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Eugène Dabit: "Petit-Louis"
Im Windschatten der Weltgeschichte

Mit "Petit-Louis" hat Eugène Dabit ein Buch geschrieben, das überwiegend während des Ersten Weltkrieges spielt, ohne ein Kriegsroman zu sein. Seine Zeitgenossen fanden das Werk über einen heiteren jungen Mann aus ärmlichen Verhältnissen zu unpolitisch - doch verzaubert es durch seinen "diskreten Charme".

Von Dina Netz | 23.03.2018
    Historische Aufnahme von Montmartre, Paris, 1905
    "Wir lebten ruhig, ohne allzu viele Sorgen", schreibt Dabit in seinem vermeintlich unpolitischen Roman, dessen Besonderheiten sich mit historischem Abstand um so besser entdecken lassen (imago)
    Der titelgebende Petit-Louis ist knapp 16, als der Roman einsetzt. Und überraschenderweise erzählt der Ich-Erzähler zunächst nicht von Teenager-Phantasien oder -Problemen; oder von Kriegsängsten - immerhin beginnt die Romanhandlung im Jahr 1914. Nein, Petit-Louis erzählt voller Liebe von seinen Eltern. Der Vater ist Kutscher, die Mutter Putzfrau. Sie arbeiten hart für das Überleben der Familie und kümmern sich mit viel Zuneigung sowohl um ihren Sohn als auch umeinander. Sie leben in einer ärmlichen Wohnung im Pariser Stadtteil Montmartre. Doch obwohl das Licht ins Treppenhaus "traurig" hereinfällt, obwohl die Zimmerdecken im Winter stockfleckig sind, obwohl der Vater gelegentlich seinen Verdienst mit den Kumpels versäuft, beschreibt Petit-Louis das Familienleben als Idylle.
    Pastellfarbene Passagen in authentischer Sprache
    "Wir sind immer glücklich gewesen. Meine Eltern umgaben mich mit Zärtlichkeit. All ihre Bemühungen galten mir, ihrem einzigen Gedanken. Ich war das sanfte Band zwischen ihnen, sie hörten dann jedes Mal auf zu zanken und lächelten mich an."
    Solche arg pastellfarbenen Passagen fängt Eugène Dabit zum Glück immer wieder auf. Meist erzählt Petit-Louis nüchtern von seinem Alltag. Die Sprache wirkt authentisch, weil Dabit sich nicht bemüht, kunstvoll zu schreiben, sondern so einfach wie die Menschen, um die es geht.
    "Der kleine Louis" war zwar gut in der Schule, hat sich aber für eine Schlosserlehre entschieden. Das hat sich offenbar aus den Gewohnheiten in seinem Milieu so ergeben und weil er in der Schule als Außenseiter gehänselt wurde. Der Alltag der Familie folgt einem harten, aber gelassenen Trott.
    "Wir lebten ruhig, ohne allzu viele Sorgen. Mein Vater ging nicht zur Wahl und las keine Zeitung. Die große weite Welt rückte uns nur ins Gedächtnis, wenn es irgendein Unglück oder ein schweres Verbrechen gab. Danach vergaßen wir sie wieder."
    Krieg als eine Art "Ausflug"
    Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs sprengt diesen Familienkokon: Der Vater wird eingezogen, Petit-Louis verliert seine Arbeit, verdingt sich als Wagenwäscher bei der Bahn, wird von den Kollegen dort als "Windelbaby" verspottet. Seine ersten amourösen Abenteuer erschrecken ihn eher, als dass sie ihn ermutigen. Und seine kleine, geliebte Welt erscheint ihm plötzlich zu eng. Um all dem zu entkommen, meldet er sich freiwillig zur Armee. Das ist einerseits naiv, denn Petit-Louis verwechselt, wie so viele junge Männer seiner Zeit, den Krieg mit einem Ausflug. Andererseits ist er nicht ganz so blauäugig, wie es scheint, denn durch seine freiwillige Meldung darf er sich aussuchen, wo er eingesetzt wird. Er geht zur Artillerie. Auf die Ruhmes-Phantasien folgt allerdings bald Ernüchterung.
    "Ich finde den Beruf des Soldaten enttäuschend, jedenfalls genauso eintönig und blöde wie meinen Beruf als Wagenwäscher. Wir machen die immer gleichen Übungen. Wir waten durch Schlamm oder zittern vor Kälte, je nachdem."
    Petit-Louis zieht als Telefonist an die Front, und natürlich macht ihn das Leben im Schützengraben und im Sperrfeuer vom kleinen zum großen Louis. Aber er bleibt ein Außenseiter, denn er hat eine Leidenschaft, die zumindest in seinem proletarischen Milieu einsam macht: die Literatur. Petit-Louis übernimmt die Wachdienste der anderen, um in Ruhe Henri Barbusse, Honoré de Balzac und Emile Zola zu lesen.
    Dabit geriet nach dem Krieg zwischen alle Stühle
    Mit "Petit-Louis" hat Eugène Dabit ein Buch geschrieben, das überwiegend während des Ersten Weltkrieges spielt, ohne dass es ein Kriegsroman wäre. Das Buch beinhaltet wenig Kampfhandlungen und so gut wie keine Erläuterungen der politischen Weltlage. Dabit wurde sogar vorgeworfen, die Grausamkeiten des Krieges auszublenden. Das trifft natürlich nicht ganz zu, aber die Todesopfer erwähnt der Erzähler tatsächlich eher am Rande:
    "Wir haben trotz allem Glück gehabt: kein einziger Verwundeter, nicht ein Gefallener in unserer Truppe. Doch das Dorf, aus dem ein fürchterlicher Aas- und Brandgeruch aufstieg, die blauen und grauen Leichen auf den Feldern werden uns auf ewig im Gedächtnis bleiben."
    Die Übersetzerin Julia Schoch hat "Petit-Louis" mit viel Gespür für die direkte und unmittelbare Sprache übersetzt. Ihr Nachwort ist treffend mit "Der diskrete Charme des Eugène Dabit" betitelt. Darin beschreibt Schoch kenntnisreich, wie Dabit mit "Petit-Louis" im Nachkriegsfrankreich zwischen alle Stühle geriet. Zu bürgerlich, zu wenig wertend, zu unpolitisch lauteten die Vorwürfe. Vor allem Kommunisten wie der Schriftsteller Paul Nizan, denen Dabit eigentlich nahestand, verurteilten das Buch.
    Daran, dass Dabits Herz links schlug, ließ er in "Petit-Louis" keinen Zweifel, aber das politische Pamphlet verweigerte er. Der Glaube an eine Utopie, an die Möglichkeit eines besseren Lebens für die Unterprivilegierten fehlte ihm offenbar: Petit-Louis und seine Familie machen nach dem Krieg einfach genau so weiter wie zuvor. Und sie sind damit nicht unzufrieden.
    Eine Neuentdeckung nach fast 90 Jahren
    Der Roman ist wahrscheinlich gleich in doppelter Hinsicht zur falschen Zeit erschienen: Von Dabit, der doch das Leben der "kleinen Leute" aus nächster Nähe kannte, erwartete man in der politisch aufgeheizten Zwischenkriegszeit eindeutige Botschaften. Und Krieg als Thema für die Literatur war Anfang der 1930er Jahre, als das Buch erschien, längst uninteressant geworden.
    Wie gut, dass der Schöffling Verlag "Petit-Louis" nun auf Deutsch neu aufgelegt hat. Denn mit dem heutigen historischen Abstand lässt sich besser erkennen, worum es Dabit eigentlich ging und worin der "diskrete Charme" seines Romans besteht: Er erzählt vom Aufwachsen eines jungen Mannes aus proletarischen Verhältnissen. Nur zufällig findet dieses Aufwachsen im Krieg statt, so dass das Erwachsenwerden schnell und heftig verläuft. Im Grunde beschreibt Dabit mit viel Wärme, wie sich aus Petit-Louis nach und nach Louis herausschält.
    Eugène Dabit: "Petit-Louis"
    Roman, Schöffling & Co., 240 Seiten, gebunden, € 22,00