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Feiern auf dem Baum

In Oberfranken pflegen die Dorfbewohner ganz besondere Linden: Über Jahrhunderte wurden Linden "geleitet", das heißt mit Stufen versehen. Weil auf den künstlichen Plateaus sogar gefeiert werden kann, heißen die Bäume auch "Tanzlinden".

Von Franziska Buhre | 29.09.2013
    "Wir sind jetzt in der Dorferneuerung drin. Und der Platz um die Linde drum ist eigentlich schon mit vorgesehen, aber jetzt kommt es darauf an, ob die Gemeinde ein wenig Geld hat weil das Privatbesitz ist, ne. Meiner und Nachbar. Früher waren das einmal Geschwister, und da haben die da unten einen Bauernhof gehabt und wir da oben und da haben die das Privatbesitz gemacht, dass wir mit dem Heuwagen ‘rein fahren können so rum und so rum und die auch, nun ist das Gemeinschaftsgrundstück, da steht halt die mittendrin."

    Joachim Roppelt zeigt auf die beiden Wege, die ober- und unterhalb der Sommerlinde zu seinem Hof und dem des Nachbarn führen. Der üppig grünende Baum steht auf einer kleinen Anhöhe in Wichsenstein, einem Dorf im Landkreis Forchheim inmitten der Fränkischen Schweiz. Ein quadratisches, gemauertes Plateau sichert den Untergrund für das alte Holzgerüst, auf dessen Balken dicke und weit ausladende Zweige ruhen.

    "Bis vor 15 Jahren waren da noch Tische und Bänke da haben die Leute gesessen und ihr Bier drunter getrunken. Das war halt immer so. Die Großeltern, Eltern da, die Nachbarn hat nie einer was gesagt. Sag ‘mer mal vor dreißig Jahren, da haben immer bloß zwei Paare hinauf gedürft, auch um nichts kaputt zumachen, ne."

    Dass auf einer Plattform in der Linde getanzt wurde, weiß Landschaftsgärtner Joachim Roppelt aus Erzählungen älterer Dorfbewohner. Als Kind reckte er sich aus dem Fenster im ersten Stock seines Elternhauses nach ihren Blättern, heute sitzt er jeden freien Abend vor dem Haus und freut sich an ihrem Anblick. Tatsächlich strahlen Linden eine Mischung aus unbekümmertem Wachstum und altehrwürdiger Geschichte aus. Man staunt über den enormen Aufwand, den Dorfbewohner in Oberfranken zur Erhaltung und festlichen Inszenierung ihrer Linden betreiben.

    Der Posaunenchor von Peesten, einem Dorf nahe Kulmbach, begleitet am Kirchweih-Sonntag den Gottesdienst, der in über zwei Meter Höhe auf dem Plateau der Peestener Tanzlinde gefeiert wird. Der 87 Quadratmeter große Baumsaal besteht aus der "Bruck", wie die Bretter des Tanzbodens hier genannt werden, und einer kunstvollen, würfelförmigen Holzkonstruktion.

    Erstmals schriftlich erwähnt wurde die Holzkonstruktion im Jahr 1657, über hundert Jahre später wurden die zwölf stützenden Sandsteinpfeiler angelegt. Weil sie die Lasten der Bruck und der Menschen im Baumsaal tragen, sind die Zweige der Linde entlastet.

    Die geführten Zweige schmücken die Seiten des grün gestrichenen Eichenfachwerks aus und umrahmen die Fensteröffnungen, die Zweige des zweiten Astkranzes bilden mit den oberen Holzbalken ein Laubdach.

    1947 waren die alte Peestener Tanzlinde und das marode Gerüst entfernt, vier Jahre später aber ein neuer Baum gepflanzt worden. Die historische Wendeltreppe aus Sandstein aber führte lange Zeit nach oben ins Leere. Ein schmerzhafter Anblick – nicht nur für Helga Dressel.

    Die Anwohnerin der Linde und Mitgründerin des Förderkreises Tanzlinde Peesten hat sich gemeinsam mit anderen Mitstreitern und einer großen Schar freiwilliger Helfer unermüdlich für den Aufbau der historischen Konstruktion eingesetzt. Zum 50. Geburtstag der Linde im Jahr 2001 und nur zwei Jahre nach Gründung des Förderkreises konnte das neue Tanzplateau festlich eingeweiht werden. Helga Dressel kümmert sich nach wie vor um Erhaltung und Pflege dieser europaweit einmaligen Verbindung von Natur und Architektur.

    "Die wird also das ganze Jahr geschnitten, Sie sehen hier die Äste, die Schnüre wo alles angebunden wird. Heuer hatten wir einen Steiger, wo dann jemand oben war und hat den ganzen Nachmittag die Krone geschnitten, damit ungefähr wieder die historische Form erreicht wird. Die wirkliche erreichen wir nie mehr, die akkurate Kubus-Form mit den kleinen Dächlein obendrauf aber ich denke, ein Baum ist auch etwas Natürliches und es ist halt die Andeutung der historischen Tanzlinde, die wir jetzt haben, aber das ist sehr viel Arbeit."

    Im Lindensaal am Holzgeländer oder mit dem Rücken am Baumstamm zu sitzen ist ein unvergleichliches Gefühl: Man ist gleichzeitig drinnen und draußen, über dem Boden und unter der Baumkrone, man spürt sich atmen, kann das Wachstum der Linde aber nur erahnen – in einem Jahr wächst ihr Umfang um ungefähr dreieinhalb Zentimeter.

    Der Tanz auf der Linde ist der Höhepunkt der Kirchweih in Peesten. Die fünf Kerwaburschen in weißen Hemden tragen außer den schwarzen Hüten, Westen und Hosen noch eine weiße Schürze um die Hüften, ihre Madla mit Blumenkränzen im Haar tragen zeitgenössische ländliche Trachtenkleider. Vom Umzug durchs Dorf auf der Linde angekommen, tanzen sie einen "Rheinländer" und einen "Hopperer" rund um den Baumstamm. Schaut man ihnen dabei zu, ist schwer vorstellbar, dass die Kirchweih in Peesten 37 Jahre im Dornröschenschlaf lag, bevor sie 2003 wieder belebt wurde.

    Die Linde, die Menschen nahe bei sich empfängt, hält sie auch zur Traditionspflege an.

    Im Landkreis Lichtenfels liegt Isling, ein Dorf mit knapp 400 Einwohnern, von denen 52 im Musikverein aktiv sind. Der besteht seit über 200 Jahren und lädt andere Blaskapellen alljährlich am letzten Wochenende im Juli zum Lindenfest ein.

    "Die Jugend hier im Dorf ist auch stolz auf diesen Baum hier, muss man sagen, sonst hätten wir nicht so viele freiwillige Helfer unter 18 Jahren, die sagen, Lindenfest jawoll, da freue ich mich schon wieder drauf."

    Oliver Mahr ist Vorstand der Islinger Musikanten und trägt, wie alle seine Kollegen, die Linde an der Brust: Die dunkelgrüne Weste mit feiner Musterung ziert deutlich sichtbar das Emblem mit der zweistufigen Linde auf rotem Grund. Der echte Baum steht auf dem höchsten Punkt des Marktplatzes. Die Zweige des ersten und zweiten Astkranzes sind nach außen gezogen und liegen um den Stamm herum auf einem kreisrunden Baustahlgewebe, darüber schwebt die Baumkrone. Bis Ende des 19. Jahrhunderts soll auf der ersten Plattform im Baum getanzt worden sein, über den Tanzenden saßen die Musiker auf der zweiten Plattform. So stolz sind die Islinger auf ihre alte Linde, dass sie ihr eine eigene Strophe des Oberfrankenliedes widmen:

    "Wo den Marktplatz ziert ein alter Lindenbaum
    Wo man Goldesruhm erlebte wie im Traum
    Wo am Abend fröhliche Musik erklingt
    Liegt das Dörfchen Isling wo man lacht und singt"

    "Die Islinger Tanzlinde war eine Gerichts- und eine Tanzlinde; hier wurden auch Gerichte abgehalten, also spielt Trauer und Fröhlichkeit eine ganz große Rolle in der Geschichte dieses Baumes. Dieser Baum ist ungefähr 800 Jahre alt – man sagt Linden kommen 300 Jahre, bleiben 300 Jahre und gehen 300 Jahre. Es wäre schon fast am Zenit, dass man sagt, dieser Baum geht, aber man hofft und man wünscht sich, dass er noch viele Jahre unsere Jugend im Dorf, die ihn auch gerne mag, annimmt, wo sie sich gerne niederlassen, manchmal Musik spielen, manchmal singen, schön diskutieren – das dieser Baum noch lange der Jugend und der Bevölkerung erhalten bleibt."

    Roland Lowig ist Sprecher von Isling und kommunalpolitisch aktiv, er ist Ortschronist und Geschichtenerzähler. Seiner Initiative und der Pflege des Obst- und Gartenbauvereins ist es zu verdanken, dass der Platz unter der Linde so einladend gestaltet ist: Man sitzt leicht erhöht auf gemauertem Untergrund, zwischen den Stützbalken haben rund um den Baum Bierbänke und -tische Platz. Die Linde erstrahlt zum Fest im bunten Schein farbiger Glühlampen, auf der Bühne schräg vor der Linde sorgen am Samstagabend die "Stadelhofner" für Stimmung.

    Gespielt wird traditionelle Blasmusik aus den historischen Regionen Böhmen und Mähren, und natürlich aus Franken. In munterer Reihenfolge erklingen Polkas, Walzer und Märsche, immer wieder wird das "Prosit" mit dem Publikum angestimmt. Musiker gehen durchs Publikum und spielen auf den Biertischen, später am Abend sind volkstümliche Schlager mit Gesang zu hören – für das erste Gastspiel beim Lindenfest in Isling hat der Musikverein Stadelhofen eine perfekte Show einstudiert.

    In der Region Lichtenfels gibt es so viele Blaskapellen, dass die Islinger Musikanten jedes Jahr andere Ensembles einladen können. Viele der Islinger spielen sowohl heitere weltliche Musik als auch geistliche Musik zu religiösen Anlässen.

    Nach Gottesdienst und Frühschoppen am Sonntag des Lindenfestes ist der Musikverein aus Hochstadt am Main zu Gast in Isling. In der drückenden Nachmittagshitze erweist sich die Bühne als zu heiß für das Konzert. Kurzerhand ziehen die Musiker in den Häuserschatten an der Linde um und richten ihr Spiel zum Baum hin aus.

    Musik ist eine Zeitkunst: Den Anfang, Verlauf und Ende eines Musikstücks können wir uns hörend erschließen. Ein alter Baum hingegen übersteigt unsere Vorstellungskraft von Zeit und genau das zieht viele Menschen in seinen Bann. Die winzige Spur eines wachsenden Millimeters unter einer Linde zu verbringen, kann zugleich nachdenklich stimmen über die Vergangenheit und dazu einladen, den Moment einfach zu genießen. Man beginnt zu verstehen, warum die Menschen in Oberfranken "ihre" Linden in der Gegenwart mit Musik, Tanz und festlichem Beisammensein ehren: um die Bäume als genügsame Zeugen der Bande zwischen den Generationen zu bewahren.