Archiv

Exilliteratur
Nachwuchs für die Keun-Heldinnen

Im Frühjahr 1936 hat die junge Schriftstellerin Irmgard Keun genug von Nazi-Deutschland, das ihre Bücher beschlagnahmt und als "schädliches und unerwünschtes Schrifttum" deklariert. Sie geht nach Belgien ins Exil. Von dort aus veröffentlichte sie "Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften". Ein Roman, der es verdient hat, jetzt wiederentdeckt zu werden.

Von Änne Seidel |
    Die Schriftstellerin Irmgard Keun (1905-1982) bei Dreharbeiten zur Verfilmung ihres Romans "Nach Mitternacht" in Berlin.
    Die Schriftstellerin Irmgard Keun (1905-1982) bei Dreharbeiten zur Verfilmung ihres Romans "Nach Mitternacht" in Berlin. (picture alliance / dpa)
    Wieder einmal ist Irmgard Keuns Heldin ein Mädchen. Nicht das kunstseidene diesmal, sondern die zehnjährige Tochter einer Kölner Kaufmannsfamilie. Sie lässt Keun in diesem Roman erzählen, vom Sommer 1918, von den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs. Das Mädchen bleibt zwar namenlos, ansonsten aber alles andere als anonym. Ganz weit hinein dürfen wir ihm folgen in seine herrliche Kinderwelt: Eine Welt voller Wasserbomben und Räuberhöhlen, voller Streiche und Klassenbucheinträge – aber auch eine Welt voller Fragen und Verwunderung über das merkwürdige Gebaren der Erwachsenen.
    "Ich möchte sterben. Wir haben ein neues Kind bekommen. Sie wollen mir erzählen, es käme vom Storch. Aber das glaube ich natürlich nicht, obwohl ich mir sage: Irgendwo muss so ein Kind ja her sein. Vielleicht wissen die Erwachsenen es selbst nicht genau. Ich weiß auch nicht, warum sie nun ausgerechnet einen Jungen haben wollten. Ich kenne Jungen wie Hubert Bulle, der niedlichen kleinen Schmetterlingen die Flügel ausreißt und keinen einzigen Klimmzug machen kann und vor Angst schreit und in den Stadtwaldgraben fällt, wenn ich ihn mal eben reinschubse. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass so ein Junge mehr wert sein soll als ein Mädchen."
    Aber wir schreiben nun mal das Jahr 1918 – die pädagogischen Vorstellungen sind alles andere als modern. Die Eltern versuchen verzweifelt, ihre Tochter "weiblich zu erziehen". Dazu gehört auch, ihr so langsam die Flausen auszutreiben und ihr Haltung beizubringen.
    "Jetzt haben sie mir einen Geradehalter gekauft. Ich bin ganz unglücklich (…) wenn ich ihn anhabe, kann ich nicht klettern und mich nicht bewegen, und die Riemen scheuern meine Schultern ganz rot. (…) Ich habe den lieben Gott gebeten, dass er nachts einen Einbrecher in mein Zimmer kommen lässt, der den Geradehalter stiehlt."
    Jede erzieherische Maßnahme bringt das Mädchen nur auf neue ungezogene Gedanken. Und damit ist es kein guter Umgang für die Artigen unter den Nachbarskindern. Schließlich erteilt ihm die verhasste Frau Meiser von nebenan sogar ein "Umgangsverbot".
    Das Mädchen ist eine typische Keun-Heldin: kess, selbstbewusst, unangepasst. Kindlich naiv, aber dabei gleichzeitig beeindruckend scharfsinnig. Die Parallelen zwischen der Figur und Irmgard Keun selbst liegen auf der Hand: Auch sie wuchs als Tochter einer Kaufmannsfamilie in Köln auf. Und es fällt nicht schwer, sich in der renitenten Zehnjährigen die junge Keun vorzustellen. Der Schriftsteller Hermann Kesten, den Keun im belgischen Exil traf, beschrieb sie einmal so:
    "Sie war naiv und brillant, witzig und verzweifelt, volkstümlich und feurig und kein Fräulein (…), mit dem man tanzen gehen wollte, sondern eine Prophetin, die anklagt, (…) ein politischer Mensch, der eine ganze Zivilisation verschlämmen sah. Alles an ihr sprach und lachte und höhnte und trauerte."
    Ein wichtiges Puzzle-Teil im Werk von Irmgard Keun
    Anders als viele ihrer männlichen Schriftstellerkollegen schrieb Keun im Exil keine komplexen Geschichtsromane. Sie fand ihren ganz eigenen Weg, um der unerträglichen Gegenwart zu entkommen: Keun floh in die fantasievolle Welt der Kinder. Nach dem "Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften" veröffentlichte Keun noch einen weiteren Roman aus der Sicht einer Zehnjährigen: "Kind aller Länder". Die Bücher erschienen damals in einem Amsterdamer Exilverlag, gerieten aber bald in Vergessenheit.
    Beide Bücher haben es unbedingt verdient, jetzt wiederentdeckt und wiedergelesen zu werden. Sie sind ein wichtiges Puzzle-Teil im Werk von Irmgard Keun. In Witz und Charme stehen sie ihren großen Erfolgen wie dem "Kunstseidenen Mädchen" in nichts nach. Und auch sie geben unter der heiteren Oberfläche den Blick frei auf die Abgründe der Gesellschaften der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sprechen auf ihre ganz eigene unbedarfte Weise scharfe Wahrheiten aus.
    "Um fünf Uhr morgens gingen Arbeiter und Arbeiterinnen zu dem Bahnhof, um in die Fabrik zu fahren. Die mit den grünen und gelben Gesichtern und Haaren sind immer aus Munitionsfabriken, da werden sie so, ich kenne viele."
    Im "Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften" beschreibt Keun eine Gesellschaft, in die langsam die Erkenntnis sickert, dass der Erste Weltkrieg vor allem eines gebracht hat: großes Leid. Nur laut sagen mag das eben keiner. Bis auf das Mädchen. Das hat schon lange alles begriffen: Im Krieg kommen nur langweilige Steckrüben auf den Tisch. Im Krieg muss man für leckere Marmelade so lange anstehen, bis man in Ohnmacht fällt. Im Krieg stirbt sogar der Zirkusbär an Mangelernährung. Wie kann Krieg da eine gute Idee sein?
    "Ich wünschte, der Kaiser würde Frieden machen. Ich schreibe es ihm, ein Kaiser kann alles, darum ist er doch Kaiser. (…) Ja, da müsste er doch machen können, dass auf allen Bäumen Weißbrote wachsen und der Rhein ein Fluss wird aus Marmelade und die Menschen auf einmal vier Arme bekommen, wenn ihnen ein Arm fortgeschossen wird, und dass die toten Soldaten wieder lebendig werden."