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EU-Reformforderungen Großbritanniens
"Europa sollte nicht seine Seele verkaufen"

Der SPD-Europapolitiker Jo Leinen lehnt in der Diskussion über eine EU-Reform zu große Zugeständnisse an Großbritannien ab. Man müsse einen Deal finden, der für alle gut sei und nicht nur für ein Mitgliedsland, sagte er im DLF. Er warnte davor, Großbritannien die Möglichkeit zuzugestehen, die Sozialleistungen für EU-Ausländer zu kürzen.

Jo Leinen im Gespräch mit Christiane Kaess | 01.02.2016
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen, von der Seite aufgenommen, sprechend und mit einer Hand gestikulierend.
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen (imago/stock&people/Becker&Bredel)
    Leinen mahnte: "Europa sollte nicht seine Seele verkaufen." Man könne sicher über den einen oder anderen Punkt reden. Die Nichtdiskriminierung der EU-Bürger sei aber eine rote Linie, die nicht überschritten werden dürfe. Damit bezog sich der SPD-Politiker auf die Forderung aus London nach Leistungskürzungen für EU-Ausländer. Er warnte vor einem Präzendenzfall, der mit Sicherheit Nachahmer in der EU finden würde.

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Zuerst reiste der britische Premierminister David Cameron nach Brüssel und traf dort EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Gestern kam dann EU-Ratspräsident Donald Tusk zu Cameron nach London. Ziel der Pendeldiplomatie, die Forderungen Londons nach einer EU-Reform so weit unter Dach und Fach zu bringen, dass die Staats- und Regierungschefs sie auf dem EU-Gipfel Mitte Februar beschließen können. Die Hauptforderung Großbritanniens: eine sogenannte Notbremse gegen die Einwanderung aus anderen EU-Staaten. Sie soll es EU-Mitgliedsstaaten ermöglichen, Sozialleistungen für Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten zu kürzen oder auszuschließen. Es geht dabei vor allem um Aufstockerleistungen. Allerdings muss das betroffene Land die anderen EU-Mitgliedsländer davon überzeugen, dass sein Sozialsystem gefährdet ist. Am Telefon ist jetzt Jo Leinen von der SPD. Er ist Mitglied des Europaparlaments, dort unter anderem Mitglied im Ausschuss für konstitutionelle Fragen. Guten Morgen.
    Jo Leinen: Guten Morgen, Frau Kaess.
    Kaess: Herr Leinen, ist Großbritannien dabei, die anderen Mitgliedsländer in die Knie zu zwingen?
    Leinen: Europa sollte nicht seine Seele verkaufen und auch nicht seine Prinzipien verraten in diesen Verhandlungen. Das wäre völlig falsch und man muss einen Deal finden, der für alle gut ist und nicht nur für ein Land. Es geht also nicht um bessere Bedingungen für Großbritannien, sondern vielleicht um Reformen für die gesamte EU. Das muss das Ziel sein.
    "Eine rote Linie, die nicht überschritten werden darf"
    Kaess: Aber die Mehrheit der Mitgliedsstaaten will ja, dass Großbritannien in der EU bleibt. Also wie weit wird man London entgegenkommen?
    Leinen: Man kann sicherlich über den einen oder anderen Punkt reden. Die EU ist in einem permanenten Reformprozess. Dieses Referendum schiebt noch mal einige Fragen an. Aber wie ich schon sagte: Die Grundprinzipien der EU, die Nichtdiskriminierung der Bürgerinnen und Bürger aus den 28 Ländern, das ist eine rote Linie. Die darf nicht überschritten werden, weil das wäre ein Präzedenzfall, der mit Sicherheit dann auch Nachahmer finden würde.
    Kaess: Aber diese sogenannte Notbremse, die Sie da jetzt angesprochen haben durch die Nichtdiskriminierung, die haben doch andere Länder, andere EU-Staaten eigentlich auch auf dem Schirm, weil sie das gleiche Interesse haben wie Großbritannien. Keiner will doch Aufstocker aus anderen EU-Ländern finanzieren.
    Leinen: Man muss Missbrauch von Sozialleistungen verhindern. Das ist ja ein generelles Prinzip. Das kann man mit nationalen Regelungen machen. Dann gilt es allerdings für alle. Man kann nicht sozusagen Ausländer von Sozialleistungen abschneiden und Inländern Sozialleistungen weiter geben. Das geht jedenfalls nicht bei EU-Bürgern und EU-Bürgerinnen.
    Kaess: Aber genau dazu scheint es doch jetzt zu kommen, wenn wir den Bericht aus London richtig verstehen.
    Leinen: Ich deute die Weiterverhandlung heute so, dass darum hart gerungen wird. Man kann sicherlich einen Notfallmechanismus einbauen. Beim Schengen-System haben wir das ja auch. Wenn der Zulauf zu einem Land zu groß wird, kann es Grenzkontrollen geben, und wenn wirklich ein Land überlastet ist, dann kann es einen Mechanismus geben, wo diese Notbremse wirkt. Allerdings, denke ich, muss das von der Europäischen Union genehmigt werden. Es kann nicht sein, dass ein Land einfach nach eigenem Gutdünken und willkürlich diese Bremse zieht und EU-Bürger von ihrem System ausschließt.
    "Nicht die soziale Union aufgeben"
    Kaess: Darüber wird ja auch genau gesprochen. Aber diese Notbremse, Sie haben es vorhin auch schon gesagt, die widerspricht eigentlich dem EU-Verbot zu diskriminieren. Alle EU-Bürger müssen gleich behandelt werden. Wie ist das Ganze denn rechtlich aufzulösen?
    Leinen: Ich glaube auch, dass da ein großer Popanz herrscht. Die meisten Menschen aus den neuen Mitgliedsländern, aus Polen, aus dem Baltikum, die nach Großbritannien gekommen sind, die arbeiten dort, die zahlen dort Steuern. Es ist die große Angst gewesen bei den Rumänen und den Bulgaren vor drei, vier Jahren, und auch dort hat man festgestellt, die allermeisten kommen und wollen arbeiten. Da gibt es einige, die sind arbeitslos, und einige werden sicherlich auch aus Missbrauchsgründen in ein Land ziehen, aber Großbritannien hat einen unheimlichen wirtschaftlichen Vorteil gehabt von dieser Einwanderung aus EU-Ländern und von daher ist nicht einzusehen, dass jetzt nur wegen diesem Referendum wir auch die soziale Union in Europa aufgeben und zu völlig unsozialen Mitteln greifen sollten.
    "Cameron hat Interesse, wie ein Sieger dazustehen"
    Kaess: Noch mal zurück zu meiner Frage, wie diese Notbremse, die ja offenbar kommen wird, zumindest sieht es danach aus, wie das Ganze rechtlich zu regeln ist. Das EU-Parlament muss, wenn wir das richtig verstanden haben, dabei auch mitziehen?
    Leinen: Ja wir haben immer gesagt, Vertragsänderungen sind nicht notwendig für die Verhandlungen mit Großbritannien. Man darf nicht Hand anlegen an die Grundprinzipien, an die Werte der Union, die in den Verträgen stehen. Das Sekundärrecht, da sind die Gesetze, die wir machen. Da kann man sicherlich sehen, ob Nachholbedarf ist, ob Veränderungsbedarf ist. Wir haben ja eine ganze Reihe von EU-Gesetzen über die soziale Sicherung und wenn man dort eine Bremse einbaut - Leistungen sind ja nicht per se immer und ewig gültig. Wir verändern ja laufend Sozialleistungen. Wenn das in einem EU-Gesetz passiert, ohne die Diskriminierung, und wenn es vernünftig passiert, dann kann ich mir auch im Europaparlament eine gute Debatte vorstellen. Wir werden allerdings sicherlich nicht mitmachen, unsere Werte, unsere Prinzipien, unser soziales Europa über Bord zu werfen. Das geht nicht. Und das wäre auch nicht nötig, weil ich glaube, dass diese Punkte auch letztendlich gar nicht wahlentscheidend sind in Großbritannien. Da wird es um ganz andere Themen gehen.
    Kaess: Herr Leinen, unterm Strich: Ist das alles ein abgekartetes Spiel - ich nenne es einfach mal ganz salopp so -, wo letztendlich jeder seine Interessen zum Schluss bedienen kann?
    Leinen: Die EU hat Interessen, dass wir uns nicht gegenseitig diskriminieren. Großbritannien, jedenfalls Cameron hat Interesse, wie ein Sieger dazustehen. Diese, sagen wir mal, Verkaufspassage, die muss man ihm lassen. Er muss nach harten Verhandlungen in London auftreten wie einer, der gewonnen hat. Wenn das ohne Blessuren, ohne Verletzungen der EU-Regeln geht, dann soll er das tun und hoffentlich dann auch die Mehrheit seiner Leute gewinnen, weil das wird noch der stärkste Kampf.
    Kaess: Jo Leinen (SPD). Er ist Mitglied des Europaparlaments. Herr Leinen, vielen Dank für dieses Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.