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Flüchtlingspolitik
Grenzschließung ist keine Lösung

Durch die Abschottung Europas werde Asylsuchenden der legale Weg nach Europa verschlossen, kritisierte Elias Bierdel, Vorstand der Hilfsorganisation Borderline Europe, im DLF. Die Maßnahmen führten nur dazu, dass die Routen nach Europa noch gefährlicher würden. Der Bundesregierung gab er eine Mitschuld an den vielen ertrunkenen Flüchtlingen im Mittelmeer.

Elias Bierdel im Gespräch mit Peter Kapern |
    Flüchtlinge versuchen, aus einem Boot auf die Insel Lesbos zu gelangen.
    Auf der Insel Lesbos kümmert sich die Organisation Borderline Europe um gestrandete Flüchtlinge (dpa/picture-alliance/Katia Christodoulou)
    Peter Kapern: "Wir werden den Flüchtlingen auf dem Weg durch unser Land helfen." Das war der Satz, den Kroatiens Ministerpräsident Zoran Milanovic heute Früh gesagt hat. Soll heißen: Auch wir wollen die Menschen nicht aufnehmen, sondern weiterleiten nach Norden, nach Österreich, Deutschland und Schweden. Ein Regierungschef als Schleuser, und da ist er ja nicht der einzige. Viktor Orbáns Versuch, die Flüchtlingskrise durch den Bau eines Zauns zu beenden, ist binnen Stunden gescheitert. Die ungarische Grenze zu Serbien ist weitgehend dicht. Kleineren Gruppen von Flüchtlingen allerdings gelingt es immer noch, hindurchzukriechen durch den Zaun, und dann werden sie auf der anderen Seite von der ungarischen Polizei aufgegriffen, und andere wiederum weichen aus Richtung Rumänien, wo Zaunkönig Orbán nun ebenfalls eine Grenzbefestigung vorbereiten lässt, oder eben Richtung Kroatien.
    Folgen wir der Balkanroute in umgekehrter Richtung, also nach Süden. Bevor sich die Flüchtlings-Tracks auf den Weg durch die Balkan-Staaten machen, passieren sie die griechische Hauptstadt Athen. Zu Tausenden kampieren sie dort derzeit auf Plätzen und in Parks und bekommen mit, dass es nicht mehr so einfach ist, nach Deutschland zu kommen, wie noch vor wenigen Tagen.
    Die Flüchtlinge sind mit Fähren nach Athen gebracht worden, von den griechischen Inseln nahe der türkischen Küste. Vor allem die Insel Lesbos ist ja ihr erster Zielpunkt in Europa, ihr erste Station. "Proti Stassi", so heißt erste Station auf Griechisch und so heißt auch ein Hilfsprojekt der Organisation Borderline Europe auf der Insel Lesbos. Und genau dort erreichen wir Elias Bierdel, Vorstand von Borderline Europe und viele Jahre lang mein Kollege hier im Deutschlandfunk. Elias, was wissen die Flüchtlinge auf Lesbos über die Entwicklungen auf dem Balkan und in Mitteleuropa in den letzten Tagen? Was wissen Sie von Zäunen und Grenzschließungen?
    Elias Bierdel: Peter Kapern, ich muss jetzt einfach beschreiben, was ich im Moment hier vor Augen sehe. Das konnten Sie ja auch vorher nicht wissen. Hier läuft gerade eine Rettungsaktion. Ein privates Segelschiff hat hier in der Meerenge zwischen der türkischen Küste - wir sehen drüben die Minarette blitzen, das sind nur etwa zehn Kilometer hier von Europa nach Asien - hat in dieser Meerenge ein Flüchtlingsboot aufgenommen, das offenbar einen Motorschaden hatte, eines dieser völlig überfüllten Schlauchboote. Jetzt im Moment ist ein Rettungsboot der norwegischen Küstenwache dazugekommen, was hier im Rahmen eines Frontex-Einsatzes unterwegs ist. Und was soll ich Ihnen sagen? Die ziehen jetzt gerade in diesem Moment das Schlauchboot mit vielleicht 40, 50 wahrscheinlich afghanischen oder syrischen Männern in diesen Hafen herein. Die Männer hinten auf dem Schlauchboot, die lachen, die klatschen, die jubeln, die bedanken sich bei ihren Rettern, und hier am Ufer und im Hafen stehen bereits Touristen und Einheimische, die ebenfalls klatschen, applaudieren. Das ist ein wirkliches "Welcome to Europe"-Gefühl hier und das ist natürlich noch jenseits jeder Wahrnehmung von dem, was sich da zusammenbraut und was Sie jetzt hier angesprochen haben. Hier herrscht pure Euphorie auf diesen Booten, immer noch bei den Ankünften. Die Menschen haben ein gewaltiges Abenteuer überstanden, so ist ihre Wahrnehmung. Ich sehe gerade, einer der Männer ist offenbar ins Wasser gefallen. Er hängt außenbords und lässt sich jetzt so hineinschleppen in den Hafen. Vielleicht hören Sie die Stimmen sogar, den Applaus, den Jubel, ganz, ganz große Freude auf beiden Seiten hier. Aber so geht es natürlich nicht weiter und natürlich nimmt man hier auch wahr - das werden diese, die hier gerade ankommen, erst in den nächsten Stunden erfahren -, dass der Weg, der sie weiterführt nach Europa, auf jeden Fall beschwerlicher wird.
    Ohne Registrierung kein Verlassen der Insel
    Kapern: Nun sind es ja auf Lesbos nicht nur diejenigen, die gerade in diesem Moment ankommen, sondern auch die vielen, vielen möglicherweise Tausende, die darauf warten, weiter aufs griechische Festland gebracht zu werden mit den Fähren, von denen ich eben gesprochen habe. Dort hat sich das schon herumgesprochen, dass die Grenzen nun doch, sagen wir mal, weitgehend dicht sind.
    Bierdel: Die Menschen, die wir hier antreffen, um die wir uns auch versuchen zu kümmern hier mit unserem Projekt "Proti Stassi", das sind welche, die zunächst einmal ins Nichts fallen. Die kommen hier an, okay, in diesem Hafen hier geht's ja noch, aber die anderen, die an der Küste anlanden, da ist einfach nichts. Da ist keine staatliche Struktur, da gibt es keine andere Hilfe für sie. Die muss man erst mal versorgen, ihnen bestimmte Informationen weiter vermitteln, und dazu gehört natürlich auch, ihnen klar zu sagen, wie das Prozedere hier verläuft. Alle müssen in die Inselhauptstadt gebracht werden nach Mytilene. Das geschieht hier ebenfalls mit Bussen. Und da ist das erste Nadelöhr die Registrierung. Es darf hier niemand diese Insel verlassen, so ist es zumindest in der Theorie, der nicht ordnungsgemäß registriert worden ist, was immer das im Einzelnen in Griechenland in dieser Situation heißen mag. Nach der Registrierung geht es dann weiter.
    Die Menschen haben das Gefühl, dass sie damit, dass sie jetzt ein Papier in der Hand halten, auch einen Status haben, eine Anerkennung, als Menschen hier in Europa sein zu dürfen, und deshalb gehen sie eben weiter. Wenn man ihnen jetzt sagt - und sie fragen uns ja auch, wo sind die besten Routen, die besten Wege -, wir können das zuverlässig niemandem sagen und deshalb tun wir es auch nicht, denn das ändert sich, das Bild. Natürlich schon die ganzen Jahre über haben sich auch die Routen immer wieder verändert. Was sich aber nicht ändert ist die Entschlossenheit der Menschen, die hier ankommen, weiterzuwandern. Sie haben ihre Gründe, warum sie ihre Heimat verlassen haben, und sie haben Gründe, warum sie in bestimmte Länder ziehen. Meistens sind es Verwandte, die sie dort erwarten, Freunde, andere, oder auch ein großes Traumbild. Das ist doch klar bei den jungen Kerlen hier, die wir sehen. Die sind gerade mal 16, 17 Jahre alt. Die träumen natürlich davon, irgendwie einen tollen Beruf zu kriegen und irgendwann mal mit einem großen, wahrscheinlich deutschen Auto über die Straßen zu brummen.
    Kapern: Mal angenommen, die Entwicklung läuft so weiter wie in den letzten Tagen und Wochen, dass tatsächlich ein Balkan-Land nach dem anderen Zäune errichtet, Schlagbäume runterlässt, die Durchreise erschwert durch Grenzkontrollen, welche anderen Fluchtrouten blieben den Menschen dann, die jetzt noch auf Lesbos kommen?
    Bierdel: Man sollte doch wirklich meinen, dass wir in Europa verstanden hätten, dass man mit Zäunen, mit Mauern, mit Abwehrmaßnahmen dieser Art nicht wirklich etwas ändern kann. Wir erleben hier so etwas wie einen epochalen Wandel. Das ist jedenfalls unser Eindruck, und dem kann man sich nicht entziehen, wenn man da steht, wo ich jetzt hier herüberschaue auf die asiatische Seite und die Boote kommen herangefahren. Ein epochaler Wandel, der natürlich das Gesicht Europas verändern wird. Wir haben gesehen, wie sich über die Jahre dort drüben etwas zusammengebraut hat, was dafür sprach, dass wohl mehr Menschen versuchen werden, in Europa Schutz, Hilfe, Sicherheit, neue Lebensperspektiven zu finden, und wir wundern uns darüber, warum es dafür keine entsprechenden Vorbereitungen gegeben hat, sondern jetzt dann eben der Notstand ausgerufen wird.
    Das Schließen von Grenzen - das wissen wir auch aus der Migrationsforschung - ist auf gar keinen Fall eine Lösung. Vieles von dem, was ich jetzt auch hier habe sehen können, auch nur aus dem Fernsehen, wie es in Ungarn, Serbien oder sonst wo zugeht, das sind, so scheint mir doch, auch Propagandamaßnahmen, mehr als dass es sich um tatsächliche Abriegelung von Grenzen handelt. Wir werden es in den nächsten Tagen sehen. Natürlich finden diese Menschen, beraten oft von sogenannten Schleppern, wieder neue Routen, wieder neue Wege in Richtung auf ihr großes Ziel. Viele wollen nach Deutschland, andere in skandinavische Länder. Das wird man dadurch, dass man einzelne Strecken abriegelt, sicherlich nicht verhindern können, zumal ja auch noch - und die Hinweise haben wir ja auch schon - ein paar andere Interessen berührt sind durch diese Grenzschließung.
    Entschuldigung, es donnert gerade hier. Das Schlauchboot von der Frontex-Einheit fährt wieder aus dem Hafen heraus, die Rettung ist abgeschlossen, alle sind sicher an Land, deshalb diese Störung, die Sie vielleicht auch gehört haben.
    Es wird Routen geben, auch in den nächsten Tagen. Wir wissen es. Es reicht nicht, einen Zaun hochzuziehen. Die Wirtschaftsinteressen sind ebenfalls berührt. Das spricht ebenfalls dafür, dass man diese brachiale Abriegelung von Hauptverkehrswegen, wie es jetzt unter anderem in Ungarn geplant ist, sicherlich nicht länger durchhalten kann.
    Flucht über das Meer wird mit Abriegelung schwieriger
    Kapern: Werden diese Ausweichrouten nur beschwerlicher für die Flüchtlinge, oder auch gefährlicher?
    Bierdel: Das ist selbstverständlich die Folge jeder Abriegelungsmaßnahme. Das haben wir gesehen über all die Jahre: 2006 die Kanarischen Inseln wurden dicht gemacht, 2008 Lampedusa und Libyen. Mit jeder Maßnahme, die versucht, mit Gewalt letzten Endes zu verhindern, dass Migration geschieht, dass Fluchtrouten begangen werden, jede dieser Maßnahmen führt nur dazu, dass die Flucht, die Bewegung übers Meer zum Beispiel gefährlicher wird auch an den Landstrecken. Denn wenn Sie im Dunkeln der Nacht irgendeinen Fluss durchschwimmen müssen, dann ist das eben ein Risiko. Wir sehen ja hier viele Familien mit kleinen Kindern, wo Menschen schnell zu Schaden kommen, und wir haben leider, leider ja auch hier vor der Insel Lesbos immer wieder Todesopfer zu beklagen.
    Und das muss ich einfach noch einmal sagen: Es handelt sich hier ganz überwiegend um Menschen, die einen Anspruch haben, in Deutschland und in Europa zumindest angehört zu werden. Aber wir erlauben ihnen keinen legalen Zugangsweg auf das Territorium der Europäischen Union und deshalb - das kritisieren wir seit Jahren, das muss ich hier noch wiederholen - trägt die Verantwortung für diese Toten, die wir auch hier vorgestern erst wieder aus dem Wasser gezogen haben, auch die Bundesregierung in Berlin, die verhindert, dass Menschen auf einem legalen Wege in die EU gelangen können, um dort ihr Anliegen vorzubringen.
    Kapern: Elias Bierdel, Vorstand der Hilfsorganisation Borderline Europe, live von der Insel Lesbos heute Mittag hier im Deutschlandfunk. Elias, danke schön und Dir einen guten Tag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.