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Familiengenerationen-Roman
Kettenreaktion aus vererbtem Unglück

Den Leipziger "Fürstenhof", ein 5-Sterne-Hotel, gibt es wirklich, und er hat eine bewegte Geschichte. Der Romancier Christopher Kloeble greift sie in seinem Epos "Die unsterbliche Familie Salz" auf - und begibt sich damit, wie unser Rezensent meint, auf vermintes Terrain.

Von Florian Felix Weyh | 18.11.2016
    Symbolbild Generationen
    Christopher Kloeble liefert seinen Roman als eine einzige Abfolge ungelöster Schuldfragen und Familienkonflikte. (picture alliance / dpa / Jochen Lübke)
    110 Jahre alt wird kaum jemand. Es sei denn, man ist Lola Rosa Salz, eine literarische Figur, und arbeitet als Erzählbrücke. Erzählbrücken gehören zu den zentralen Infrastrukturelementen des Familiengenerationenromans – hier aus Effizienzgründen FGR genannt –, und für den FGR sind 110 Jahre (von 1905 bis 2015) genau die richtige Spanne. Was da alles unter den Lebensbrückenbogen passt: Kaiserreich, Erster und Zweiter Weltkrieg, DDR, BRD, Wiedervereinigung! Den FGR lieben deshalb das Publikum, der Buchhandel, die Buchpreisjurys (wichtig!), die Verlage und die Autoren.
    Kaiserreichhotel der Oberklasse
    Jeder will einen Familiengenerationenroman schreiben, je jünger, je schreibschuldiplomierter und erfahrungsärmer, desto größer der Drang danach. Denn die Formel des FGR lautet: "Geschichtsbuch plus eigene Familienüberlieferung plus Handwerk = Erfolg". Ersteres liest man, Mittleres kennt man, Letzteres hat man gelernt. Wenn dann im Falle Christopher Kloebles auch noch ein Schuss authentischen Großbürgertums hinzukommt – denn der Leipziger "Fürstenhof", ein Kaiserreichhotel der Oberklasse, war tatsächlich mal im Besitze seiner Familie –, kann es kein Halten geben: Das muss literarisiert werden!
    "Literarisiert" - das Wort kann viel oder wenig bedeuten. Häufig ist der Familiengenerationenroman gar keine oder keine große Literatur, sondern nur als umfangreiches Lesefutter konzipiert. Mit 440 Seiten an der Normuntergrenze, will Christopher Kloeble mit der "Unsterblichen Familie Salz" jedoch weitaus mehr, sozusagen den FGR+: Nicht die Menschen, sondern ihre Schatten interessieren ihn. Das passt gut zum Sachbuchtrend der letzten Jahre über Kriegsenkel, die sich unbewusst an den Schatten der Vergangenheit abarbeiten.
    Ungelöste Schuldfragen
    Als eine einzige Abfolge ungelöster Schuldfragen und Familienkonflikte – beginnend mit dem Muttermord einer Neunjährigen, über Selbstmorde, Verbrechen und Alkoholismus – beschreibt das Buch eine Kettenreaktion an vererbtem Unglück, bis hin zum frühen Krebstod der Enkelin Emma, deren Schattenblindheit – Achtung: Leitmotiv! – auf einen Tumor hinter den Augen zurückgeht. Da überschreitet der Autor zum Schluss die Grenzen zwischen metaphorischer und realer Welt, nachdem er zuvor über 440 Seiten auch dem blindesten Leser Schatten und Schattenlosigkeit als Referenz an die romantische Literatur aufs Auge gedrückt hat. FGR+ eben man kriegt einen Schmöker mit Meta-Ebene.
    Gekauft, verloren wiedergewonnen
    Doch ist das Buch wirklich ein Schmöker? Keineswegs. Es betreibt eine handwerklich durchaus gekonnte, aufwendige Kulissenschieberei, aber es erzählt nichts. Es stellt nur hin, die Menschen wie die Kulissen. In optischen Medien wie dem Film würde das schon genügen und wird dort zuhauf praktiziert: Man sieht die historischen Versatzstücke und fädelt sich als Zuschauer für anderthalb Stunden emotional ein. Im Roman, über Lesetage oder -wochen hinweg, funktioniert das einfach nicht: Alle historischen Umstände rund um das von der Familie Salz erst gekauften, dann verlorenen, wiedergewonnenen und schließlich erneut verkauften Leipziger Luxushotel bleiben überdeutlich als Geschichtsbuchwissen erkennbar.
    Fast nie ein Sprachwechsel
    Nirgendwo vermischen sie sich individuell mit Personen, und die Personen sind nicht sonderlich beeindruckend. Kloeble tritt dem Kriegsflucht-Vergewaltigungs-DDR-Erzählmainstream der letzten zwanzig Jahre bei. Auch der geläufige Kniff, die Kapitel von unterschiedlichen Protagonisten erzählen zu lassen, hilft kaum weiter, denn der Perspektivwechsel erzwingt fast nie ein Sprachwechsel, alles bleibt gleich temperiert. So wirkt "Die unsterbliche Familie Salz" wie mit der Feder eines geschickten Requisiteurs und Arrangeurs geschrieben.
    Nun kommt, zur Ehrenrettung des bislang durchaus erfolgreichen Autors, die Ausnahme: In der mittleren Generation der Familie Salz erträgt Ende der 50er-Jahre eine junge Frau die neurotischen Familienverstrickungen so schlecht, dass sie mit siebzehn in den Alkoholismus rutscht. Sie schreibt in der zweiten Person Singular ("Du") einen langen Brief an sich selbst und diese knapp 100 Seiten fortgeführt, wäre ein interessantes, ja ergreifendes Buch entstanden. Aber eben kein FGR, kein marktgängiger Familiengenerationenroman, sondern nur das sensible Porträt einer verzweifelten Frau.
    Erzählerischer Overkill
    Kloeble entscheidet sich stattdessen zum erzählerischen Overkill, indem er den Bogen wörtlich überspannt: 100 Jahre Vergangenheit reichen ihm nicht, er marschiert bis 2027 in die Zukunft hinein. Diese letzten Seiten dürfte allerdings kaum jemand zu Kenntnis nehmen, denn sie sind durchgängig in Versalien gedruckt, nur erträglich für Jünger oder Masochisten. Das freilich ist kein Mut-, sondern irregeleiteter Stilwille: Es spricht darin das Kind der am Hirntumor verstorbenen Enkelin Emma, und dieses will die tote Mutter mit "großen Buchstaben" erreichen. Wenn man solchen Überambitionen eines Autors folgt, muss man bei der ästhetischen Umsetzung im Verlag die Schriftgröße verändern, statt kaum lesbare Großbuchstaben in einer Kleinschrift zu wählen. Am besten aber wäre ein Lektorat, das Autoren vor Überambitionen bewahrt.
    Christopher Kloeble: "Die unsterbliche Familie Salz", DTV (Hardcover) 2016, 438 Seiten, 22 Euro.