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Flucht vor Boko Haram
Hungerkatastrophe im Tschadsee-Becken

In mehreren westafrikanischen Ländern spielt sich derzeit eine humanitäre Katastrophe ab. Millionen Menschen in Nigeria, Tschad, Kamerun und Niger wurden durch die Gewalt der Terrormiliz Boko Haram vertrieben. Jetzt droht ihnen der Hungertod, weil sie nicht oder nur unzureichend versorgt werden können.

Von Alexander Göbel | 24.10.2016
    Nigeria: Ein Opfer eines Boko-Haram-Überfalls im Bundesstaat Borno in Nigeria, baut einen neuen Zaum um sein abgebranntes Haus herum.
    Die radikalislamische Terrormiliz Boko Haram hat die Existenz vieler Menschen zerstört, ihre Dörfer angezündet. (picture alliance / dpa / Stringer )
    Ein Flüchtlingscamp in der Nähe von Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaates Borno, im Nordosten Nigerias. Es ist ein Camp von vielen, in denen rund zwei Millionen Menschen gestrandet sind. Menschen, die mit dem nackten Leben dem Boko Haram-Terror entkommen konnten.
    Kinderarzt Marco Olla von der Organisation Ärzte ohne Grenzen kümmert sich um völlig unterernährte Kinder wie den zweijährigen Abdollahi. Der Junge ist kaum noch bei Bewusstsein, er atmet flach, seine Arme und Beine sind dünn wie Zweige. Wahrscheinlich, sagt der Arzt, werde auch dieses Kind es nicht schaffen. "Viele Menschen, die wir hier behandeln, sind sehr krank. Die Patientinnen und Patienten in unserer Station sind alle in einem kritischen Zustand. Sie haben infizierte Wunden, Lungenentzündungen, Malaria und schweren Durchfall."
    Nach dem Terror folgt der Hunger
    Viele Menschen, die völlig entkräftet in den Camps ankommen, mussten sich monatelang von Gras und Heuschrecken ernähren. Boko Haram hat ihre Existenz zerstört, hat unzählige Dörfer angezündet, Brunnen vergiftet, Ernten geplündert, Felder vermint. Wer den islamistischen Terror überlebt hat, könnte nun an Hunger sterben. Frauen können ihre Kinder nicht mehr stillen, weil ihre ausgezehrten Körper keine Muttermilch mehr produzierten. Aus Sicherheitsgründen wurden Impfkampagnen schon vor Jahren eingestellt - nun ist sogar Polio zurück – die tödliche Kinderlähmung. Bamidele Omotola vom Kinderhilfswerk UNICEF findet eigentlich keine Worte mehr für das, was er hier jeden Tag erlebt.
    "Das letzte Mal, dass wir solche schweren Krankheitsbilder hatten, das war während des Bürgerkriegs in Nigeria, Ende der 60er-Jahre. Als der Krieg vorbei war, flohen die Menschen aus ihren Dörfern hinter der Front – damals, da gab es sehr, sehr schlimme Fälle."
    Es sei heute schlimmer als damals, sagt Omotola. Viele seiner Kollegen sehen das so. In den Camps rund um Maiduguri können Helfer zwar arbeiten – aber es bleibt extrem gefährlich, nach wie vor kommt es zu Selbstmordattentaten in der Stadt. Nahrungsmittel und medizinische Versorgung reichen hinten und vorne nicht. Die Preise steigen, auch wegen der Rezession in Nigeria. Aus lauter Not prostituieren sich immer mehr Frauen – um auf den Märkten Essen kaufen zu können. Niemand weiß genau, wie viele Menschen noch in die Camps kommen, wie viele in umkämpften Regionen noch eingeschlossen und von jeglicher Hilfe abgeschnitten sind. Javed Ali Baba, Koordinator für medizinische Notfälle bei Ärzte ohne Grenzen:
    "Immer noch ist mehr als die Hälfte dieses riesigen Gebietes für uns nicht erreichbar – es ist zu gefährlich oder die Armee lässt uns nicht hin – aber da warten sehr viele Menschen auf Hilfe, die sie dringend brauchen!"
    Nigerias Armee hungert ganze Dörfer aus
    Bedrohlicher wird ihre Lage auch deshalb, weil Nigerias Armee dafür sorgt, dass niemand mehr flieht: Die Soldaten vermuten Boko-Haram-Kämpfer unter den Zivilisten – und hungern ganze Dörfer aus. "Starve to Death" heißt diese Strategie, und ihr könnten Hunderttausende Unschuldige zum Opfer fallen. UNICEF warnt, dass bald mehr als 75.000 Kinder an Hunger und den Folgen von Unterernährung sterben könnten - allein in den Bundesstaaten Borno, Yobe und Adamawa. Die stille Katastrophe bedroht jedoch längst die gesamte Region rund um den Tschadsee – also auch Nigerias Nachbarstaaten Niger, Kamerun und Tschad. Beschleunigt wird die Nahrungskrise durch den Klimawandel: Der riesige Tschadsee trocknet immer weiter aus, Landwirtschaft ist schon jetzt kaum noch möglich. Jan Eliasson, der stellvertretende Generalsekretär der Vereinten Nationen, hatte schon im Frühsommer gewarnt:
    "Im Tschadsee-Becken sind über neun Millionen Menschen dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen, mehr als sechs Millionen haben nicht genug zu essen. Zivilisten wurden getötet, Häuser wurden angezündet, Besitz wurde geplündert, Existenzgrundlagen wurden zerstört. Ich sage das in aller Deutlichkeit: Die Verbrechen, die im Tschadsee-Becken begangen wurden und werden, könnten mit ihren katastrophalen Folgen das Sozialgefüge der gesamten Region zerstören - auf Generationen hinaus."
    Die Medien befassen sich eher mit dem sinkenden Ölpreis
    Ein Drama mit Ansage – doch es spielte bislang keine große Rolle. Weder in Nigerias Medien, die sich eher mit dem sinkenden Ölpreis und der Rezession befassen, noch in der internationalen Öffentlichkeit. Kashim Shettima, Gouverneur von Borno, lässt seinem Frust freien Lauf.
    "Das ist unsere Tragödie hier: Die humanitäre Lage ist mindestens so schlecht wie in Syrien. Aber uns schenkt die Welt keine Beachtung. Vielleicht wacht der Westen aus seinem Tiefschlaf auf, wenn noch mehr Menschen über das Mittelmeer und Griechenland nach Europa kommen. Wir stehen hier vor riesigen Herausforderungen. Und wir brauchen alle Hilfe, die wir kriegen können, um überhaupt aus dem Gröbsten heraus zu kommen."
    Um Zehntausende vor dem Hunger zu retten, wären nach Berechnungen der Vereinten Nationen mindestens 650 Millionen Euro nötig. Bislang steht den Helfern weniger als ein Drittel davon zur Verfügung. Dabei war die Hungerkrise sogar Thema bei der UNO-Generalversammlung im September. Nach wie vor sei es schwer, Nothilfe-Gelder für die Region aufzutreiben, klagt das Kinderhilfswerk UNICEF. Makil haust mit seiner Familie in einem Camp nahe Maiduguri. Die Welt habe die Opfer von Boko Haram vergessen, sagt er. Erst die 20.000 Terror-Toten, und jetzt diejenigen, die ums Überleben kämpfen.
    "Wir haben große Angst. Drei, nein, fünf Menschen habe ich hier gerade erst sterben sehen. Sie waren aus ihren Dörfern geflüchtet, sie hatten nichts, und sie waren schon sehr schwach, als sie hier ankamen. Niemand hier konnte ihnen noch helfen, denn hier reichen die Nahrungsmittel ja auch hinten und vorne nicht. Dann sind sie gestorben. Zwei Kinder waren dabei. Sie sind einfach alle verhungert."