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Gauck als Regierungskandidat hätte "Charme gehabt"

Der ehemalige Bürgerrechtler Rainer Eppelmann hätte es begrüßt, wenn CDU, CSU und FDP "auf den Gedanken gekommen wären, Joachim Gauck vorzuschlagen und nicht Christian Wulff". Nichtsdestotrotz seien beide Kandidaten "respektable Persönlichkeiten".

Rainer Eppelmann im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 17.06.2010
    Dirk-Oliver Heckmann: Es hatte klein begonnen, reichte aber aus, um ein ganzes Regime ins Wanken zu bringen. Im Juni 1953 machten sich Bauarbeiter aus dem Berliner Bezirk Friedrichshain auf den Weg zum Amtssitz des damaligen DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl. Der Grund ihres Protestes: Sie wollten einen Protestbrief gegen die jüngsten Normerhöhungen übergeben, also gegen die Entscheidung der Staats- und Parteiführung, den Arbeitsdruck auf die sogenannten Werktätigen erneut zu verschärfen. Der Ausgang ist bekannt: Die Proteste weiteten sich im ganzen Land aus, bis sowjetische Soldaten und Volkspolizisten den Aufstand niederschossen. Mindestens 55 Menschen wurden getötet bei der Niederschlagung des DDR-Volksaufstands von 1953, weitere 20 Todesfälle sind ungeklärt. Vermutlich wurden etwa 1600 Menschen ins Gefängnis gesteckt. Die Ehefrauen der Verurteilten wurden oft zur Scheidung gedrängt, ihnen wurde mit der Wegnahme der Kinder gedroht. Der Appell, ausgerufen aus dem Westteil der Stadt, war nicht erfolgreich. Der Aufstand in der DDR ist gewaltsam niedergeschlagen worden. – Am Telefon begrüße ich jetzt zum Jahrestag Rainer Eppelmann, zu DDR-Zeiten Bürgerrechtler, Mitbegründer und Vorsitzender des Demokratischen Aufbruchs, Minister in der zweiten Regierung Hans Modrow und in der Regierung Lothar de Maizière, Volkskammer- und Bundestagsabgeordneter, ehemaliges CDU-Präsidiumsmitglied und jetzt Vorsitzender der Stiftung "Aufarbeitung des SED-Regimes". Schönen guten Tag, Herr Eppelmann.

    Rainer Eppelmann: Schönen guten Tag auch Ihnen!

    Heckmann: Herr Eppelmann, Sie waren am 17. Juni 1953 zehn Jahre alt. Kommen da Bilder in Ihnen hoch, wenn Sie diese O-Töne hören?

    Eppelmann: Ja, dunkle Bilder, zum Beispiel Worte meines Vaters, der Zuschauer dabei gewesen ist, nicht Teilnehmer, aber Zuschauer und nach Hause kam und erzählte, dass sowjetische Panzer unbewaffnete Männer, Frauen und Jugendliche verjagt haben, auseinandergetrieben haben oder sogar getötet haben, und ich kann mich dann noch erinnern, dass ein solcher Panzer am 18. Juni durch die Maximilianstraße in Berlin-Pankow fuhr, in der wir wohnten, offen, oben die ein oder zwei Soldaten der Roten Armee schauten da raus, und auf dem Balkon auf der Straßenseite stand ein älteres Ehepaar und winkte diesem Panzer und seiner Besatzung begeistert zu, und das hat mich Zehnjährigen geschockt, dass es Leute gibt, die denen zuwinken können, obwohl mir mein Vater erzählt hatte, dass die gerade Menschen getötet haben. Das ist im Grunde die einzige Erinnerung, die ich selbst als Zehnjähriger an den 17. Juni 1953 habe.

    Heckmann: Wie ist das Ganze denn bei Ihnen emotional angekommen, als Sie dann auch erfahren haben, dass es zu Toten gekommen ist?

    Eppelmann: Ja. Das stärkste Bild war tatsächlich das, das ich Ihnen jetzt beschrieben habe. Das für mich emotional viel stärkere ist der 13. August 1961 gewesen, als es praktisch staatlich verordnetes Unrecht gegeben hat in dem Beschluss, wir sperren jetzt alle ein und wir nehmen den Menschen ihr elementarstes Grundrecht, einen Platz, eine Situation verlassen zu können, wenn man es in ihr nicht mehr aushält und sagt, hier muss ich verrecken, hier muss ich sterben, das halte ich nicht mehr aus.

    Heckmann: Als die Mauer dann gebaut wurde.

    Eppelmann: So ist es! Die SED-Oberen haben beschlossen, selbst wenn unsere Bürger jetzt ersticken sollten, dann müssen sie eben verrecken, wir lassen sie um unseret Willen nicht raus. Von daher ist für mich das von der Anlage her ein Unrechtsstaat. Es ging bloß um Machterhaltung und Privilegienerhaltung für diejenigen, die regierten.

    Heckmann: Dazu kommen wir sicherlich gleich noch mal. – Kommen wir noch mal zurück zum Jahr 1953. Es heißt immer wieder, dass zum ersten Mal die DDR-Bevölkerung die Erfahrung gemacht hat, dass die Machthaber ein Stück weit jedenfalls wankten. War das so?

    Eppelmann: Ja, ich meine schon. Sie sind gestürzt gewesen. In dem Augenblick, als in Berlin zum Beispiel – das ist ja nur einer von 600 Orten und Städten in der DDR gewesen, in denen die DDR-Bürger auf die Straße gegangen sind -, als die rote Fahne vom Brandenburger Tor runtergenommen worden ist und die Demonstranten das Haus der Ministerien stürmen wollten, fanden sie das leer vor. Die darin arbeitenden Minister der Grotewohl-Regierung hatten längst dieses Haus verlassen und hatten sich unter den Schutz der sowjetischen Truppen in Berlin-Karlshorst begeben. Also die Regierung war gestürzt, praktisch gestürzt, und wenn sowjetische Panzer nicht eingegriffen hätten, hätte es schon am 17. Juni 1953 eine erfolgreiche Revolution in der DDR gegeben.

    Heckmann: Also das Ganze sozusagen, Herr Eppelmann, ein Vorspiel, ein frühes Vorspiel zu 1989?

    Eppelmann: Ja, kann man so sagen. Es hat ja mehrere Vorspiele gegeben in Mittel- und Osteuropa: 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei, 1960, 1970, 1980 dreimal in Polen, immer misslungen, und dann im Herbst 1989 ist es das erste Mal in all diesen Ländern - zum großen Teil sogar friedvoll - gelungen.

    Heckmann: Herr Eppelmann, bis zur Wiedervereinigung war der 17. Juni in Westdeutschland, in der Bundesrepublik Gedenktag, nationaler Feiertag. Seit der Wiedervereinigung ist der 3. Oktober Feiertag, der Tag des Zusammenschlusses der beiden deutschen Staaten. Haben Sie das Gefühl, dass dadurch, dass dieser Feiertag auch verschoben worden ist, die Erinnerung an die Opfer des DDR-Regimes ein Stück weit auf der Strecke geblieben sind?

    Eppelmann: Die Gefahr hat bestanden, da gebe ich Ihnen recht. Das ist aber meiner Meinung nach zum Glück aufgehalten worden durch eine vielfältige Erinnerung, richtig bevölkerungsweit und gesamtdeutschlandweit, im 50. Jahr, als am 17. Juni erinnert worden ist, also 2003, und ich glaube, wir sind heute sehr viel besser informiert über das, was am 17. Juni 1953 in der DDR passierte, als man das noch vor fünf oder sechs Jahren im vereinigten Deutschland wusste.

    Heckmann: Gilt das auch für junge Menschen? Da gibt es ja neuere Studien, die immer wieder belegen, dass die Kenntnisse über die DDR-Geschichte sehr gering sind.

    Eppelmann: Nicht bloß der DDR-Geschichte, deutscher Nachkriegsgeschichte überhaupt. Man darf sich nicht blenden lassen. Die wissen nicht, wer Erich Honecker war, ein Fünftel der Jugendlichen die wissen nicht, wer Wolf Biermann war, aber genauso viele wissen auch nicht, wer Willy Brandt war. Also wir müssen im Grunde den danach geborenen, also den nach 1990 geborenen, eine Chance geben, dass sie das, was unser Leben maßgeblich mitbestimmt hat, egal ob wir jetzt in Westdeutschland gelebt haben oder in der DDR gelebt haben, das, was uns da geprägt hat, was wir da für Lehren draus gezogen haben, dass sie das ein Stück weit von uns vermittelt bekommen. Sonst wäre es im Grunde ein Leben, das wir vergessen haben, ihnen weiterzugeben.

    Heckmann: Die frühere SPD-Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan, die hat heute im Bundestag gesagt, zurück in eine Diktatur wolle heute kaum einer, aber viele plagten heftige Zweifel an der Fähigkeit der politischen Demokratie, die drängenden Probleme zu lösen. Es steht zwar kein neuer 17. Juni bevor, doch dass es unter der Oberfläche gärt, das könne niemand abstreiten. Sehen Sie auch Parallelen zur heutigen Situation im Vergleich zu 1953?

    Eppelmann: Mir fällt es schwer, an der Stelle von Parallelen zu sprechen. Ich gebe Gesine Schwan recht, dass wir die Gefahr einer Revolution in der Bundesrepublik Deutschland heute meiner Meinung nach gegenwärtig nicht haben, aber es stimmt ganz sicher, dass es Menschen gibt, die berechtigterweise sagen können, gestern ging es mir besser, als es mir heute geht, spielen die Fragen von sozialer Ausgewogenheit und Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft noch die bedeutende Rolle, die sie vor zehn Jahren gespielt haben. Die meisten Menschen begreifen, dass auch die Situation der Bundesrepublik Deutschland international betrachtet, was den Wettbewerb und den Lebensstandard und unsere Lebenschancen und Möglichkeiten angeht, heute komplizierter ist als vor der Zeit der Globalisierung, aber sie bezweifeln sehr, sehr nachdenklich, ob heutige Politik nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland – das ist ja ein Problem und eine Fragestellung, die in anderen Ländern noch viel dramatischer ansteht als bei uns; nehmen Sie bloß mal Griechenland oder Spanien oder Irland; jedenfalls ein Problem, das sicher auch ein Stück weit was mit dem System zu tun hat. Offensichtlich steht tatsächlich in vielen Fällen das Geld im Mittelpunkt - das gilt für die normalen Menschen auch – und nicht mehr so, wie es etwa die Sozialpolitiker sagen, wenn sie sagen, der Mensch steht im Mittelpunkt.

    Heckmann: Herr Eppelmann, am 30. Juni – sorry, wenn ich dazwischen gehe – wählt die Bundesversammlung einen neuen Bundespräsidenten. Da steht der CDU-Kandidat Christian Wulff gegen den ehemaligen Bürgerrechtler Joachim Gauck. Wenn Sie in der Bundesversammlung sitzen würden, dann würden zwei Herzen in Ihrer Brust schlagen, oder?

    Eppelmann: Das ist schon möglich, aber nun sitze ich ja in dieser Versammlung nicht. Ich muss sagen, das sind beides respektable Persönlichkeiten. Ich kann nicht verhehlen, dass ich mich sehr gefreut hätte und das sehr charmant gefunden hätte, wenn CDU, CSU und FDP, die die Mehrheit in dieser Versammlung haben, auf den Gedanken gekommen wären, Joachim Gauck vorzuschlagen und nicht Christian Wulff, wobei ich überhaupt nichts gegen Christian Wulff sage. Wenn er gewählt wird, wovon ich ausgehe, wird er ganz sicher ein guter und respektabler Bundespräsident werden. Aber Joachim Gauck hätte, wenn er von dem stärkeren Bündnis vorgeschlagen worden wäre, einen echten Charme gehabt. Das gebe ich ehrlich zu.

    Heckmann: Linken-Promi Oskar Lafontaine hat Herrn Gauck vorgeworfen, er habe zu denjenigen gehört, die von der Stasi auch Privilegien erhalten haben. Wie viel Wahrheit und wie viel Verleumdung steckt in dieser Aussage?

    Eppelmann: Da steckt meines Wissens nur Verleumdung drin. Das ist möglicherweise eine Information, die Herrn Lafontaine von einschlägig interessierten Personen zugesteckt worden ist. Ich weiß um einen Gerichtsfall zwischen der auch nicht ganz sauberen Gestalt von Peter-Michael Diestel und Joachim Gauck - da hat man sich außergerichtlich geeinigt -, weil der Michael Diestel das damals mal behauptet hat. Der hat aber praktisch denn eine hohe Geldstrafe dafür bezahlen müssen. Das heißt, es ist eindeutig belegt, dass Joachim Gauck an der Stelle sauber und unbelastet ist.

    Heckmann: In den "Informationen am Mittag" haben wir gesprochen mit Rainer Eppelmann, dem Vorsitzenden der Stiftung "Aufarbeitung des SED-Regimes". Herr Eppelmann, ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch.

    Eppelmann: Ja! Bitte schön, ich Ihnen auch. Auf Wiederhören!