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"Es ist mit Zahlen getrickst worden"

Anette Kramme, sozialpolitische Sprecherin der SPD, hält die Hartz-IV-Reformen der Regierung für unzureichend. Statt eines Bildungspakets für Kinder von Hartz-IV-Empfängern fordert sie ein Infrastrukturprogramm, das beispielsweise den Ausbau der Ganztagsschulen finanziert. Die Unterstützung soll außerdem direkt an die Menschen ausgezahlt werden.

Anette Kramme im Gespräch mit Christian Bremkamp | 20.10.2010
    Christian Bremkamp: Ich habe Anette Kramme, sozialpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, gefragt, ob die Sozialdemokraten die Hartz-IV-Reform auch weiterhin im Bundesrat blockieren wollen?

    Anette Kramme: Ja. Wir wollen natürlich nicht gerne blockieren, aber es gibt Dinge, die anders geregelt werden müssen. Beispielsweise fallen die Regelsätze zu niedrig aus, weil manipuliert worden ist, es ist mit Zahlen getrickst worden. Und das Bildungspaket ist als solches unzureichend. Wir wollen stattdessen ein Infrastrukturprogramm aufgelegt haben, das nicht nur Kindern aus SGB-II-Bezug hilft, sondern allen Kindern.

    Bremkamp: Aber Frau Kramme, 1,7 Millionen Kinder von Langzeitarbeitslosen sollen durch dieses Bildungspaket besser gefördert werden. Wenn Sie jetzt im Bundesrat blockieren, verhindern Sie nicht eine schnelle Hilfe für diese Kinder?

    Kramme: Nein, der Auffassung sind wir nicht. Ursula von der Leyen hat gegenüber der SPD klargestellt, dass sie unabhängig von einer Zustimmung unserer Partei die Leistung ab Anfang des Jahres auszahlen wird. Sie sagt, das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gäbe das auch vor. Das heißt, unabhängig davon, ob wir zu einer gesetzlichen Regelung in diesem Jahr kommen, oder erst Anfang nächsten Jahres, es wird Leistungen für SGB-II-Empfänger geben.

    Bremkamp: Sie haben eben ein Infrastrukturprojekt anstelle dieses Bildungspaketes angesprochen. Was verstehen Sie darunter?

    Kramme: Wir möchten, dass wir nicht private Nachhilfeinstitute flächendeckend finanzieren, sondern wir denken, das ist kostengünstiger und hilft auch mehr Kindern, wir wollen deshalb, dass zum Beispiel Ganztagsschulen flächendeckend ausgebaut werden, die selbstverständlich ein Mittagessen anbieten. Wir wissen: Kinder können nur gut lernen, wenn sie gut ernährt werden. Wir möchten vor allen Dingen auch, dass dort in diese Ganztagsschulen Vereinsangebote integriert werden.

    Bremkamp: Aber das schließt doch das Angebot oder die Angebote, die in diesem Bildungspaket vorgesehen sind, eigentlich nicht aus. Man könnte das doch auch später noch mal anstoßen.

    Kramme: Das ist richtig. Auch wir brauchen eine Übergangslösung. Ich schlage deshalb persönlich vor, dass wir das soziale Teilhabepaket ähnlich wie das Schulstarterpaket direkt an die Menschen auszahlen. Es ist im Übrigen ein großer Irrglaube, dass Menschen im SGB II-Bezug ihren Kindern Leistungen vorenthalten. Wir wissen aus einer Sachverständigenanhörung genau das Gegenteil. Eltern setzen das Geld, ihr Geld, zusätzlich für Kinder ein. Das ist eine vernünftige Übergangslösung, aber wir brauchen generell etwas an Leistungen für Menschen, die bildungsfern sind.

    Bremkamp: Aber immer nur mehr Geld an die Familien auszahlen, das hat die Situation bislang nicht verbessert.

    Kramme: Ja. Deshalb sagen wir ja auch, wir möchten ein Infrastrukturprogramm haben. Jeder kann, wenn er möchte, in eine Kinderkrippe gehen. Den Rechtsanspruch haben wir dort geregelt, das muss selbstverständlich umgesetzt werden. Und wie gesagt, wir möchten jedem Kind einen Rechtsanspruch auf eine Ganztagsschule geben, wo es in besonderem Maße eine individuelle Förderung gibt und wo es wie gesagt gesundes Essen gibt.

    Bremkamp: Nun steht ein Kompromiss im Raum. Der baden-württembergische Bundesratsminister Wolfgang Reinhart von der CDU hat vorgeschlagen, die Regierung akzeptiert Mindestlöhne in der Zeitarbeit, die SPD soll im Gegenzug die Hartz-IV-Neuregelung im Bundesrat abnicken. Wäre das nicht eine Möglichkeit?

    Kramme: Nein, das ist unzureichend. Wenn uns angeboten werden würde, dass wir insgesamt einen gesetzlichen Mindestlohn bekämen, dann wäre das mit Sicherheit ein ganz großes Paket, das in die Verhandlungen eingebracht werden würde, weil damit könnten wir 7,8 Millionen Menschen helfen. 7,8 Millionen Menschen würden in der Bundesrepublik Deutschland bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro mehr verdienen. Aber da geht es nur um die Leiharbeit, und wenn dort die Vernunft der Regierung nichts sieht, ja dann kann man auch nicht mehr helfen. Wir werden ab Mai nächsten Jahres die Arbeitnehmerfreizügigkeit haben und das heißt, wir rechnen mit einem Lohndumping im großen Ausmaß. Da muss die Regierung selber handeln, muss das selbst auf die Reihe bringen.

    Bremkamp: Anette Kramme war das, sozialpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion.

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