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"Es ist die Gleichgültigkeit in Ostdeutschland"

In Ostdeutschland identifiziere sich eine Mehrheit nicht mit der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Ordnung, sondern stehe dieser gleichgültig gegenüber, sagt der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder. Dies sei ein möglicher Nährboden für Extremismus.

Klaus Schroeder im Gespräch mit Mario Dobovisek | 03.10.2012
    Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Klaus Schroeder, Politikwissenschaftler und Zeithistoriker an der Freien Universität Berlin. Guten Tag, Herr Schroeder!

    Klaus Schroeder: Schönen guten Tag, Herr Dobovisek!

    Dobovisek: Wir hörten es gerade, sich verschulden, um den Solidarpakt zu zahlen. Läuten die beschriebenen Zustände in westlichen Gemeinden das Ende des Solidaritätszuschlages ein?

    Schroeder: Ja, das ist schon längst überfällig, denn es gibt im Westen viele Regionen, die genauso unterentwickelt sind, wie im Osten. Insofern war es nicht richtig, dass so fortzuführen. Man hätte einen Ausgleichsfonds schaffen müssen für unterentwickelte Regionen in Ost und West. Dann hätte man auch diese Schieflage Ost gegen West beseitigen können. So entsteht das irreale Verhältnis, dass Kommunen, die schlecht dastehen, den Osten – jedenfalls die Regionen, die gut dastehen – finanzieren müssen.

    Dobovisek: Wann glauben Sie, Herr Schroeder, kann dies eine Regierung wie auch immer sie geartet sein mag, anfassen, ohne dabei die große Büchse der Pandora öffnen?

    Schroeder: Wahrscheinlich vor 2019 nicht. Aber der Solidarbeitrag ist ja im Grunde eine verdeckte Steuererhöhung gewesen. Der fließt ja nicht in den Osten. Das ist ja ein Missverständnis. Der muss aufgebracht werden und fließt dann irgendwo hin. Insofern wird die Diskussion um Umverteilung, um Steuererhöhungen, verhindern, dass der Solidarbeitrag abgeschafft wird. Er wird übergehen in eine allgemeine Steuererhöhung, vermute ich, nach der nächsten Wahl.

    Dobovisek: Sie haben sich ausführlich mit dem Rechtsextremismus in den neuen Ländern befasst. Die Morde der Nazi-Terrorzelle NSU haben uns jüngst dessen Ausmaß deutlich gemacht. Hat Sie das überrascht?

    Schroeder: Ja. Dass es eine rassistisch motivierte Mordserie geben kann, die unentdeckt bleibt so lange, das hat mich wirklich überrascht. Und das Versagen der Sicherheitskräfte hätte ich auch nur im Entferntesten nicht für möglich gehalten. Man kann ja nicht aus der Szene, einer rechtsextremen Szene schließen, ob irgendwann Rechtsterrorismus entsteht. Da kann die Szene groß oder klein sein, intensiv sein, gewaltmäßig oder nicht, das ist unabhängig davon. Hier hätten nur Sicherheitskräfte Alarm schlagen können und im Grunde genommen im Keime diese Zelle ausschalten müssen. Das hat nichts mit dem allgemeinen Phänomen Rechtsextremismus zu tun.

    Dobovisek: Den Rechtsextremismus gibt es allerdings und dem Eindruck nach vor allem in Ostdeutschland. So sagte auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich am Wochenende, dass in einigen Landstrichen Ostdeutschland Neonazis auftrumpften und zivilgesellschaftliches Leben bewusst für ihre Zwecke unterwanderten. Ist Rechtsextremismus vor allem ein ostdeutsches Problem.

    Schroeder: Rechtsextremismus gibt es überall. Im Osten und Westen, Italien, Frankreich, wo Sie hinschauen. Aber wenn Sie den innerdeutschen Vergleich wagen, dann stellen Sie fest, dass der Rechtsextremismus sehr viel intensiver und sehr viel verbreiteter ist, als in den meisten Regionen im Westen – hier gibt es einige Ausnahmen –, aber generell gilt: In Ostdeutschland ist es ein viel größeres Problem. Und ich sehe mit Erschrecken, dass bis zum heutigen Tage ostdeutsche Lokalpolitiker und Landespolitiker das Phänomen verdrängen, das verharmlosen. Sie wollen nicht damit identifiziert werden. Und damit können sie das Problem auch nicht anpacken und lösen.

    Dobovisek: Sind das ein Stück weit auch Versäumnisse der Wiedervereinigung?

    Schroeder: Ja. Das sind die Versäumnisse der Wiedervereinigung. Vor allen Dingen juristische Versäumnisse. Die Ostdeutschen haben mit sehr viel Stolz die Diktatur überwunden und sind dann in eine Gesellschaft geraten, die sie zwar heiß ersehnt hatten, die ihnen aber fremd geblieben ist. Sie kamen nicht klar mit dem Leben anfangs, viele bis heute nicht. Und das hat eine Jugend hervorgebracht, die keine Orientierung mehr hatte. Hier ist ein Vakuum entstanden, das rechtsextreme Rattenfänger ausgenutzt habe. Es entstand ein rechtsextremes Milieu, denken Sie an die Ausschreitungen der 90er-Jahre. Und hier hätte man viel härter durchgreifen müssen, hätte abschrecken müssen, dass keine Mitläuferszene entsteht. Das hat man versäumt, weil man - "Augen zu und ein bisschen tolerant" – und dachte, das wird sich irgendwie wieder geben. Es hat sich aber nicht gegeben. Und das eigentliche Problem was wir haben ist ja weniger der aktuelle Rechtsextremismus, der betrifft nur ganz wenige Teile der Bevölkerung, sondern es ist die Gleichgültigkeit in Ostdeutschland bei einer Mehrheit gegenüber der politischen und wirtschaftlichen Ordnung Deutschlands und der nicht vorhandenen Bereitschaft, diese Demokratie und diese Freiheit, die wir haben, auch im Ernstfall zu verteidigen. Das macht mir viel mehr Sorgen, weil hier der Nährboden gelegt ist dafür, dass vielleicht einmal der Extremismus sich weiter ausbreiten könnte.

    Das vollständige Gespräch mit Klaus Schroeder können Sie mindestens bis zum 3.3.2013 als MP3-Audio in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.