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Fachkräfteabwanderung
Braindrain hält in Polen an

1.000 Euro brutto ist das Durchschnittsgehalt in Polen. Dazu kommen hohe Mieten und Lebenshaltungskosten in den Metropolen. Kein Wunder, dass die Polen als auswanderfreudiges Völkchen gelten. Die Emigration von Fachkräften ist auch Thema im aktuellen Parlamentswahlkampf.

Von Florian Kellermann | 08.08.2015
    Die Universitätsbibliothek in Warschau/Polen
    Viele junge Polen studieren in Warschau und gehen dann ins Ausland. (imago / BE&W)
    Antonina sitzt vor dem Biologie-Gebäude und ruht sich aus. Der Campus der Naturwissenschaften im Warschauer Süden ist modern, ein neues Gebäude neben dem anderen, und auch das Studium sei auf höchstem Niveau, sagt Antonina. Die 22-Jährige studiert Biotechnologie - eine Zukunftswissenschaft. Sie kann sich einmal aussuchen, wo sie arbeiten will.
    Wird es Polen sein? Sie gibt die Frage an ihre Freundinnen weiter, die ein paar Meter abseits stehen. "Nein", sagte eine spontan, die andere: "Ich weiß noch nicht". Auch Antonina ist unschlüssig.
    Mit dem polnischen Abschluss ins Ausland
    "Wir waren vor Kurzem in Berlin und haben mal die Preise verglichen. Eine Wohnung zu mieten ist dort billiger als hier in Warschau. Dann war da in der U-Bahn ein Aushang: Leute werden für den Direktverkauf am Telefon gesucht - 13 Euro pro Stunde. Ich weiß nicht, ob ich in der Biotechnologie hier so viel verdienen werde. Da frage ich mich schon, ob es sich lohnt, mit einer solchen Qualifikation hier zu bleiben."
    Viele polnische Studenten denken so. Fast jeder zweite erwägt, nach dem Abschluss das Land Richtung Westen zu verlassen, hat gerade eine Umfrage ergeben. Dabei locken nicht alleine die höheren Gehälter. Westliche Firmen böten mehr Möglichkeiten, sich beruflich weiterzuentwickeln, gaben die Befragten an. Außerdem kritisierten sie die Unternehmenskultur in Polen: Sie erwarteten ein eher partnerschaftliches Verhältnis zwischen ihnen und den Arbeitgebern.
    Ein alarmierender Befund, sagt Piotr Palikowski von der Arbeitgeber-Organisation, die die Umfrage in Auftrag gab.
    "Mich hat das Ergebnis traurig gemacht, wir dürfen das nicht einfach hinnehmen. Nicht nur die Politik sollte auf diese Stimmung reagieren, sondern auch die Firmen. Unsere Mitglieder sind vor allem große Unternehmen, aber immer mehr Mittelständler kommen zu uns. Sie sagen, sie wollen ihre Mitarbeiter anders betreuen und suchen nach Spezialisten auf diesem Gebiet. Ihnen fehlt es an Fachkräften, bei manchen ist dadurch schon die Existenz bedroht."
    Emigrationswelle hält weiter an
    Polen gelten als besonders mobil. Nach dem EU-Beitritt 2004 wanderten sie in Scharen aus. Etwa 2,2 Millionen leben heute in anderen EU-Ländern. Am meisten gingen nach Großbritannien, gefolgt von Deutschland.
    Die jüngste Umfrage sorgte deshalb für so großes Echo, weil viele Forscher annahmen, die große Auswanderungsbewegung sei vorbei. So verließen 2013 nur noch etwa 70.000 Menschen das Land. Manche kommen sogar wieder zurück, so Agnieszka. Nach ihrem Studium im Fach Public Relations ging die 25-Jährige für ein halbes Jahr nach London. Sie hielt sich dort mit einem Job in einer Küche über Wasser.
    "Aber ich will eigentlich nicht bis an mein Lebensende Pommes frites braten, ich habe höhere Ambitionen. Deshalb bin ich wieder hier, ich will in meinem Beruf arbeiten. Leider habe ich bisher keine Stelle gefunden, noch nicht mal ein Praktikum. Wenn sich das nicht ändert, gehe ich zurück nach England. Denn bevor ich hier in der Küche stehe, tue ich es lieber dort, da trainiere ich wenigstens mein Englisch."
    Die Emigration ist natürlich auch ein Thema im laufenden Wahlkampf vor der Parlamentswahl im Oktober. Die Opposition hält der Regierung vor, dass sie nichts unternommen hat. Vor allem hätte sie für höhere Gehälter sorgen müssen, so der Vorwurf. Tatsächlich stieg das durchschnittliche Gehalt in den vergangenen Jahren schrittweise auf umgerechnet etwa 1.000 Euro brutto im Monat. Für viele Menschen geht der Anstieg aber nicht schnell genug - zumal die Unternehmensgewinne deutlich rascher zunahmen. So liegt der Anteil der Gehälter am Bruttoinlandsprodukt bei nur 45 Prozent. In Deutschland sind es zehn Prozentpunkte mehr.
    Aber nicht alle jungen Leute halten das Thema für so wichtig, wie es im Wahlkampf dargestellt wird. Piotr, der ebenfalls Biotechnologie studiert:
    "Ich fahre viel durch Polen und sehe, wie viele Autobahnen gebaut werden. Es geht doch voran bei uns. Wenn jemand ins Ausland geht, dann heißt das doch nicht, dass er nie mehr zurückkommt. Vielleicht kommt er mit ganz neuen, wertvollen Erfahrungen zurück und gründet selber eine Firma."
    Darüber denkt auch Antonina nach. Im nächsten Semester wird sie erst einmal bei einem Auslandsaufenthalt in Italien sein.