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Essays von Lukas Bärfuss
Starke Bohrer, starke Bilder

Trotz seiner jüngsten Erfolge ist der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss unangepasst geblieben. Die Kantigkeit dessen, der Ablehnung gewohnt ist, der Stolz des Self-Made-Man sprechen auch aus den Texten seines jüngst veröffentlichten Essay-Bandes.

Von Martin Ebel |
    Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss.
    Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss. (Frederic Meyer)
    "Stil und Moral" – das klingt wie "Sein und Zeit" oder "Masse und Macht". Ein doppelter Trompetenstoß. Wer setzt einen solchen Titel über eine Sammlung von Reden und Essays? Lukas Bärfuss tut das, ein Solitär unter den Schweizer Schriftstellern der Gegenwart. Er ist kein Kind des Establishments und doch so etwas wie der Autor der Stunde: sehr erfolgreich, sehr gefragt auf der Bühne und in Prosa. Aus seinem Theaterstück "Die sexuellen Neurosen unserer Eltern" ist gerade ein großartiger Kinofilm geworden – "Dora" von Stina Werenfels -, und weil sich sein letzter Roman "Koala" so glänzend verkauft hat, wollte der Verlag schnell ein weiteres Buch nachschieben. "Stil und Moral" ist aber keine Buchbindersynthese, sondern ein aus verstreut erschienenen Texten sinnvoll zusammengestellter, ja komponierter Band, aus dem sich so etwas wie eine intellektuelle Physiognomie ergibt.
    Ernst und dringlich geht es zu. Stil und Moral – das meint auch: Literatur und Politik. Von literarischen Kollegen handelt ein Teil der Texte, von Shakespeare und Büchner, Kleist, Tschechow und Robert Walser, von Frisch und Dürrenmatt. Ein anderer geht biografischen Spuren nach. Bärfuss erinnert sich an eine schwierige Kindheit in der öden Kleinstadt Thun, an eine Phase, in der diese Biografie auch hätte scheitern können: "Wir waren halbe Preise, unsere Eltern waren Säufer oder minderbemittelt, manchmal beides zusammen", schreibt er über seine Altersgenossen auf dem was der deutschen Hauptschule entspricht. Es ist eine hässliche Schweiz, die einem da entgegenblickt, schnell bereit, Unangepasste als Versager abzuschreiben.
    Unangepasst ist Bärfuss geblieben, auch wenn sein Lebensweg durch Zufall und helfende Hände eine unerwartete Wendung nach oben genommen hat. Die Kantigkeit dessen, der Ablehnung gewohnt ist, der Stolz des Selfmademan sprechen aus diesen Texten. Und ein hoher Anspruch an sich selbst. Dazu gehört, Aussagen allgemeiner Art lebensgeschichtlich zu fundieren, Meinungen auf Erfahrungen zurückzubinden. Einer der interessantesten Stücke in dem Band ist "Habeas Corpus", der von einer Reise einer Schriftstellergruppe nach Abu Dhabi erzählt, auf der ein Kollege – er hatte das falsche Foto gemacht – eine Zeitlang in den Mühlen der Justiz verschwindet. Bärfuss berichtet von Verwirrung und Hilflosigkeit, von hilflosem Zorn auch, aber auch von der Erkenntnis, unfreiwillig ein Komplize des korrupt-diktatorischen Systems zu sein, das den Kollegen einkassiert hat. Er schreibt: "Die Geschäfte der westlichen Demokratien mit diesen barbarischen Emiren laufen wie geschmiert. Ohne ihren Betriebsstoff würde der aufgeklärte Bürger seine Identität kaum einen Tag aufrechterhalten können. Seine Empörung kann er sich nur leisten, weil man ihn längst gekauft hat." Soweit diese Passage.
    Bärfuss: Wir leben in einer ruhigen Ecke eines globalen Flüchtlingslagers
    Sie zeigt, wie viele andere in diesem Band: Politische Statements sind für Bärfuss nichts, was man ab und zu pflichtgemäß abzusondern hat, sondern umgekehrt etwas, vor dem sich die literarische Aktivität rechtfertigen muss. Das unterscheidet ihn von den vielen Schweizer Kollegen, die zuverlässig, überaus erwartbar und geradezu herdenmäßig ihre Empörung über den jeweils aktuellen Aufreger absondern. Bärfuss' Positionen sind nicht so einfach abzutun, weil sie wehtun – dem Leser wie dem Autor selbst. Bärfuss ist ein Staatsbürger, der sich mit dem herrschenden Alternativlosigkeitsdiskurs nicht abfinden will, der in gut linker Tradition an die Veränderbarkeit der Welt glaubt und in gut aufklärerischer Tradition die Interessen aufdecken will, die solcher Veränderung entgegenstehen. Denn dass alles "so kompliziert" sei, gehört für ihn auch zur Ideologie des So-Seins: "Die Motive der Ausbeutung sind nicht kompliziert", schreibt er, "Gier ist nicht kompliziert, Verschwendung ist nicht kompliziert. Unsere Interessen liegen offen zutage. Kompliziert ist, dass wir einsehen, wie ungerecht der Wohlstand verteilt ist und dass wir gleichzeitig kaum bereit sind, etwas daran zu ändern."
    Stil und Moral – dieses Begriffspaar nimmt im letzten Essay, der den Titel des Bandes trägt, eine antagonistische Gestalt an: Stil gegen Moral. Es sei nicht zu rechtfertigen, meint Bärfuss, sich mit schönen Dinge zu beschäftigen, Literatur zu schreiben (oder zu lesen), während um uns herum Menschen hungern, versklavt werden, verrecken. Insofern sei auch das Verfassen (und Lesen) dieser Essays eine müssige, ja unverantwortliche Tätigkeit. Eine "moralische Sauerei", wie er wörtlich schreibt und wofür er, um die Stoßkraft des Gedankens noch zu erhöhen, folgendes Bild findet: Eine gutgenährte Person sitzt in einem afrikanischen Flüchtlingslager, wo gerade die Cholera ausgebrochen ist. Statt zu helfen, sucht sich der Mensch eine ruhige Ecke und liest Rilke. So sind wir, meint Bärfuss, wir leben in einer ruhigen Ecke eines globalen Flüchtlingslagers.
    Natürlich will Bärfuss diese ungeheuer starke Metapher nicht als Handlungsanweisung verstanden wissen. An sich und uns – hört auf mit Lesen und Schreiben, geht nach Afrika und bohrt Brunnen! Nein; woran er bohrt, sind eher die dicken Bretter der Selbstzufriedenheit und Ignoranz, mit denen wir unser Bewusstsein gegen unangenehme Wahrheiten panzern. Und dazu braucht es starke Bohrer, starke Bilder und eben auch klare, unmissverständliche Aussagen. Die findet man in Lukas Bärfuss' Essays.
    Lukas Bärfuss: Stil und Moral. Essays.
    Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 235 Seiten, 19.90 Euro