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Fragmentarisch und doch voller Poesie

Patrick Modiano gehört zu den bekanntesten Autoren Frankreichs. Im Frühjahr 2013 erschien dort die Gesamtausgabe von Modianos Romanen in einem Band, mit auch einigen Fotos aus seinem Archiv. "Der Horizont" ist der letzte Roman in dieser Reihe, die 1975 mit "Villa Triste" beginnt.

Von Volkmar Mühleis |
    Der Titel von Patrick Modianos neuem Roman entpuppt sich während der Lektüre als Programm – er heißt "Der Horizont". Fast 180 Seiten ist er lang, und die ersten zwei Drittel der Geschichte bewegt man sich in einem Netz aus Andeutungen. Eine Liebesgeschichte bahnt sich an, Ende der sechziger Jahre, und auch eine Jagd aus der Sicht der Verfolgten, Margaret Le Coz, der jungen Liebesgefährtin des Protagonisten, kurz Bosmans genannt. Sie begegnen sich in Paris, durchstreifen es, versuchen ihrer Vergangenheit zu entkommen, als gäbe es für sie kein anderes Glück. Der eigene Horizont erscheint zugleich wie die Flucht vor dem eigenen Schatten. Und so unwägbar die Lage ist, so fragmentarisch erzählt Modiano die Geschichte, als Erinnerungsstücke, die sich langsam aneinanderreihen, unspektakulär. Eine Kostprobe:

    "Er hatte sich immer vorgestellt, er könnte in den hintersten Winkeln gewisser Viertel die Personen wiederfinden, denen er in seiner Jugend begegnet war, mit ihrem Alter und ihrem Aussehen von einst. Sie führten dort ein Parallelleben, gefeit gegen die Zeit ... In den geheimen Ecken jener Viertel lebten Margaret und die anderen immer noch so, wie sie damals waren. Um bis zu ihnen vorzudringen, musste man versteckte Wege durch Gebäude kennen, Straßen, die auf den ersten Blick aussahen wie Sackgassen und auf dem Plan nicht eingezeichnet waren. Im Traum wusste er, wie er über eine bestimmte Metrostation dahin gelangte."

    Diese wie auch andere Passagen offenbaren die Poetik des Romans. Der 68-jährige Pariser Schriftsteller führt einen vor allem durch die Schatten der Vergangenheit, ohne jede Sentimentalität, mit seinem Liebespaar als Option für eine Zukunft, die sich nur darin erfüllte: Ausblick und Hoffnung gewesen zu sein. Bosmans hatte in einer Buchhandlung gearbeitet, Margaret als Kindermädchen, Sekretärin. Sie war in Berlin geboren worden und sagte nie warum. Ein Mann stellte ihr nach, als sie in der Schweiz gearbeitet hatte. Nun war sie in Paris, mittellos, ohne Familie. Fragmente einer Geschichte, die selbst während der Lektüre immer wieder in Aussicht gestellt wird. Die ersten zwei Drittel hält Modiano diesen Zustand aufrecht, man bleibt gespannt, auch wenn der Balanceakt sich hinzieht, sich die Nachstellung und Flucht von Margaret immer wieder verdunkelt und nur teilweise klärt. Dann aber offenbart sich diese Jagdgeschichte nur als Anreiz, dem Erzähler in all diese Verstrickungen zu folgen, denn sie verliert sich daraufhin in der offenen Weite loser Erinnerungen, gelebter Horizonte. Mit dieser Wendung zeigt sich das Buch schließlich in seiner eigentlichen Bedeutung, nämlich als Variation, Meditation der Frage, wie sich das eigene Leben entfaltet, räumlich in einer Stadtlandschaft wie Paris, zeitlich in Begegnungen, die gestern und morgen bestimmen, verbinden und durchscheinen lassen.

    "Von diesem Tag an spähte er stets hinterm Fenster nach ihr, wenn sie in den ehemaligen Éditions du Sablier miteinander verabredet waren. Immer noch kommt sie ihm auf dem leicht ansteigenden Trottoir der Avenue Reille entgegen, in klarem Winterlicht, wenn der Himmel blau ist, doch es könnte auch Sommer sein, denn ganz hinten sieht man die Blätter der Parkbäume. Manchmal regnet es, aber der Regen scheint sie nicht weiter zu stören. Sie geht im Regen mit dem gleichen ruhigen Schritt wie sonst. Nur hält die rechte Hand den Kragen ihres roten Mantels."

    In diesem Frühjahr erschien in Frankreich die Gesamtausgabe von Modianos Romanen in einem Band, mit auch einigen Fotos aus seinem Archiv, zu seinen Büchern. "Der Horizont" ist der letzte Roman in dieser Reihe, die 1975 mit "Villa Triste" beginnt. Er öffnet aufs Neue Grundmotive in Modianos Werk, das Erinnern, die Geschichte, Familie. Die Straßen von Paris sind bei ihm weniger die Boulevards als die einsamen Seitenstraßen – wie die Rue des Favorites, die in "Der Horizont" beschrieben wird, in der Bosmans auf dem Bürgersteig sitzt und die Fassade des gegenüberliegenden Hauses betrachtet. In der französischen Gesamtausgabe ist diese Straße abgebildet, mit all ihrer Unscheinbarkeit, Banalität. Und daneben eine Notiz des Autors: "Les rues de Paris. Toujours les rues ... ", sprich, die Straßen von Paris, immer wieder die Straßen. Mit seinem neuen Roman entführt Patrick Modiano seinen Protagonisten aber zugleich aus diesen Straßen, indem er Margaret schließlich dort wiederzufinden glaubt, wovon sie nie erzählt hat, ihrem Geburtsort Berlin. Und so macht sich Bosmans auf zu einem ganz anderen Horizont, mit dem die Geschichte von Margaret einst begonnen hatte, und der vielleicht über die Gegenwart hinausführt.

    Patrick Modiano: "Der Horizont". Aus dem Französischen von Elisabeth Edl, erscheint im Hanser Verlag, 178 Seiten, 17,90 Euro