Dienstag, 14. Mai 2024

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Forschungsreise
Abenteuer am Amazonas und Rio Negro

Bei Galiani ist nach dem großartigen Bildband "Die Erkundung Brasiliens", herausgegeben von Hanns Zischler und anderen, jetzt der Band "Abenteuer am Amazonas und am Rio Negro" von dem 1823 in Wales geborenen und 1913 gestorbenen Alfred Russel Wallace erschienen. Seine Expeditionsberichte geben dem Abenteuer viel Raum. Zudem beweisen sie, dass Wallace und Darwin zeitgleich ihre Evolutionstheorie entwickelten. Von dem Herausgeber Matthias Glaubrecht liegt im Galiani Verlag auch eine Wallace-Biografie "Am Ende des Archipels" vor.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 10.09.2014
    "Mehr Mücken als Luft ..."
    Diese Feststellung des berühmten Forschers Alexander von Humboldt markiert das enttäuschende Ende eines hoffnungsvollen Aufbruchs zur Erkundung des Amazonas.
    Als 1848, 44 Jahre später, der von der Natur begeisterte Alfred Russel Wallace nach Brasilien aufbricht, trotzt er allen Widrigkeiten und gelangt tatsächlich in die bislang unbekannten Zonen des Amazonas, des mit 6400 Kilometern mächtigsten Stroms der Erde.
    "Der ernste Wunsch, ein tropisches Land zu besuchen, das Üppige des Tier- und Pflanzenlebens selbst zu sehen und mich mit eigenen Augen von allen den Wundern, die mich an Reisebeschreibungen stets so interessierten, zu überzeugen, waren die Motive, die mich bewogen, die Bande des häuslichen und Geschäftslebens zu brechen und mich aufzumachen nach 'dem fernen Land, wo ewiger Sommer thront'."
    Der ewige Sommer, das lichterfüllte Land wird den 1823 geborenen Wallace auch während seines vierjährigen Aufenthalts begleiten, aber am Ende ist er froh, den Strapazen, Gefahren und Krankheiten (dem "kalten, gelben Fieber" und den Folgen von Mücken- und Sandflöhen-Plagen) entkommen zu sein. Geblieben ist die Begeisterung für die überwältigende Schönheit der Natur:
    "..., der Sommer oder die trockene Jahreszeit hatte eben begonnen, die Vegetation erglühte im prachtvollsten Grün, und es schien, als ob die prächtige Himmelsbläue und die klare frische Luft das unglückliche Miasma zerstören müsste, das die Kirchhöfe haufenweise mit Grabkreuzen bedeckt und jede Wohnung in der Stadt zu einem Haus der Trauer gemacht hatte."
    Neue Disziplinen entstehen
    Mit Wallace, der eigentlich Landvermesser war, und seinem Freund Henry Walter Bates lesend auf diese Reise zu gehen, heißt, die Begeisterung für die Entdeckung alles Fremden mitzuerleben und dabei zu erfahren, wie neue wissenschaftliche Disziplinen entstehen: die Evolutionstheorie und die Biogeografie, die sich den Vorkommen und der Verbreitung von Organismen widmet. Warum leben bestimmte Arten nur dort, wo sie leben, andere aber anderswo?
    "Wir sehen zum allerersten Mal Insekten wie einen 'durchsichtig geflügelten Schmetterling, den Esmeralda-Augenfalter'; begegnen zum ersten Mal Tukanen und Papageien in ihrer natürlichen Heimat und jagen Alligatoren und Affen."
    Der Leser bekommt ein deutliches Gefühl dafür, was es für die Reisenden damals hieß, ohne Fotoapparat und Filmkamera, allein durch Zeichnungen und Karten Zeugnis von dem Gesehenen abzulegen. (Die erste detaillierte Karte des Rio Negro zum Beispiel verdanken wir Wallace.)
    Kaum vorstellbar der Schmerz des Reisenden, erleben zu müssen, wie viele Materialien zerstört wurden und dass Horden von Ameisen die Sammlung zu vernichten drohten, weil die Einheimischen den Alkohol tranken, mit dem die Fundstücke konserviert werden sollten. Aber, das darf man nicht vergessen, es sind auch die Einheimischen, die Wallace vor dem Tod retten.
    Opfer der Flammen
    Als Wallace schließlich nach 80-tägiger Schiffsreise in England an Land geht, ist er glücklich und zugleich von Entsetzen am Boden zerstört: Auf hoher See war ein Feuer an Bord ausgebrochen und hatte seine naturkundliche Sammlung in Schutt und Asche verwandelt. Erhalten geblieben sind einzig seine Zeichnungen von Urwaldbäumen, Palmen, einigen anderen Pflanzen und wunderbar exotischen Fischen. Mühevoll rekonstruiert Wallace später seine Erlebnisse und vor allem auch seine Forschungen. So beinhaltet denn nun auch der erstmals vollständig auf Deutsch vorliegende Band außer Kapiteln über den Verlauf der Reise auch Berichte zur Anthropologie und Linguistik, zur Geografie und Geologie, zur Tierwelt und Vegetation.
    "Womöglich findet sich kein anderes Land auf der Welt, dessen Erdreich solche Mengen von Vegetation hervorbringt wie das Tal des Amazonas. Seine gesamte Fläche, mit Ausnahme einiger sehr kleiner Teile, ist von einem dichten und hochragenden Urwalde bedeckt, dem größten und zusammenhängendsten der Welt."
    Wallace war, wie der Herausgeber des Bandes, Matthias Glaubrecht, schreibt, vom Naturaliensammler zum Naturforscher geworden, zu einem visionären noch dazu. Visionär insofern, als er nach einem grundlegenden Prinzip gesucht hatte, das für die unendliche Vielfalt im Tierreich verantwortlich sein müsste. Er war davon überzeugt, dass sich die Arten in einem natürlichen Prozess verändern und wandeln.
    "Wallace suchte nach Belegen dafür, dass die Arten miteinander in genealogischer Verbindung stehen und dass sie eben nicht jeweils unabhängige Schöpfungen sind, wie seine Zeitgenossen damals überwiegend noch annehmen."
    Der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht ist auch Autor einer sehr lesenswerten Biografie ("Am Ende des Archipels"), in der er einen Überblick über den Lebensweg und das Werk von Wallace vermittelt.
    "Sein Leben hat geradezu romanhafte Züge, ideal auch für eine Verfilmung. Zumal Alfred Russel Wallace um so vieles lebendiger wirkt als sein Landsmann und vierzehn Jahre ältere Zeitgenosse - jener bedächtige, abwägende und abwartende, beinahe ist man versucht zu sagen: vergleichsweise dröge Darwin. Gegen diesen kommt uns Wallace gleichsam vor wie ein Indiana Jones der Naturforschung, ein Ernest Hemingway der naturkundlichen Reisebeschreibung."
    Forschung als Erzählung
    Wallace war Amateur, der von der Peripherie her Zugang zur etablierten Wissenschaft suchte. Darin gleicht er einigen Amateurethnologen, wie Victor Segalen und Hubert Fichte, die im 20. Jahrhundert mit ihrer Ethnopoesie oder poetischen Anthropologie der Wissenschaft vom Fremden entscheidende Impulse für eine Neuausrichtung gaben. Dabei ging es ihnen, wie auch Wallace, um die Aufhebung starrer Grenzen zwischen Forschungsbericht und Erzählung. Für die Selfmade-Ethnologen gilt wie auch für den Selfmade-Biologen Wallace, dass sie uns durch ihre offene Schreib- und Darstellungsweise ein viel komplexeres Bild von der Heterogenität und Vielschichtigkeit der Wirklichkeit vermitteln, als dies einem streng wissenschaftlichen Text möglich ist.
    Wallace war zudem ein sehr moderner Denker:
    "Er setzte sich für Landreformen und Menschenrechte ein; er war auch jemand, der noch im hohen Alter über die Möglichkeit von Menschen auf dem Mars und unsere Stellung im Universum nachdachte."
    Mit der für Wallace typischen Verknüpfung von Reise- und Forschungsbericht hatte er zu Anfang keinen besonderen Erfolg. Den "Abenteuern am Amazonas und am Rio Negro" war, obwohl auch für ein breiteres Publikum leicht lesbar, kein Erfolg beschieden, ganz anders als dem späteren Reisebericht vom Malaiischen Archipel, einem stilistisch ausgereifteren und eleganteren Buch. Es wäre durchaus interessant herauszufinden, ob der 1913 gestorbene Wallace nicht auch als Vorläufer der ethnologischen Reiseliteratur im 20. Jahrhundert anzusehen ist und welchen Beitrag er für die heutige Ökologiebewegung leistete.
    "Amazonien und der Archipel, wie Alfred Russel Wallace es kannte, wird einem verschwundenen Kontinent gleich zum Atlantis werden - mit mystischen Wesen einer längst vergangenen Zeit; Wesen wie Tiger und Orang-Utan, Vogelschwingen-Falter und Flugfrösche. Die Paradiesvögel werden dann tatsächlich jene sagenhaften Wesen sein, als die sie galten, bevor Wallace auch ihretwegen bis ans Ende des Archipels kam."
    Alfred Russel Wallace: "Abenteuer am Amazonas und am Rio Negro"
    Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Matthias Glaubrecht. 620 Seiten, Galiani Verlag Berlin 2014, 24,99 Euro.