Samstag, 27. April 2024

Israel
Benjamin Netanjahu - König und Spalter

Die Knesset hat mit knapper Mehrheit für ein Bündnis um den designierten Regierungschef Naftali Bennett und den bisherigen Oppositionsführer Jair Lapid gestimmt. Damit ist die Ära Netanjahu beendet. Er hat Israel geprägt, aber auch polarisiert.

Von Tim Aßmann | 13.06.2021
    Benjamin Netanjahu im Jahr 2019
    Benjamin Netanjahu wird in Erinnerung bleiben - als erfolgreicher Außen- und Wirtschaftspolitiker, der die israelische Gesellschaft jedoch eher spaltete als einte. (dpa/picture alliance/Ilia Yefimovich)
    Es ist kein neues, aber doch ein sehr ungewohntes Bild für die Israelis: Benjamin Netanjahu wird in der Knesset auf dem Stuhl des Oppositionsführers sitzen. Er hat Israel geprägt, das steht außer Frage. Doch Netanjahu hat auch polarisiert, wie kein Premierminister vor ihm.
    In der Rolle des Oppositionsführers war Benjamin Netanjahu lange nicht mehr. Zuletzt regierte er zwölf Jahre ununterbrochen und in den 1990er-Jahren stand er auch schon einmal rund drei Jahre an der Regierungsspitze. Zusammengenommen war er länger im Amt als Staatsgründer Ben Gurion.

    Politik lag in der Familie

    Benjamin Netanjahu kam am 21. Oktober 1949 in Tel Aviv als zweiter Sohn einer säkularen jüdischen Familie zur Welt. Politik spielte eine große Rolle bei den Netanjahus, vor allem auf der väterlichen, aus Polen stammenden Seite. Der Großvater war Rabbiner und Anhänger der damals jungen zionistischen Bewegung. Netanjahus Vater Benzion, ein Historiker, war Vertreter einer radikalen zionistischen Strömung.
    Sohn Benjamin ging zunächst in Jerusalem zur Schule. Dann zog die Familie in die USA. Seitdem spricht Bibi, perfektes Englisch. Seiner israelischen Heimat blieb der junge Benjamin Netanjahu eng verbunden. In die kehrte er nach dem Schulabschluss in den USA zum Militärdienst zurück, den er in einer angesehenen Eliteeinheit leistete. Netanjahu nahm unter anderem an einer Geiselbefreiung teil und wurde auch im Kampf verwundet.
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    Wendepunkt: Tod des Bruders

    1976 ereilte die Netanjahus ein schwerer Schicksalsschlag, der sie für immer prägen sollte. Der älteste Sohn, Yonathan, fiel als Elitesoldat bei der Befreiung entführter jüdischer Flugzeugpassagiere in Ugandas ehemaliger Hauptstadt Entebbe. Der Tod des älteren Bruders habe seinen Lebensweg für immer verändert, sagte Netanjahu noch Jahrzehnte später. Die Familie gründete eine Stiftung zu Ehren des Gefallenen und kämpfte immer wieder darum, dass "Yoni" in der Öffentlichkeit als Held in Erinnerung blieb.

    Entscheidung für die Politik

    Netanjahu selbst ging zurück in die USA, machte dort einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften und wurde Unternehmensberater. Schließlich entschied er sich aber für die Diplomaten-Laufbahn. Die begann er als stellvertretender Leiter von Israels diplomatischer Vertretung in Washington. Von 1984 bis 1988 vertrat Netanjahu, damals erst Mitte Dreißig, seine Heimat als Botschafter bei den Vereinten Nationen in New York. In seinen Diplomaten-Jahren in den USA knüpfte er enge Kontakte zur dortigen Politik bis hinein in die jeweiligen Regierungen und wurde ein intimer Kenner der politischen Verhältnisse. In dieser Zeit lernte er auch Donald Trump kennen. Sein tiefes Verständnis der Vereinigten Staaten und ihrer Machtstrukturen sollte ihm in seiner politischen Laufbahn immer wieder helfen.

    Beginn der politischen Karriere

    Den Diplomaten Netanjahu zog es in die Spitzenpolitik. Er kämpfte sich in der nationalkonservativen Likud-Partei nach oben, zog ins Parlament ein, bekam erste Posten in der Regierung und übernahm 1993 den Likud-Vorsitz. In dieser Zeit war er auch zum ersten Mal Oppositionsführer. Die Annäherung des damaligen Premierministers Jitzchak Rabin an die Palästinenser im Rahmen des Oslo-Friedensprozesses kritisierte Netanjahu scharf. Nach Rabins Ermordung durch einen jüdischen Fanatiker wurde Netanjahu vorgeworfen, nicht genug gegen die Anti-Rabin-Hetze unternommen zu haben.
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    Erste Amtszeit als Regierungschef

    Im Zeichen palästinensischer Selbstmordanschläge gewann Netanjahu die Wahlen 1996 mit dem Slogan "Netanjahu - einen sicheren Frieden schaffen." Der damals 46-Jährige wurde als jüngster Premier in der israelischen Geschichte vereidigt und als erster, der nach der Staatsgründung geboren wurde. Er machte die Fortsetzung des Dialogs mit der Palästinenserführung von deren Bekämpfung des Terrors abhängig. In Netanjahus Zeit als Regierungschef wurde der Friedensprozess nicht eingestellt, verlor aber an Fahrt.
    Während seiner ersten Amtszeit wurde bereits das liberale Wirtschaftsprofil Netanjahus deutlich. 1999 verpasste er die Wiederwahl und verlor gegen Herausforderer Ehud Barak von der Arbeitspartei. Im Moment der Niederlage verkündete Netanjahu seinen Rückzug vom Likud-Vorsitz. Er erklärte, er wolle sich nun seiner Familie widmen, betonte aber auch, er habe dem Staat Israel noch viel zu geben.

    Politische Rückkehr nach kurzer Auszeit

    Nur drei Jahre später kam er zurück. Der Likud war wieder an der Macht und er zunächst Außen- und später Finanzminister. Er begann radikale Reformen, reduzierte den staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft, liberalisierte die Märkte, kürzte Sozialleistungen und senkte den Spitzensteuersatz. Weil er den von Premierminister Ariel Scharon vorangetriebenen Abzug Israels aus dem Gaza-Streifen ablehnte, trat Netanjahu 2005 als Minister zurück. Wenig später, Scharon hatte die Partei verlassen, wurde er wieder Likud-Chef.
    Im Jahr 2008 forderte Netanjahu den Rücktritt des damaligen Premiers Ehud Olmert als sich gegen diesen eine Korruptionsanklage abzeichnete. Olmert gab auf. Bei den Wahlen 2009 verpasste es der Likud zwar knapp stärkste Kraft zu werden, aber Netanjahu gelang die Bildung einer Koalition mit der er erneut Regierungschef werden konnte. In seiner Dankesrede versprach er, ein Premier aller Israelis sein und die Bevölkerungsgruppen einen zu wollen.
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    Der israelische Historiker Moshe Zimmermann warnt davor, große Hoffnungen in die neue Regierung unter der Führung von Naftali Bennett zu setzen. Langfristig werde es zur Spaltung des Acht-Parteien-Bündnisses kommen, sagte er im Dlf. Die von den Europäern priorisierte Zwei-Staaten-Lösung werde es nicht geben. Auch ein Comeback Netanjahus sei möglich.

    Proteste gegen soziale Missstände

    Israels Wirtschaft, vor allem die IT-Branche boomte. Die Lebenshaltungskosten stiegen allerdings und der Wohnungsmangel verschärfte sich. Im Sommer 2011 gingen Hunderttausende Israelis bei den sogenannten Sozialprotesten gegen die Regierung Netanjahu auf die Straße. Unter diesem Druck versprach der Premier Reformen. Seine Koalition überstand die Krise. Die Ursachen für die Sozialproteste bestehen jedoch bis heute.

    Warnung vor Irans Nuklearstreben

    Außen- und sicherheitspolitisch prägte der Streit um das iranische Atomprogramm Netanjahus zweite Phase an der Regierungsspitze. Er warnte vor einem möglichen Streben Teherans nach Nuklearwaffen, drohte notfalls mit einem militärischen Alleingang Israels. Seine Ablehnung der von US-Präsident Barack Obama vorangetriebenen Verhandlungen über ein Nuklearabkommen belasteten die Beziehungen zu den USA. In einer Rede vor dem US-Kongress sprach sich Netanjahu offen gegen die Gespräch mit dem Iran aus – ein versuchter Eingriff in die amerikanische Politik und ein Affront gegen Obama. Den Abschluss des Abkommens 2015 vermochte Netanjahu jedoch nicht zu verhindern.

    Glänzen im Schatten Trumps

    Vom Machtwechsel im Weißen Haus profitierte Netanjahu wohl wie kein anderer ausländischer Politiker. Auf seinen alten Freund Donald Trump und dessen Berater und Schwiegersohn Jared Kushner hatte er großen Einfluss und das nützte ihm im eigenen Land. Trumps erste Auslandsreise führte nach Israel. Der US-Präsident erkannte den israelischen Anspruch auf das ungeteilte Jerusalem als Hauptstadt und die Golan-Höhen an, stieg aus dem Nuklearabkommen mit dem Iran aus, legte einen für Israel sehr vorteilhaften Plan für einen Nahostfrieden vor und vermittelte schließlich Annäherungsabkommen mit arabischen Staaten. All das festigte Netanjahus Ruf als erfolgreicher Außenpolitiker.

    Erfolgreiche Jahre

    In der israelischen Bevölkerung war Netanjahu zeitweise äußerst populär. "Bibi – König Israels" sangen seine Anhänger. Der Wirtschaft ging es gut und abgesehen von größeren Militäroperationen gegen die Hamas im Gaza-Streifen 2012 und 2014 herrschte sicherheitspolitisch weitgehend Stabilität. Gestützt auf rechtsnationale und streng-religiöse Parteien gewann Netanjahu die Wahlen 2013 und 2015. Er polarisierte allerdings stark, spaltete das Land in rechts und links und hetzte in Wahlkämpfen gegen die arabische Minderheit. Im Likud wurden die moderaten Stimmen leiser. Netanjahu-Widersacher verließen die Partei, gleichzeitig wurden Korruptionsvorwürfe gegen ihn lauter.

    Anklage gegen Bibi

    Nach jahrelangen Ermittlungen klagte die Justiz Netanjahu 2019 wegen Untreue, Betrugs und Bestechlichkeit an. Er soll Luxusgeschenke angenommen und einem Medienunternehmer wettbewerbsrechtliche Vorteile verschafft haben. Beim Prozessbeginn sprach er im Gerichtsgebäude von einer Verschwörung durch Justiz und Medien. Polizeibeamte und Staatsanwälte hätten sich zusammen getan, um einen starken Premierminister des rechten Lagers zu stürzen, erklärte Netanjahu. Er weist die Korruptionsvorwürfe zurück und spricht von einer Hexenjagd.

    Das Land in die Dauerkrise gerissen

    Aus Netanjahus politischem Überlebenskampf wurde die schwerste innenpolitische Krise in der israelischen Geschichte. Viermal wurde in nur gut zwei Jahren gewählt. Viermal verfehlten Netanjahu und seine Partner klare Mehrheiten. Zuletzt wurde es einsamer um den 71-Jährigen. Ehemalige Partner aus dem rechten Lager schlossen sich seinen Gegnern an.
    Seine Anhänger nennen ihn weiter "König Bibi", verehren ihn als politischen Magier, erfolgreichen Außen- und Wirtschaftspolitiker. Seine Gegner verachten ihn als machtbesessen, abgehoben und korrupt. Nun muss Netanjahu, der am längsten amtierende Premier in der israelischen Geschichte, aus der Residenz in Jerusalem ausziehen. Politisch am Ende ist er damit wohl noch nicht. Er wird in Erinnerung bleiben als erfolgreicher Außen- und Wirtschaftspolitiker, aber auch als ein Premierminister, der die israelische Gesellschaft eher spaltete als einte.