte. Damit kehrt man natürlich ein Verhältnis um, also man macht sozusagen die Religionen zu Anbietern und der Kunde ist König, und das bedeutet dann natürlich, dass Gott nicht mehr der König ist, sondern der Kunde, auch der Religionskunde, und das ist natürlich sehr stark präsent. Der Buddhismus zum Beispiel, da ist mir das aufgefallen, das war eine Zeit lang eine sehr große Mode, weil man das mit einer Ausgeglichenheit, mit einer Stressresistenz verband. Führt auch zu lustigen Verzerrungen, weil Menschen dann Dinge tun, die sie eigentlich auch leichter haben könnten. Also ich finde es bemerkenswert, dass Menschen, sagen wir jetzt mal Deutsche, katholisch getaufte, es als, ja, nicht besonders ansehnlich finden, einen Rosenkranz zu beten, der aber im Grunde genommen dieselbe Beruhigung erzeugen würde wie eine wie auch immer geartete fernöstliche Meditation.

    Köhler: Gibt es einen Weg zurück, von mir aus nicht nur zum Kult, sondern auch in die Kirche?

    Hoppe: Es gibt, sage ich jetzt mal programmatisch, nie einen Weg zurück. Es gibt so wenig einen Weg zurück, wie es wahrscheinlich Irrtümer gibt. Es gibt nur ein Aufschrecken darüber, dass man etwas verloren hat, und dieses Aufschrecken, das kann manchmal sehr, sehr zeitverzögert sein. Für mich, die ich mein Leben lang mit Religion zu tun hatte, wirkt es einfach, ja, ein bisschen naiv, wenn jemand darüber anfängt zu sprechen, dass die Religion zurückkehren müsse. Wie gesagt, für den trifft dann diese Verzögerung zu, er hat es halt etwas verspätet bemerkt. Ein Zurück gibt es nicht, und deshalb finde ich es wichtig, das Alte betrachtend vielleicht neue Formen zu entwickeln, aber da muss man sehr unterscheiden zwischen dem, was Kult ist, was einfach angelerntes Ritual ist, was zum Beispiel auch Aberglauben wäre, im Vergleich zu dem, was tatsächlich gelebte Religion ist, und das ist, glaube ich, etwas sehr anderes. Auf Ihre Frage, also inwieweit man überhaupt den Alltag mit dem Mirakulösen zusammenbringen kann: Man muss sie vielleicht gar nicht zusammenbringen, denn sie gehören ursächlich zusammen. In der Literatur ist das eigentlich ganz leicht, weil was immer Mirakel meint, wenn wir uns jetzt vorstellen, es wäre ein Wunder, das Wunder erzeugt sich ja ganz einfach, das Wunder erzeugt sich wie in einem Grimmschen Märchen, zum Beispiel durch die Sprache, jemand sagt etwas und daraufhin passiert etwas anderes. Ein Wunder ist ja kein fauler Zauber, das sind zwei sehr, sehr verschiedene Sachen, und ich glaube, das wird sehr oft vergessen.

    Köhler: Also würden Sie zustimmen, dass die Rede vom Ende der Religionen einer der klassischen Irrtümer der Moderne ist?

    Hoppe: Wenn ich die Kategorie des Irrtums zulasse, würde ich sagen, ja, auf jeden Fall.