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Flüchtlingspolitik
Kretschmann warnt vor "Rückfall in den Nationalismus"

Obergrenzen beim Flüchtlingszuzug würden zwar gebraucht, sagte der grüne baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann im DLF, "aber die kann nur Europa festlegen". Für eine nationale Grenze habe keiner eine Idee - auch die CSU nicht.

Winfried Kretschmann im Gespräch mit Barbara Schmidt-Mattern | 22.11.2015
    Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg
    Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg (picture alliance / dpa - Christoph Schmidt)
    Kretschmann betonte im Deutschlandfunk, dass er sich nicht vorstellen könne, dass Grenzzäune um Deutschland aufgestellt würden oder, dass dort die Bundeswehr positioniert werde. Stattdessen müsse die Situation in den Flüchtlingslagern in den Nachbarländern Syriens verbessert werden. Das Problem könne nicht durch einen Rückfall in den Nationalismus gelöst werden. "Das sehe ich genauso wie die Bundeskanzlerin", so der Ministerpräsident.
    Derzeit gäbe es nicht einmal Kapazität, um "die real existierenden Flüchtlinge, die hier sind" zu erfassen, sagte Kretschmann hinsichtlich der in der Großen Koalition umstritten Frage, ob der Familiennachzug für Flüchtlinge eingeschränkt werden soll. Bis es zur Bearbeitung von Familiennachzügen kommen könne, werde noch mindestens ein Jahr vergehen.
    Zu einer möglichen Unterstützung Frankreichs bei Militäreinsätzen im Ausland sagte Winfried Kretschmann: "Es gibt da keine Blankoschecks in solchen schwierigen Fragen." Zunächst gelte das Grundsatz und erst müssten die Bitten von Bündnispartner vorgetragen werden, so Kretschmann. Man dürfe diese Bitten weder vorschnell ablehnen, noch zusagen. Seine Partei verstehe sich als pazifistisch und deswegen würden militärische Einsätze innerhalb der Partei immer auf "extrem große Skepsis" stoßen.

    Das Interview in voller Länge:
    Schmidt-Mattern: Winfried Kretschmann, herzlich willkommen bei uns im Deutschlandfunk, zum Interview der Woche. Die Anschläge von Paris haben unter anderem auch Ihren Bundesparteitag der Grünen, hier in Halle an der Saale, sehr beeinflusst. Sie haben hier intensiv am Freitagabend über die Außen- und Sicherheitspolitik auch bei uns in Deutschland diskutiert, als Folge der Attentate in Paris. Und Sie selbst sind Ministerpräsident in Baden-Württemberg. Wie hätten Sie reagiert, wenn das abgesagte Länderspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden nicht in Hannover hätte stattfinden sollen diese Woche, sondern bei Ihnen in Baden-Württemberg?
    Kretschmann: Ja, ich nehme an, genau so. Man muss in solchen Fällen ja immer Abwägungsprozesse treffen. Einerseits ist es klar: Wir wollen ja nicht in Zukunft alle öffentlichen Veranstaltungen, Sportveranstaltungen, Weihnachtsmärkte, Open-Air-Konzerte oder Ähnliches einfach nicht mehr durchführen. Das wäre ja der totale Sieg der Terroristen. Aber wenn Bedrohungen konkreter Art vorliegen, geht natürlich Sicherheit vor. Und lieber, man sagt einmal zu viel, als einmal zu wenig ab. Also das ist immer von der aktuellen Lage abhängig, die da einem dann mitgeteilt wird. Und nach der muss man sich dann richten.
    "Wir haben eine hohe, sogenannte abstrakte Gefährdungslage"
    Schmidt-Mattern: Mussten Sie als Regierungschef in den vergangenen Tagen in Ihrem Bundesland Veranstaltungen absagen?
    Kretschmann: Nein. Wir haben eine hohe, sogenannte abstrakte Gefährdungslage. Aber es liegen uns keine konkreten Hinweise auf Terroranschläge vor, sodass wir erst einmal in der Situation - Gott sei Dank - bisher nicht sind, dass wir irgendwelche Veranstaltungen absagen mussten.
    Schmidt-Mattern: Dennoch haben Sie diese Woche im Landtag, in Stuttgart, gesagt: "Unsere Antwort auf Terror, Fanatismus und Hass, heißen Rechtsstaat und wehrhafte Demokratie, Freiheit und Solidarität." Und Sie wollen in Baden-Württemberg Ihre landesspezifischen Antiterrorgesetze zumindest überprüfen. Was heißt das konkret? Planen Sie Verschärfungen?
    Kretschmann: Nein, es geht um etwas anderes. Wir haben nach dem Anschlag im Januar, auf die Redaktion von "Charlie Hebdo", schon ein Antiterrorpaket aufgelegt. Es geht bei uns nicht um neue Gesetze. Es geht darum, die Sicherheitskräfte - also Polizei, Kriminalpolizei, Verfassungsschutz - entsprechend der Herausforderung, durch gewaltbereite Islamisten zu stärken. Das Kabinett hat dem Innenminister den Auftrag gegeben, noch einmal zu schauen, ob wir da noch einmal nachsteuern müssen.
    Schmidt-Mattern: Was heißt das genau, "nachsteuern"?
    Kretschmann: Ob wir in einzelnen Bereichen noch mehr Personal brauchen. Ob wir bei der sächlichen Ausstattung noch etwas machen brauchen; was ist mit der Zusammenarbeit mit den verschiedenen Behörden. Um solche Dinge geht es. Und das wird dann der Innenminister uns vorlegen.
    Schmidt-Mattern: Nun hat eine aktuelle Umfrage in dieser Woche ergeben, dass 91 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland, Maßnahmen, wie zum Beispiel verstärkte Polizeipräsenz, aber auch Personenkontrollen, als angemessen betrachten. Das ist natürlich eine direkte Reaktion auf die Attentate, die in unserem Nachbarland, in Frankreich, passiert sind. Nur fünf Prozent der deutschen Wahlberechtigten befürchten eine zu starke Beeinträchtigung von Grundrechten. Wenn Sie diese Zahlen hören, müssen da nicht Sie, muss da nicht auch Ihre Partei die Linie überdenken, dass alles so bleiben kann, wie es ist?
    Kretschmann: Nein. Es geht immer darum, etwas zu tun, das auch wirkt. Ich verschließe mich vor überhaupt nichts, ich verschließe mich auch nicht Gesetzesänderungen, wenn sie in Aussicht stellen, dass dadurch etwas besser wird mit der Sicherheit. Wir sehen ja zum Beispiel, dass Frankreich Sicherheitsgesetze enorm verschärft hat - und trotzdem ist es zu diesem Anschlag gekommen.
    Schmidt-Mattern: Aber man muss auch deutlich sagen: Absolute Sicherheit gibt es nicht Gerade nicht in diesen Zeiten.
    Kretschmann: Solange wir das Übel nicht an der Wurzel beseitigen, nämlich, dass wir diese jungen Menschen, die so irregeleitet sind, von diesem Weg wieder abbringen. Man darf ja nicht vergessen, ein nicht unerheblicher Teil dieser Terroristen stammt aus Europa. Die gehen dorthin, werden einer Gehirnwäsche unterzogen und kommen wieder als Attentäter zurück. Das sind die allerschwierigsten Herausforderungen, vor denen wir stehen: Wie bringen wir die auch ab von so etwas? Wie machen wir Präventionsarbeit, etwa in den deutschen Moscheen, in der extremen Salafistenszene, dass die jungen Leute nicht auf solche Abwege geraten?
    "Auch sehr religiöse Menschen müssen sich an säkulare Gesetze halten"
    Schmidt-Mattern: Genau darauf; Herr Kretschmann, würde ich gerne mit Ihnen zu sprechen kommen. Cem Özdemir, der Parteivorsitzende und Bundesparteivorsitzende der Grünen, hat hier am Freitagabend, auf dem Bundesparteitag der Grünen in Halle, eine leidenschaftliche Rede gehalten zur Integrationsdebatte in Deutschland. Und er hat die Forderung noch einmal deutlich erhoben nach einem aufgeklärten, ich sage, aufgeklärteren Islam als bisher. Da hieß es in der Rede von Cem Özdemir: "Kein heiliges Buch steht über dem Grundgesetz, etwa bei Gleichberechtigung von Frau und Mann und von Homosexuellen, hierzulande in Deutschland." Stimmen Sie da Ihrem Parteivorsitzenden zu, dass diese Dinge in der deutschen Integrationsdebatte deutlicher benannt werden müssen?
    Kretschmann: Keine Frage, wir müssen sehr klar sein, was unsere Werte, das heißt die Werte unserer Verfassungsordnung, betrifft. Da darf es keine Rabatte niemanden gegenüber, auch nicht Einwanderern gegenüber, geben. Nur weil wir solch eine gute Verfassungsordnung haben und diese Werte leben, können wir überhaupt so viele Flüchtlinge aufnehmen. Aber wir müssen klar sein in der eigenen Ansage. Und es muss klar sein: Es gibt Religionsfreiheit nur auf der Verfassung, nicht hinter, neben oder gar über ihr. Auch sehr religiöse Menschen müssen sich an säkulare Gesetze halten.
    Schmidt-Mattern: Nun heißt es von einigen Vertretern der Islamverbände hier in Deutschland: Eine Distanzierung vom Terror, das sei eigentlich die falsche Formulierung, denn man habe ja keine Nähe. Sinngemäß hat das bei uns im Deutschlandfunk, im Interview der Woche, vergangene Woche, auch Aiman Mazyek so formuliert, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland. Stimmen Sie diesem Satz zu, dass eine Distanzierung vom Terror so eigentlich nicht der richtige Ausdruck ist?
    Kretschmann: Da hat er schon irgendwo recht. Der Großteil der Muslime hat erstens mit diesem Terror überhaupt nichts zu tun, im Gegenteil, sie sind selber bedroht. Es gab ja die Anschläge nicht nur in Paris, London und Madrid, das gibt es ja auch in Istanbul und Beirut. Und diese Terroristen jagen erst einmal vornehmlich Muslime, die ihren Vorstellungen nicht entsprechen. Das sind die Hauptopfer - das darf man ja nicht vergessen. Deswegen flüchten sie ja zu uns vor diesen Barbaren. Das ist schon klar, aber es ist auch klar: Der Fundamentalismus ist im Islam weit vorgedrungen, bis in die Mitte des Islam. Das ist eine Herausforderung für die Muslime.
    Schmidt-Mattern: Das beziehen Sie auch auf Deutschland?
    Kretschmann: Das beziehe ich auch auf Deutschland. Auch da tummeln sich die Salafisten. Das eindämmen, können in erster Linie ja nur die Muslime selber.
    Schmidt-Mattern: Herr Kretschmann, hier auf dem Parteitag der Grünen in Halle, hat es am Freitagabend auch eine Verabschiedung eines Antrages des Bundesvorstands gegeben zu den Folgen der Attentate von Paris. Da sagen die Grünen: Wir müssen darauf mit Besonnenheit und Augenmaß reagieren, gerade auch, was außenpolitische Reaktionen angeht. Militäreinsätze als Bekämpfung der Fluchtursachen in Syrien zum Beispiel, schließt die Parteispitze da aus - beziehungsweise werden sie an ein UN-Mandat geknüpft. Das ist ja nach Ansicht einiger Experten eher unrealistisch, dass es so ein UN-Mandat in absehbarer Zeit geben könnte. Drücken sich die Grünen da vor einer klaren Aussage, was Auslandseinsätze betrifft?
    Kretschmann: Also das sehe ich ja erst einmal nicht so, dass das unrealistisch ist. Man sieht ja, dass sich jetzt die Führer der großen Mächte, wie auch Putin, ihren Kurs etwas ändern. Jedenfalls deutet sich das an, sodass die Aussicht durchaus besteht. Ich denke auch, Russland sieht durch den Terroranschlag auf dieses Flugzeug, dass es selber genauso bedroht ist, wie die westlichen Länder. Insofern würde ich das nicht ausschließen. Jedenfalls ist es klar, dass diese Terroristen auch militärisch bekämpft werden müssen.
    "Militärische Einsätze sind immer das letzte Mittel und sie müssen gut überlegt sein"
    Schmidt-Mattern: Mit deutscher Beteiligung?
    Kretschmann: Ja, erst einmal müssen wir zum Beispiel die Peschmerga, also die kurdischen Kämpfer dort in der richtigen Weise unterstützen. Das hat der Parteitag alles nicht mehr ausgeschlossen. Aber man muss natürlich mit Kriegsintervention von außen ganz umsichtig sein. Militärische Einsätze sind immer das letzte Mittel und sie müssen gut überlegt sein.
    Schmidt-Mattern: Ich nehme da gewisse Widersprüche in den Aussagen Ihrer Partei wahr. Frankreich hat Hilfe beantragt in dieser Woche, bei der Europäischen Union, nach Artikel 52, Absatz 7 des EU-Vertrages. Da hat es dann Reaktionen gegeben von Seiten zum Beispiel Ihrer Parteivorsitzenden, Simone Peter, hat in einem Zeitungsinterview gesagt: "Solidarität heißt nicht, dass wir bei Kriegseinsätzen mitmachen." Daraufhin gab es Widerspruch aus Ihrer Bundestagsfraktion: Man dürfe nicht etwas ausschließen, bevor Frankreich überhaupt sagt, was es denn von uns, von Deutschland, erwartet. Deswegen noch einmal die Frage: Wo stehen denn da die Grünen nun eigentlich? Sind sie an Frankreichs Seite, wenn konkret die Bitte um auch militärischen Beistand kommt?
    Kretschmann: Ich sage mal, diese Bitte muss ja erst einmal vorgetragen werden.
    Schmidt-Mattern: Wenn sie denn kommt, wie positionieren Sie sich?
    Kretschmann: Das ist immer eine Frage der Bedingung. Es gibt da keine Blankoschecks in solchen schwierigen Fragen. Mal abgesehen davon, das ist nun nicht mein Beritt als Ministerpräsident eines Landes. Das entscheiden die Bundespolitiker und nicht ich. Erst einmal gilt der Grundsatz; erst müssen die Bitten von Bündnispartner vorgetragen werden. Und man darf sie weder vorschnell ablehnen, noch vorschnell zusagen. Das muss man schon zusammen mit den Bündnispartnern besprechen und dann Entscheidungen treffen und nicht vorher.
    Schmidt-Mattern: Spricht Ihre Partei, die Grünen, denn da wirklich mit einer Stimme bei diesem Thema?
    Kretschmann: Nein. Da gibt es immer Differenzen in den Fragen. Von unserer Entstehungsgeschichte her verstehen wir uns als pazifistische Partei, und militärische Einsätze stoßen in der Partei immer auf extrem große Skepsis. Ich erinnere an die Intervention damals im Balkan, unter Joschka Fischer. Das war eine Herkulesaufgabe für ihn, das hinzubekommen, dass wir uns an solchen Auslandseinsätzen beteiligen. Das tun wir aber inzwischen. Aber das wird immer umstritten sein in meiner Partei.
    Grundrecht auf Asyl
    Schmidt-Mattern: Umstritten ist bei Ihnen auch ein zweites großes Thema, das hier den Parteitag der Grünen in Halle an der Saale prägt, nämlich die Flüchtlingspolitik. Sie haben einen Antrag verabschiedet, von dem die Botschaft ausgeht: 'Wir Grüne werden am Grundrecht auf Asyl nicht rütteln' - zugleich enthält aber dieses Papier einen umstrittenen Satz, dass sinngemäß nicht jeder Flüchtling in Deutschland wird bleiben können. Da frage ich mich: Was denn nun, Herr Kretschmann, soll das Grundrecht auf Asyl uneingeschränkt bestehen bleiben, oder gibt es künftig ein Zwei-Klassen-Asylrecht, wenn es nach den Grünen geht?
    Kretschmann: Nein, das gibt es nicht. Das steht auch nirgendwo drin. Diejenigen, die aufgrund von politischer Verfolgung zu uns kommen oder aus Bürgerkriegsgebieten, denen gewähren wir Schutz und Beistand und integrieren sie auch, wenn sie hier bleiben. Aber die, die aus anderen Gründen kommen, also zum Beispiel aus wirtschaftlichen Gründen, die müssen wir in dieser Situation zurückschicken. Weil sie sich nämlich gerade nicht auf das Asylrecht berufen können, und deswegen werden sie zurückgeführt. Das heißt, genau das Asylrecht, die Genfer Flüchtlingskonvention und unser Umgang mit Bürgerkriegsflüchtlingen, ist der Kompass, nachdem die Ministerpräsidentenkonferenz handelt. Das heißt, denen mit Bleiberecht aufgrund des Asylrechts, gewähren wir Schutz und die andern führen wir zurück.
    Schmidt-Mattern: Sie gehören zu den Ministerpräsidenten und Sie sind der erste und einzige grüne Ministerpräsident, der in diesem Jahr nun schon zum zweiten Mal in Folge der Ausweitung sicherer Herkunftsstaaten auf dem Balkan zugestimmt hat. Das ist und bleibt doch ein GAU für Ihre Partei, oder?
    Kretschmann: Nein. Ich stimme doch keinem GAU zu.
    Schmidt-Mattern: Aber Ihr linker Parteiflügel sieht das anders.
    Kretschmann: Nein, der sieht das nicht richtig. Wir waren historisch immer gegen diese Figur und dieses Instrument der sicheren Herkunftsländer - aber es steht nun einmal so in der Verfassung. Es ist überhaupt kein GAU. Das sichere Herkunftsland Senegal hat eine Anerkennungsquote von 23 Prozent. Man sieht also, auch aus sicheren Herkunftsländern kann ich Asyl bekommen, wenn ich das individuell nachweise - dafür ist ja der Senegal ein Beispiel. Man muss die Wahrheit immer in den Tatsachen suchen. Deswegen: Das ist überhaupt kein GAU.
    "Es beschäftigt mich praktisch jeden Tag, diese schwierige Aufgabe zu lösen"
    Schmidt-Mattern: Sie haben hier selber am Freitagabend die entscheidende Rede zur Flüchtlingspolitik gehalten auf dem Parteitag. Sie haben unter anderem gesagt: "Ich habe vor einigen Wochen Zelte noch abgelehnt, um Flüchtlinge darin unterzubringen, jetzt muss ich sie selber aufbauen." Herr Kretschmann, wie belastend ist eigentlich das ganze Thema Flüchtlinge, die Versorgung, die Unterbringung, wie belastend ist das für Sie persönlich?
    Kretschmann: Sehr belastend. Es beschäftigt mich praktisch jeden Tag, diese schwierige Aufgabe zu lösen. Das wird immer schwieriger. Es ist ja klar, die ersten Unterkünfte bekommt man noch leicht, die zweiten auch, die dritten schon schwerer. Und so ist es: Jede Woche wird es schwerer, weil man irgendwann alles abgegrast hat, alle Liegenschaften. Ich habe die Unternehmen aufgefordert, die Kirchen, wen auch immer: 'Kämmen Sie Ihre Liegenschaften durch; melden Sie uns!'. Irgendwann ist alles durchgescannt, und dann ist es immer schwerer, neue zu finden. Das heißt, das Problem wird schwieriger von Woche zu Woche.
    Schmidt-Mattern: Haben Sie jetzt manchen stillen Moment gehabt, wo Sie gedacht haben: 'Die CSU hat eigentlich Recht, wir brauchen Obergrenzen'?
    Kretschmann: Ja, wir brauchen auch Obergrenzen. Aber die kann nur Europa festlegen.
    Schmidt-Mattern: Warum? Warum kann man nicht als Mitgliedsstaat Deutschland sagen: Bis hierhin ist es zahlenmäßig noch zu stemmen, danach aber nicht mehr?
    Kretschmann: Wie soll das denn praktisch funktionieren? Dafür hat doch niemand eine Idee. Auch die CSU nicht. Sollen wir allen Ernstes Grenzzäune um Deutschland stellen? Was auch nichts nützt. Sollen wir dort die Bundeswehr positionieren? Und sollen die zum Schluss wieder schießen? Kann man sich das vorstellen? Nein, das kann man sich nicht vorstellen! Deswegen ist die Frage nur europäisch lösbar. Und darauf müssen wir unsere Kraft richten. Es gibt zum Beispiel jetzt den Vorschlag mit Kontingenten. Was bedeutet das? Die meisten Flüchtlinge sind ja in den Nachbarländern, im Libanon, der Türkei und so weiter, untergebracht. Da sind schwere Versäumnisse vorgekommen. Die Gelder sind denen gekürzt und gestrichen worden. Jetzt ist es so, damit die Menschen über den Winter kommen, fehlen bei der Hälfte die entsprechenden Mittel. Das ist mir völlig unbegreiflich. Also die Menschen sollen ja erst einmal in der Nähe bleiben; dann müssen wir sie dort auch gut versorgen. Die Länder, wie der Libanon, sind damit überfordert, also muss die EU das machen und denen die entsprechenden Mittel geben, dass die Menschen dort auch menschenwürdig untergebracht und versorgt sind. Und dann können wir überlegen, ob wir dann Kontingente jedes Jahr übernehmen in Europa, jedes Land davon. Nur so kann das Problem gelöst werden, aber nicht durch Rückfall in den Nationalismus. Das sehe ich genauso wie die Bundeskanzlerin.
    Schmidt-Mattern: Baden-Württembergs Ministerpräsident von den Grünen, Winfried Kretschmann, im Deutschlandfunk, im Interview der Woche, bei uns zu Gast heute. Herr Kretschmann, Baden-Württemberg will ab dem kommenden Jahr ein sogenanntes "Rückkehrmanagement" einführen. Das heißt, Sie wollen unangekündigte Abschiebungen jetzt durchsetzen; Sie wollen umsetzen, dass der Aufenthalt für Flüchtlinge aus sicheren Herkunftsstaaten in den Erstaufnahmeeinrichtungen künftig bis zu sechs Monate möglich ist. Ist das nicht wiederum ein Dammbruch für einen grünen Ministerpräsidenten?
    Kretschmann: Nein. Das ist kein Dammbruch. Erst einmal, bei diesem Rückführungsmanagement setzen wir erst einmal auf Freiwilligkeit. Wir machen jetzt eine Rückkehrberatung - und zwar von Anfang an - für die Menschen, die ersichtlich kein Bleiberecht bekommen. Und das machen wir auch mit Erfolg. Und diejenigen aber, die das nicht freiwillig machen, die führen wir zurück. Das ist kein Dammbruch, weil ...
    Schmidt-Mattern: Also Pro Asyl spricht von "uferlosen Schnellverfahren", die ja jetzt drohen könnten.
    Kretschmann: Davon kann überhaupt keine Rede sein. Ich habe das ja vorher schon gesagt. Das Bundesverfassungsgericht hat uns eine klare Vorgabe gemacht: Wir müssen immer das individuelle Recht berücksichtigen und dürfen die Menschen in ihrem Grundrecht nicht beeinträchtigen. Das wird etwas schwerer und geht etwas schneller - aber schneller heißt doch nicht schlechter. Selbst wenn wir alle zurückführen, die hier kein Bleiberecht haben, haben wir immer noch die allergrößten Probleme, die, die Bleiberecht haben, unterzubringen in den nächsten Monaten. Ich kann heute gar nicht sagen, wie ich das schaffen sollte. Also insofern tun wir das Notwendige. Und man kann nicht nur Prinzipien reiten, man muss die Probleme ja auch lösen.
    Schmidt-Mattern: Aber Herr Kretschmann, selbst Ihr eigener Parteifreund, Boris Palmer, Oberbürgermeister in Tübingen, hat vor einigen Wochen gesagt: "Wir schaffen das eben nicht" - im Widerspruch zu der Kanzlerin. Er hat damit einen Riesenaufruhr in Ihrer Partei, bei den Grünen, ausgelöst. Diese Woche hat er nachgelegt und hat sich auf seiner Facebook-Seite positiv dafür ausgesprochen, dass man sehr wohl über eine Einschränkung des Familiennachzugs nachdenken müsste. Hat der Mann vielleicht doch recht?
    Kretschmann: Ja und Nein. Natürlich hat er in der Beschreibung der Situation Recht, aber er hat ja einen Artikel geschrieben, da stellt er etwa 15 Fragen. Aber ein Ministerpräsident kann keine Fragen stellen, der muss Fragen beantworten. Und die Fragen sind nur europäisch beantwortbar; und in der Krise entsteht immer auch eine Dynamik der Lösung. Das, was Sie jetzt gesagt haben, die unbegreiflichen Versäumnisse der EU bei den Unterkünften in den Nachbarstaaten, das wird gerade geändert. Also man reagiert auch auf die Krise. Das ist es, was ich anders sehe, als mein Freund, Boris Palmer.
    "Familiennachzug steht derzeit gar nicht an"
    Schmidt-Mattern: Konkret noch einmal bei Ihnen nachgefragt, Herr Kretschmann, muss der Familiennachzug für Flüchtlinge eingeschränkt werden, grundsätzlich für alle? Muss das Asylrecht in Deutschland weiter verschärft werden?
    Kretschmann: Also mit dem Familiennachzug ist es erst einmal so: Das steht erst einmal ja gar nicht an.
    Schmidt-Mattern: Das ist einer der am meist umstrittensten Punkte derzeit, auch in der Großen Koalition in Berlin.
    Kretschmann: Ja, aber es steht gar nicht an. Wir haben doch noch nicht einmal die Kapazitäten, um die real existierenden Flüchtlinge, die hier sind, zu erfassen, ihre Anträge zu behandeln. Bis es zu der Bearbeitung von Familiennachzügen kommt, das dauert doch mindestens ein Jahr. Wir müssen noch 300.000 Altfälle abarbeiten. Wir machen dauernd Beschlüsse - die müssen wir dann auch umsetzen und nicht dauernd unausgegorene Vorschläge machen, die wir dann im Moment gar nicht umsetzen können. Ich sage, über die Transitzonen und über den Familiennachzug, wie man das dann regelt, darüber müssen wir reden.
    Schmidt-Mattern: Herr Kretschmann, lassen Sie uns jetzt darüber reden. Denn ich denke, auch Ihre Wähler in Baden-Württemberg - Sie müssen nächstes Jahr im März eine Landtagswahl bestehen, Sie wollen wiedergewählt werden - wollen mutmaßlich wissen, wie Sie zu der Frage stehen, ob der Familiennachzug für Flüchtlinge eingeschränkt werden sollte oder nicht. Selbst wenn Sie sagen: Diese Frage stellt sich nicht, Ihre Wähler interessiert das.
    Kretschmann: Ja, aber ich kann nicht zaubern. Man kann nicht alles auf einmal machen. Ich muss die Menschen dauernd dazu auffordern, Geduld zu haben. Die Schritte können wir nur nacheinander lösen. Einen Schalter - hat die Bundeskanzlerin schon oft gesagt -, den wir umlegen können, dann ist das Problem gelöst, den gibt es einfach nicht - so schwer das auch zu ertragen ist. Das muss nun halt mal jeder einsehen, ob es ihm gefällt oder nicht. Mir gefällt es ja auch nicht, aber ich habe den Schalter auch nicht.
    "Der Wahlkampf findet nächstes Jahr statt und nicht jetzt"
    Schmidt-Mattern: Haben Sie denn - um noch einmal vorauszublicken, auf die kommende Landtagswahl in Baden-Württemberg -, haben Sie da einen Schalter zum Umlegen? Nach einer neuesten Umfrage liegen die Grünen im "Ländle" zehn Prozent im Moment hinter der CDU. Wie sollen Sie da den Schalter umlegen und Ihre Wiederwahl schaffen?
    Kretschmann: Ich meine, wir streben ja keine Alleinregierung an.
    Schmidt-Mattern: Aber der Koalitionspartner schwächelt ja erst recht. Sie haben keine eigene Regierungsmehrheit im Moment in den Umfragen.
    Kretschmann: Aber die CDU hat auch keine. Schauen Sie, ich habe große Probleme - haben wir jetzt besprochen: Terror, Flüchtlinge. Ich kann mich im Moment gar nicht um den Wahlkampf kümmern - und das ist auch gar nicht angesagt. Der Wahlkampf findet nächstes Jahr statt und nicht jetzt.
    Schmidt-Mattern: Dennoch denke ich ja, sollten Sie es schaffen, noch einmal im nächsten März, wäre das ein großartiger Rückenwind für alle schwarz-grünen Träume, die einige in Ihrer Partei hegen, mit Blick auf die Bundestagswahl 2017.
    Kretschmann: Ich weiß nicht, wir machen jetzt im Moment keine Koalitionsspekulationen. Die Leute wollen ja erst einmal von uns wissen, wie wir die Probleme lösen.
    Schmidt-Mattern: Ja, es gibt ja schon einen Antrag, hier auf Ihrem Parteitag, der heißt: "Aufbruch 2017". Also Ihre Partei macht sich doch Gedanken.
    Kretschmann: Na, sicher, natürlich. Eine Opposition will ja an die Regierung. Man muss sich Gedanken machen, wie man nachher regiert. Man muss sich nicht schon Gedanken machen, mit wem man regiert - das entscheidet man nach den Wahlen. Warum? Das ist ganz einfach: Das entscheidet man nämlich nicht selber. Das entscheiden die Wähler und nicht man selber. Man selber kann nicht sagen: Jetzt sollen die Mehrheiten für die oder jene kommen. Das ist ist, Gott sei Dank, in der Demokratie nicht so. Das ist ihr Charme und das Schöne, dass die Wähler bestimmen, wer regiert und nicht die, die es gerne regieren wollen.
    Schmidt-Mattern: Abschließend, weil Personalfragen auch immer interessant sind, würde ich Sie gerne noch fragen: Wer ist denn Ihr Favorit, wenn es nächstes Jahr an die Vorausplanung der Urwahl geht? Die Grünen wollen ja ihren Spitzenkandidaten wieder in einer Urwahl bestimmen, für die Bundestagswahl 2017. Sollte das der Parteichef, Cem Özdemir, unter anderem übernehmen oder vielleicht doch Robert Habeck aus Schleswig-Holstein?
    Kretschmann: Ich glaube, dass es nicht sehr klug von mir wäre, wenn ich das jetzt sagen würde.
    Schmidt-Mattern: Schade.
    Kretschmann: Ja, schade, aber ich mache es trotzdem nicht.
    Schmidt-Mattern: Winfried Kretschmann, im Interview der Woche, vielen Dank.
    Kretschmann: Bitte.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.