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Herbsts Roman "Meere"
Porträt eines ungebändigten, vorzivilisa­to­ri­schen Mannes

Der Roman "Meere" wurde im Veröffentlichungsjahr 2003 aufgrund der Verletzung von Persönlichkeitsrechten verboten. Sein Autor Alban Nikolai Herbst erzählt darin eine gescheiterte Liebesgeschichte - autofiktionale Prosa, durch die laut Rezensent der größte Image-Schaden auf Herbst zurückfällt.

Von Florian Felix Weyh |
    Mittelalter Mann mit Glatze, Dreitagebart, eine Lederjacke tragend, vor rotem Hintergrund
    Alban Nikolai Herbst auf der Frankfurter Buchmesse 2009 (dpa/ Jörg Carstensen)
    Das Kind plumpst in die Welt, da ist die Liebe tot. Die Liebe? Nein, die Fleischeslust, der selbstzerstörerische Drang, alle Körpergrenzen aufzuheben, bis zwischen Blut, Urin, Schweiß und Sperma jenes Konzept namens 'Würde', das den Menschen vom Tier trennt, in einer Eruption von Selbstvergessenheit, ja Selbstaufgabe zerstoben ist. Eine alte Geschichte, eine rohe Geschichte, eine heikle Geschichte, rhythmisiert von einem immer wiederkehrenden Satz: "Schlag mich bitte, schlag mich ins Gesicht!"
    Gescheiterte Obsessionsgeschichte zweier Menschen
    Reden wir vom x-ten Klon der SM-Pornoschmonzette "Fifity Shades of Grey" aus dem Jahr 2011? Nein, wir reden von Literatur aus dem Jahr 2003, von einer schmerzlichen, dunklen und gescheiterten Obsessionsgeschichte zweier Menschen, die nur in einem Punkt zusammenpassen: im Lustkampf. "Sie waren einander bereits am ersten Abend verfallen", bestimmt Alban Nikolai Herbst auf Seite 11 die Fallhöhe seiner Liebes-, Leibes- und Leidensgeschichte "Meere", und da ahnt man schon: Das geht nicht gut aus.
    Julian Fichte heißt der Mann, ein berserkerhafter bildender Künstler, der weniger malt als Materialschlachten veranstaltet, an der polnischen Ostseeküste in alten Bunkern "Höllenpaläste" baut. Irene Adhanari heißt die Studentin, die ihm verfällt – der er verfällt –, eine dunkle Schönheit, Blickmagnet auf allen Vernissagen, "Fichtes schöne Inderin". Beide trennen mehr als 20 Jahre, Fichte ist über 40, Irene Anfang 20. Die Amour fou geht über fünf Jahre, in denen Fichte mit seiner Hauptfrau fest liiert bleibt; sie geht, bis Irene eine Kind bekommt. Nachgeburtlich kämpft die schöne Inderin mit ihrem Körpergewicht und fängt sich einen beziehungstödlichen Männersatz ein: "Du bist derart fett!" Das ist das Ende aller Liebe, weil es das Ende jeglicher Achtung bedeutet.
    In Wahrheit stirbt die männliche Lust schon während der Schwangerschaft, denn eine ausschließlich sexuelle Obsession darf nie den biologischen Zielpunkt erreichen: neues Leben. Die Obsession besteht ja gerade aus Unerfüllbarkeit bar aller Ziele. Als männlicher Leser darf man es wohl aussprechen: Julian Fichte ist ein jämmerliches Schwein. Egoistisch, zugleich voller Selbstmitleid, frauenvernichtend in seiner Dauer-Libido, lautet doch der Kernsatz seiner ewigen Geilheit: "Fremdheit macht Erektion". Und Erektion drängt auf Erleichterung.
    Ein entlarvendes Porträt
    Was für ein entlarvendes Porträt des Mannes als ungebändigte, vorzivilisatorische Figur! "Du bist mir kein guter Mann gewesen", spitzt es Irene zu, als sie Fichte verlässt, kein Partner nämlich, geschweige denn ein denkbarer Vater des gemeinsamen Sohnes. Und Fichte wütet der Abtrünnigen mit jener wilden Beschwörungs- und Verdammungs-Suada hinterher, die wir als Roman "Meere" zu lesen bekommen. Taugt das zum Skandalon? Ist es nicht, im Gegenteil, quasi-feministischer Anschauungsunterricht: So sieht der Mann in der tierischen Urform des streunenden Begatters aus, haltet euch von ihm fern?
    Ironischerweise hätte Alban Nikolai Herbst seine Persönlichkeitsrechte gegen sich selbst in Stellung bringen können, denn er schreibt, was man vornehm "autofiktionale Prosa" nennt: Belletristik mit einem derart hohen biografischen Anteil, dass der größte Image-Schaden auf den Autor zurückfällt. Natürlich ist Fichte – im künstlerischen Werk an Anselm Kiefer angelehnt – nicht identisch mit Alban Nikolai Herbst. Doch Fichte heißt eigentlich gar nicht Fichte, weil sein Großvater Naziverbrecher war, so wie Herbst nicht Herbst heißt, sondern Ribbentrop. Der breit ausgemalte Erzählstrang eines lastenden Familiennamens, die Kindheit unter dem Fallbeil des Vorurteils, dem man sich nur durch Künstlernamen entziehen kann – das ist keine Fiktion. Soll die Liebesgeschichte reine Erfindung sein? Kaum jemand glaubte das, die Juristen so wenig wie die Leser 2003.
    Wucht der geschilderten Emotionen
    Sein Ich darf jeder entblößen, wie er will. Umfasst dieses Ich allerdings ein Doppel-Ich wie in der Amour-fou-Verschmelzung des bis in Körpergerüche hinein indezente Romans, bedeutet die Entblößung jedoch einen Intimitätsverrat. Den begeht das Buch in serieller Tatfolge, und vertrackterweise macht gerade das die Qualität des Textes aus. Dass 2017 die Lektüre vielleicht noch Bestürzung auszulösen vermag, liegt an der Wucht der geschilderten Emotionen, der Scham über männliches Irresein und der Ahnung des Lesers, dass hier eine sehr intime Realität verhandelt wird. Sie spiegelt sich bis hinein in präzise Beobachtungen aus dem Schambereich, wie sie Literatur sonst eher meidet. Dass man in fremde Geheimnisse eingeweiht wird, ist einerseits die Urszene der Literatur, andererseits zugleich ihr Grenzbereich. Wie weit man da als Leser mitgehen will, bleibt eine Frage des Selbstverständnisses – oder des Geschmacks.
    Alban Nikolai Herbst: "Meere"
    Erstausgabe: Mare Verlag 2003, 264 Seiten.