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Fehlendes Spurenelement
Ann-Christin und das Mangan

Ann-Christin kommt mit einer Schädelverformung zur Welt, kurz darauf leidet sie auch unter Epilepsie. Die Ärzte stehen vor einem Rätsel. Es dauert, bis das Team im Uniklinikum Münster herausfindet, was Ann-Christin fehlt: Mangan, ein molekularer Schraubenschlüssel, um Eiweiße und Zucker korrekt zusammenzubauen.

Von Thomas Liesen | 13.12.2016
    Universitätsklinik Münster, Zentralklinikum, Schild zu Geburtshilfe/ Kreissaal. 16.05.2014.
    Hier an der Universitätsklinik Münster kämpft Ann-Christin um ihr Überleben, bis die Ärzte herausfinden, was ihr fehlt: Mangan, ein seltenes Spurenelement. (imago / Rüdiger Wölk)
    Ann-Christin erblickt im September 2014 das Licht der Welt. Die Geburt verläuft normal, fast alles scheint in Ordnung. Nur der Kopf der Kleinen ist seltsam deformiert.
    "Der Oberarzt von der Kinderklinik hat schon hingeguckt: 'Hm. Gefällt mir nicht. Aber man ein Auge drauf behalten, vielleicht ist es harmlos.'"
    Erzählt Yvonne Möller, Ann-Christins Mutter. Es kann sein, dass die Schädelnähte bisher unregelmäßig zusammengewachsen sind und sich nach ein paar Wochen alles normalisiert.
    "Die nächsten Monate war sie dann zuhause, war auch alles so weit gut, sie aß, sie trank – aber es war alles langsam."
    Und wenn Yvonne Möller andere Mütter mit ihren Kindern trifft, dann fällt ihr auf: Ann-Christin ist anders.
    "Sie fing nicht an zu spielen. Andere Kinder fangen mit ein paar Wochen an, zu spielen. Dass sie auch mal auf eine Rassel reagieren, dass sie der Rassel folgen, dass sie versuchen, danach zu greifen. Dieses Säuglingslächeln, das blieb alles aus."
    Und auch der Kopf bleibt deformiert. Ärzte raten den Eltern zu einer Operation, ein schwerer Eingriff, denn der Schädel muss geöffnet werden, um die Knochenplatten zu richten.
    EEG von Ann-Christin außer Kontrolle
    Die Neurochirurgin veranlasst zur Kontrolle vorab ein EEG, Ann-Christins Hirnströme sollen gemessen werden. Das Ergebnis trifft die jungen Eltern völlig unvorbereitet.
    "Wir waren einfach nur geschockt, wir haben bitterlich geweint. Ein normales EEG hat so leichte Wellen, aber ihres war komplett übergedreht. Das war komplett schwarz. Selbst ich als Laie wusste: Da ist was faul."
    "Ausgeprägte Ausschläge und Zacken in einem EEG deuten auf eine Anfallsbereitschaft hin, das, was sie als Epilepsie kennen, was auch mit Zuckungen einhergeht, das ist auf jeden Fall ein Ausdruck dessen, dass das Gehirn krank ist."
    Prof. Thorsten Marquardt, Kinderarzt vom Uniklinikum Münster. Epilepsie – eine Hiobsbotschaft. Das EEG fällt so dramatisch aus, dass die Ärzte sofort die Aufnahme in die Klinik veranlassen.
    Erstickungsanfälle quälen Ann-Christin
    "Wir sind am 12. Mai hier in der Uniklinik aufgenommen worden und waren dann bis auf Weiteres hier, weil die ersten Anfälle sofort nach ein paar Tagen auftraten und auch in einer Dramatik, dass es sich auch sehr schnell verschlechterte."
    Ann-Christin krampft stark, ihr ganzer Körper wird extrem erfasst, sogar die Atmung setzt aus. Sie droht zu ersticken.
    "Die Oberärztin, wo wir auf der Station waren, hatte uns schon zur Seite genommen."
    Sie müssen mit dem Schlimmsten rechnen, hören die Eltern. Doch was steckt eigentlich hinter all dem Unglück? Die Ärzte stehen vor einem Rätsel. Keine bekannte Krankheit passt zu diesen Symptomen: Schädelverformung, Epilepsie. Obendrein ist sie fast taub und blind, wie mittlerweile klar ist. Die Ärzte aus der Neurochirurgie nehmen dem Mädchen Blut ab und schicken es zu ihrem Kollegen Thorsten Marquardt. Er ist Spezialist für Stoffwechselerkrankungen. Vielleicht kommt er der Ursache von Ann-Christins Problemen auf die Spur.
    Im Blut fehlen Zuckermoleküle
    "Ich habe sie praktisch durch eine Blutprobe im Labor kennengelernt und gesehen, dass an der Blutprobe etwas nicht in Ordnung war und bin dann auf die Station gegangen, wo sie war und da haben wir uns kennengelernt."
    Torsten Marquardt stellt fest: Im Blut fehlen offenbar Zuckermoleküle. Das kommt bei einigen seltenen Stoffwechselerkrankungen vor. Er besucht Ann-Christin, um sich ein genaueres Bild zu machen. Und er findet ein Kind vor, dass offenbar sehr leidet.
    "Sie war total unleidlich und hat geweint und geschrien. Das war auch schon für jemand Außenstehenden wie mich einfach eine Situation, die schwer auszuhalten war."
    Ihm ist sofort klar: Das Mädchen kämpft ums Überleben. Und ihr ganzes Bündel an schweren Symptomen passt nicht zu seiner Vermutung, dass ein gestörter Zuckerstoffwechsel dahinter steckt.
    "Als wir dann auf der Station uns kennengelernt haben, da war bei Ann-Christin ein Bild, was ich so noch nie gesehen habe."
    "Und dann ist er noch mal in ihr Blut rein gegangen. Und dann wurde es richtig spannend."
    Thorsten Marquardt veranlasst eine sehr aufwendige Untersuchung: Mithilfe eines Massenspektrometers sollen die Molekülstrukturen im Körper des Mädchens genauestens untersucht werden. Das Ergebnis: Tatsächlich fehlt ein typischer Baustein für Eiweißmoleküle völlig. Es ist der Milchzucker Galaktose, er ist Teil von Zuckerstrukturen, die wiederum Teil vieler Eiweiße sind. Der Arzt durchforstet nun weltweit die Datenbanken nach möglichen vergleichbaren Fällen. Vergeblich.
    Kein Fehler im Erbgut
    "Dann kommt die moderne Hochleistungsmedizin. Und was wir dann gemacht haben: Wir haben aus einer Blutprobe des Kindes Buchstabe für Buchstabe die gesamte Erbinformation ausgelesen."
    25.000 Gene werden sequenziert. Doch zur Enttäuschung des Arztes findet sich kein Fehler in der Sequenz, nirgends. Aber irgendein Buchstabe in ihrem Erbgut muss falsch sein. Bloß welcher? Thorsten Marquardt schafft es, international Helfer zu rekrutieren.
    "Es ging plötzlich alles so rasend schnell. Es hieß: Ihr Blut geht jetzt gerade per Flugzeug nach Tokio. Belgien hat uns einen Tipp gegeben. Die Schweiz macht mit. Die ganze Welt half unserem Kind. Alle wollten herausfinden: Was hat unsere Tochter? Also es war fantastisch. Wir haben uns so sehr gefreut."
    "Da sind wir hier hingekommen. Und Prof. Marquardt hat gesagt: Wir wissen, was ihre Tochter hat. Wir haben es gefunden. Sie hat jetzt eine Chance."
    Lösung durch Geistesblitz im Ärzte-Team
    Einer im Team kommt letztlich durch einen Geistesblitz auf die Lösung: Vielleicht fehlt einfach nur ein molekulares Werkzeug, das benötigt wird, damit Eiweiße und Zucker korrekt zusammen gebaut werden. Eine Art Schraubenschlüssel.
    "Und dann haben wir recherchiert, was gebraucht wird und haben gesehen: Dieser Schraubenschlüssel ist Mangan."
    Ein seltenes Spurenelement, was jeder braucht. Die Ärzte prüfen den Mangangehalt in Ann-Christins Blut.
    "Und dann haben wir gesehen: Sie hat kein Mangan, überhaupt nicht messbar. Und dann wussten wir, dass wir auf der richtigen Spur sind."
    Thorsten Marquardt beginnt sofort mit einer Therapie. Er verabreicht Ann-Christin Mangan, wohl wissend, dass dieses Spurenelement schon eine geringe Überdosierung sehr giftig wirken kann. Langsam erhöht er die Dosis Tag für Tag. Es wirkt Wunder. Das kleine Mädchen erholt sich, langsam. Keine Krampfanfälle mehr, sie legt an Gewicht zu, sie fängt an zu spielen. Sie brauchte einfach nur Mangan. Und sie ist der weltweit erste Fall mit dieser Erkrankung.
    Manganpulver fünf mal täglich
    "Wir kriegen das als Pülverchen und lösen das dann abends in Wasser auf und kriegt die Kleine das in fünf Portionen täglich von uns."
    Zwei Jahre ist Ann-Christin nun alt. Yvonne Möller ist jeden Tag aufs Neue dankbar, dass ihre Tochter lebt. Und große Fortschritte macht.
    "Die Ärzte haben uns wirklich gesagt, Fachleute: Ihr Kind wird nie wieder essen und trinken. Unser größtes Problem ist aktuell, sie sattzukriegen, denn wenn es nach ihr ginge, isst sie den ganzen Tag."