Donnerstag, 02. Mai 2024

Archiv


Gauck

Matthias Thiel | 24.09.2000
    Thiel: Zehn Jahre deutsche Einheit heißt auch zehn Jahre Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR - so der offizielle Titel. Diese Behörde wird immer mit Ihrem Namen verbunden, Joachim Gauck. In gut einer Woche endet Ihre zweite Amtszeit; eine erneute Verlängerung lässt das Gesetz nicht zu. Mit welchen Gefühlen verlassen Sie das Haus?

    Gauck: Ja, das ist ein Gefühlsmix. Ich bin natürlich auch urlaubsreif und freue mich auf eine Zeit der Entspannung. Aber gerade beim Abschied nehmen in den Außenstellen meiner Behörde ist doch gelegentlich so etwas wie Wehmut hochgekommen. Das denkt man vielleicht gar nicht, weil meine Arbeit immer mit recht in Zusammenhang gesehen wird mit diesen widerwärtigen Stasi-Akten. Aber es gibt halt auch knapp 3.000 Menschen, die seit vielen Jahren daran arbeiten, die Anträge der Betroffenen zu bearbeiten, der Medien und all, die ein Recht haben, diese Unterlagen zu sehen. Und das sind tolle Leute. Die haben das nicht gelernt früher, ein Stasi-Archiv zu verwalten und die Staatssicherheit aufzulösen - sozusagen. Es sind sensible, oft lebensältere Frauen aus der früheren DDR - weit über 95 Prozent der bei uns Beschäftigten sind ‚Ossis'. So ist meine Arbeit draußen und die Leistung der sehr sorgfältig arbeitenden Rechercheure und Betreuer bei Akteneinsicht drinnen als Ganzes zu sehen. Und das scheint uns ja ganz gut gelungen zu sein.

    Thiel: Damit sind wir beim Rückblick - und vielleicht dann auch später beim Ausblick. Ihre Bilanz: Was ist liegengeblieben, was hätten Sie gerne noch erreicht oder umgesetzt?

    Gauck: Vieles ist einfach noch nicht erledigt. Das geht da los, wo wir einfach der Öffentlichkeit immer mal wieder sagen müssen - und alle zwei Jahre müssen wir's ganz offiziell in einem Bericht dann dem Deutschen Bundestag sagen - wie weit die archivische Aufarbeitung etwa vorangegangen ist. Und wenn ich gehe, dann wird immer noch ein Viertel der 180 Km Unterlagen nicht in der archivischen Ordnung sein, wie unsere Archivare das gerne hätten. Das hängt damit zusammen, dass die vielen Mitarbeiter in Berlin und in den Außenstellen eben nicht nur im Archiv arbeiten und ordnen, sondern sie nehmen Anträge entgegen, schreiben Briefe, begleiten Leute bei der Akteneinsicht, bereiten Akteneinsicht vor und beantworten Ersuchen von öffentlichen Stellen bei der Überprüfung. Es gibt also ein ganz differenziertes Handlungsspektrum, und daher gibt es diesen Rückstand. Der nächste große Rückstand, der mich ärgert, ist die Tatsache, dass viele Leute drei Jahre, manche sogar noch ein wenig länger, darauf warten, dass sie endlich Akteneinsicht bekommen. Das hängt nun mit einer an und für sich erfreulichen Tatsache zusammen, nämlich der, dass wir jeden Monat gut 10.000 Anträge bekommen aus diesem Bereich von Personen, die wissen wollen, ob sie in den Akten vorkommen oder die Decknamen entschlüsselt haben wollen. Das sind mehr Anträge als im Jahre 98; schon 99 hat dieser Trend sich gezeigt. Und daher konnten wir die Altanträge noch nicht völlig abarbeiten. Also, damit kann man dann nicht so zufrieden sein. Dann gibt es noch etwas weiteres: Ich hätte gern gesehen, dass zum Ende meiner Amtszeit wir den Teil unserer Arbeit, wo wir die Öffentlichkeit informieren über Struktur und Wirkungsweise des MfS, wo wir also politische Bildung betreiben, dass wir den verstärken könnten - auch unsere Forschungsabteilung. Aber das können wir nicht, weil es zu viele Anträge gibt, denn diese 10.000 sind nicht alles, was wir monatlich bekommen. Noch einmal dieselbe Zahl kommt von öffentlichen Stellen an. Also, es ist wirklich genug zu tun. Die Deutschen haben dies Gesetz angenommen.

    Thiel: Haben Sie zu wenig Personal?

    Gauck: Ja, die, die warten müssen, sehen das so. Der Finanzminister sieht das nicht so. Meine Mitarbeiterinnen in den Archiven haben oft schon Engpässe. Wir versuchen dann aus anderen Bereichen Leute umzuschulen, um die Tätigkeiten im Archiv qualifiziert dann fortzusetzen - wenn zum Beispiel lebensältere Mitarbeiterinnen ausscheiden. Ich habe gerade gestern einen Blumenstrauß bekommen von einem älteren Beschäftigten, der einfach nochmal ‚danke' sagen wollte beim Chef persönlich, dass wir so viele über 50 eingestellt haben. Und so haben wir einfach - nicht wegen des Finanzministers, sondern aufgrund unserer Einstellungspolitik auch Personal verloren. Und deshalb fehlt es uns. Aber bei der Kassenlage des Bundes wollen wir jetzt nicht unbescheiden sein, sondern sagen: Wir arbeiten mit dem Personal, das wir haben.

    Thiel: Was war denn in den letzten 10 Jahren für Sie persönlich die größte Belastung oder Enttäuschung? Die ständig wiederholten Verdächtigungen und Anfeindungen gegen Ihre Person?

    Gauck: Ach, das hielt sich ja in Grenzen. Und das Lager, aus dem diese Anfeindungen kamen, das waren doch häufig die, die man nicht so ernst nehmen kann - Diestel und Konsorten. Also, da braucht man auch nicht so besonders furchtsam zu sein. Solange man gute Freunde hat in der seriösen Politik, und zwar in allen Parteien - lassen wir mal die PDS ein bisschen außen vor -, erträgt man das mit den Feinden ganz gut. Und es gibt wenige Politiker, die eine so breite Unterstützung für ihr Anliegen haben, wie ich es in den letzten Jahren gefunden habe, nicht nur bei meiner Wiederwahl im Deutschen Bundestag. Auch jetzt das Angebot, das Gesetz ein wenig zu verändern, damit ich noch einmal fünf Jahre machen kann, kam aus dem Deutschen Bundestag. Ich habe das abgewiesen, weil mein Demokratieverständnis ein anderes ist. Ich mag nicht, dass ein gutes Gesetz wegen einer Personalie geändert wird. Aber das sind alles Vertrauensbeweise, und das wird sich auch jetzt wieder zeigen, wenn meine Nachfolgerin Marianne Birthler vom Deutschen Bundestag gewählt wird, dass über die aktuelle Koalition hinaus eine Unterstützung dieser Arbeit im Deutschen Bundestag gegeben ist. Ich habe das eine ‚Koalition der Vernunft in Fragen der Vergangenheitspolitik' genannt. Wir wollen in Deutschland eben keinen Schlussstrich, und das wollten wir 90 nicht - vor der Einheit, und das wollten wir nach der Einheit nicht. Es gibt kleinere Schlussstriche, die man auch akzeptieren kann, zum Beispiel Verjährungsfristen. Darüber hinaus aber so etwas wie einen generellen Schlussstrich zu haben, dafür gibt es keine Mehrheiten in Deutschland, weil Schlussstrich eine harte Politik ist und begünstigt immer die Interessen derer, die früher gegen das Volk geherrscht haben. Und aus diesem Grunde gibt es nur Einzelstimmen, die diesen Schlussstrich wollen Von daher diese Sache mit den Angriffen - das erledigt sich dann.

    Thiel: Sind Sie in diesem Zusammenhang eigentlich zufrieden mit der Umsetzung Ihrer Recherche-Ergebnisse, was die IMs betrifft? Das ist . . .

    Gauck:. . . nicht immer, nein. Das ist ja auch deutlich geworden, dass Personen, die zu DDR-Zeiten doch in einiger Verstrickung mit der Staatssicherheit gelebt haben, nicht alle aus dem öffentlichen Dienst oder aus der Politik herausgegangen sind, wenn eine Mehrheit oder manchmal auch eine Minderheit das für angezeigt hielt. Es sind bekannte und weniger bekannte Namen. Sie erinnern sich sehr gut an die Debatten im Zusammenhang mit der Überprüfung des Ministerpräsidenten Stolpe; Sie erinnern sich, dass Gregor Gysi versucht hat, die Ausarbeitung meiner Behörde zu seiner Person vor Gericht in Berlin anzugreifen - und wie ihm das misslungen ist. Gleichwohl sind wir ja nicht Richter, das wollen wir auch nicht sein. Wir können nicht dafür sorgen, dass die Ergebnisse unserer Recherche auch in dieser oder jener Weise umgesetzt werden. Das heißt, ich gebe die seriösen Arbeitsergebnisse meines Hauses heraus an berechtigte Nutzer, und dann enden meine Kompetenzen. Ich kann mich dann auch verteidigen, wenn wir angegriffen werden oder wenn IM von einst eine Deutungshoheit beanspruchen, als dürften sie und die Offiziere der Stasi alleine uns erklären, was Stasi war. So ist es nun nicht. Das deutsche Parlament möchte gerne, dass der Bundesbeauftragte die Öffentlichkeit informiert darüber, was die Staatssicherheit alles so angerichtet hat. Und deshalb habe ich mich immer gemeldet. Meine Nachfolgerin wird das genau so tun, wenn krude Theorien oder Rückzugsgefechte der ehemals Verstrickten an die Öffentlichkeit gelangen. Da werden wir uns einmischen.

    Thiel: Auf der anderen Seite muss man natürlich auch nach den Erfolgen fragen. Wo sehen Sie die?

    Gauck: Ja, Erfolge sind schon da; ich komme gleich darauf zurück. Ich wollte jetzt erst mal abweisen, dass ich nicht derjenige bin, der nun - manchmal hat man mich ja ‚Großinquisitor' gescholten - richterliche Funktionen beansprucht. Ich will das gar nicht. Jetzt mal zu dem, was ich wirklich bemerkenswert finde: Es ist eine wirklich historische Leistung, dass ein Gesetzgeber mal die Interessen der Herrscher von einst und die Persönlichkeitsrechte der Oberschicht hinten anstellt und sagt: ‚Nein, die Interessen der Opfer von einst sind für uns wichtiger'. Wir haben es nach 90 eben geschafft - anders als nach dem Kriege -, dass die Opfer nicht wie Bettler vor verschlossenen Archivtüren standen und die Persönlichkeitsrechte der Herren von einst praktisch der Öffnung der Archive im Wege standen. Das ist ein großer Erfolg. Damit verbunden war eine Säuberung des öffentlichen Dienstes von Menschen, die schwer belastet waren. Typen wie Wolfgang Schnur - das wäre doch unser erster Ministerpräsident geworden -, ein wirklich hartnäckiger, ganz unangenehmer Verräter, der Vertrauen in einer Weise gebrochen hat, wie es wirklich selten vorkommt; oder Ibrahim Böhme, der zeitweilig Chef der ostdeutschen Sozialdemokraten war. Diese Leute sind durch die Öffnung der Akten dorthin verwiesen worden, wo sie hingehören - in eine Ecke der Politik und der Geschichte. Und andere Verräter, die heimtückisch ihre Landsleute von hinten angegriffen haben, aus dem Dunkel heraus denunziert haben: Sie konnten dann nicht mehr Lehrer, Richter, manchmal auch Polizisten sein. Letzteres ist aber mit Augenmaß geschehen. In der Berliner Lehrerschaft sind mehr als drei Viertel der ehemaligen IM weiterbeschäftigt. Das gefällt nun natürlich auch nicht jedem Ostberliner Vater und jeder Ostberliner Mutter, die noch Kinder in der Schule hat. Andererseits ist es ein gutes Argument gegen diejenigen, die sagen: Es hat so etwas wie eine Hexenjagd gegeben. So sieht man, dass wir uns bemüht haben bei dieser partiellen Durchleuchtung des öffentlichen Dienstes. Eine Entkommunisierung hat es nicht gegeben, war auch nicht beabsichtigt. Da muss man auch mal immer drauf hinweisen: Die 2,3 Millionen Genossen samt ihren Parteisekretären leben zum Teil ja in sehr privilegierter Situation in unkündbaren Stellungen im öffentlichen Dienst. Auch das wollen wir in der Nähe dieses Jubiläumstages nicht vergessen - viel Anlass zur Dankbarkeit für sehr viele Mitglieder der einstigen SED.

    Thiel: In diesem Jahr ist Ihre Behörde wieder in die Schlagzeilen geraten. Der Streit um die Herausgabe der Abhörprotokolle hält an. Es ist der Eindruck entstanden, Helmut Kohl würde die Durchsicht seiner Akten verzögern, um eine schnelle Herausgabe an Journalisten oder Wissenschaftler zu verzögern. Wie lange kann sich das Verfahren Ihrer Meinung nach noch hinziehen?

    Gauck: Selbstverständlich hat der Bürger und Antragsteller Helmut Kohl das Recht, die Akteneinsicht so zu gestalten, wie er es seinem Terminkalender anpassen kann. Dieses Recht haben ja alle anderen auch. Somit werden wir ganz gewiss nicht in der Öffentlichkeit darüber Klage führen, wenn Helmut Kohl nicht an einem Tag seine Akteneinsicht beenden kann. Das machen wir bei anderen Leuten auch nicht. Ich denke, er ist selber klug genug um zu wissen, dass er das nun nicht zwei Jahre hinauszögern kann, denn soviel Unterlagen sind es ja nun auch wieder nicht.

    Thiel: Es gibt ja unterschiedliche Rechtsauffassungen zur Herausgabe von Telefonabhörprotokollen. Sie sagen kategorisch ‚ja - öffentliche Person; Privates Nein'. Hat sich Ihre Position durch die zum Teil ja sehr heftigen Diskussionen in der letzten Zeit da verändert?

    Gauck: Nein, zumal schon aus dem Grund nicht, weil ein Teil der Debatten über das Stasi-Thema ja immer Lagerdebatten sind. Da sind die Parteigänger der jeweils betroffenen Personen dann mit den Argumenten nicht immer auf der Ebene der Rechtsdebatte, sondern da geht es um politische Interessen. Da wird oft grobschlächtig argumentiert. Das kennen wir und das ist für uns nicht neu. Es ist ein wirklich interessantes Rechtsproblem. Da soll man nicht so tun, als ginge es hier nur darum, dass der Altkanzler eine Show abzieht - nein, er hat ein Problem. Und das hat jeder andere, der ein Opfer der Staatssicherheit ist, auch in solcher Situation. Der Bundesbeauftragte kann nun aber nicht - weil er die Verdienste von Helmut Kohl würdigt oder weil er sieht, dass er hier einer der Betroffenen ist - einfach über eine Stelle des Gesetzes hinweglesen, in der geschrieben steht, dass Unterlagen über Personen der Zeitgeschichte für bestimmte Zwecke herauszugeben und zu nutzen sind. Und wir interpretieren nun diesen Passus des Gesetzes so, dass in den Bereichen, in denen diese Personen der Zeitgeschichte privat agieren, wo sie in ihrer Privatheit ausgespäht sind, dass diese Informationen privat bleiben. Und all das, was die betreffende Person in ihrem Wirken in der Öffentlichkeit zeigt, wäre dann nicht geschützt, denn im Gesetz lesen wir nicht, dass Abhörprotokolle oder Zusammenfassungen nun eine besondere Kategorie wären. Eine solche Begriffsbestimmung enthält das Gesetz nicht.

    Thiel: Darauf legt aber der Datenschutzbeauftragte sehr großen Wert.

    Gauck: Ja, es gibt eben Juristen, deren Auffassung ist dichter am gemeinten Text, und andere sind weiter entfernt. Nach unserer Meinung irrt er hier. Aber ob es eine gerichtliche Auseinandersetzung geben wird, das ist ja noch offen.

    Thiel: Herr Gauck, häufig wird Ihre Behörde immer wieder nur mit den Altlasten aus DDR-Zeiten verbunden. Besteht hier nicht ein Defizit? Müssen westliche Verstrickungen nicht auch sehr viel intensiver noch beleuchtet werden?

    Gauck: Ja, das ist offensichtlich so, dass es schon lange an der Zeit ist, auch die Verstrickungen des Westens ernster zu nehmen. Natürlich hat die Stasi nicht im Westen in jeder Kreisstadt eine Kreisdienststelle gehabt; sie hatte nicht so viele IM im Westen, und sie war auch kein Machtfaktor wie im Osten. Gleichwohl war sie recht erfolgreich. Wir haben schon vor Jahren hochgerechnet, dass 20-30.000 IM in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vom Westen aus die Staatssicherheit und die SED unterstützt haben - ein peinliches Ergebnis, dass so viele Menschen bereit waren, mit unseren Unterdrückern gemeinsame Sache zu machen, oftmals erhebliche Geldsummen von denen zu kassieren. Und es ist schon erstaunlich, dass eine Reihe von Verfahren gegen Spione der Staatssicherheit auf ein ganz geringes Publikumsinteresse gestoßen sind. Die Wahrnehmung also von IM-Tätigkeit Ost und West ist schon unterschiedlich. Es kann sein, dass der Stadtgärtner aus Leipzig eine größere Aufmerksamkeit erlangt als der große Spion, der in der NATO tätig war. Und das lieben die Ossis natürlich nicht, wenn man bei ihnen Stasi-Tätigkeit als schmutzig und widerwärtig charakterisiert und im Westen - na ja, so etwas ähnliches ‚wie 007 vielleicht, war vielleicht nicht nett, aber irgendwie wahrscheinlich reizvoll'. Das ist natürlich schrecklich, ein solcher Unterschied in der Beurteilung, und den gibt's schon - natürlich nicht bei Wissenschaftlern, aber so in der allgemeinen Betrachtung wird das Ganze leicht dem Osten zugewiesen. Es gibt aber keine Charaktermauer zwischen den Deutschen, und der Verrat war auch hier nicht Nationaltugend, sondern 1 Prozent der aktuellen DDR-Menschen hat vielleicht als IM der Stasi gedient. Im Westen gibt's halt auch genug Verräter. Und das gehört ins Bewusstsein der Nation.

    Thiel: Die Staatssicherheit ist durchleuchtet; vielleicht wissen wir vieles, nicht alles - aber zumindest mal das Wichtigste. Nicht so über die SED. Sehen Sie da auch ein Defizit? Hätte vielleicht vor 11 Jahren die Aufarbeitung hier an dieser Stelle bei Ihnen in der Behörde zusammengelegt werden müssen?

    Gauck: Nun, ich gehöre zu den Abgeordneten, die 1990 in der Volkskammer einer Entkommunisierung nicht das Wort geredet haben. Das erschien mir nicht angemessen. Ich denke, dass ich recht damit hatte. Die meisten Abgeordneten haben das so gesehen. Wir hatten zwar 2,3 Millionen SED-Genossen, und viele von denen waren schon recht unerträglich in ihrer Arroganz, aber doch nicht alle. Viele sind als Arzt oder Ingenieur halt in diese Partei gegangen - ich selber komme aus einer Seemannsfamilie, und an Bord war es Gang und Gäbe, dass die Offiziere halt in die Partei gingen, damit sie Kapitän oder Chefingenieur an Bord wurden. Und so ist das in vielen Bereichen gewesen. Und die wollten wir nicht alle aus dem öffentlichen Dienst rausprüfen. Wir hätten ja mehr Unruhe und Ungerechtigkeit geschaffen, als wenn wir sie nun gelassen haben. Aber falsch war, die Verantwortlichen in der SED nicht einer speziellen Betrachtung zu unterziehen. Wir hätten die Mitglieder des Zentralkomitees - ich wiederhole mich, aber ich sage das seit vielen Jahren - wir hätten die Mitglieder der Bezirksleitungen der SED, der Kreisleitungen, wir hätten sie als Hauptverantwortliche und tatsächliche Inhaber der Macht doch zumindest jenen gleichstellen sollen, die wir jetzt aus dem öffentlichen Dienst zum Teil herausprüfen. Man hätte sagen können - in Abwandlung der Praxis der Tschechen -: ‚Die gehören nicht in den öffentlichen Dienst, sie sind nicht vertrauenswürdig genug, sie sind nicht geeignet'. Die Tschechen haben ja die ganzen Parteikader einer Lustration - wie sie sagen - unterzogen und haben uns Deutsche dann gefragt: ‚Schlagt Ihr nicht die Knechte statt der Herren?' Nun müssen wir sagen: In Deutschland hat etwa der Deutsche Bundestag in zwei Enquetekommissionen durchaus die Rolle der Partei gewürdigt, aber es gibt nun mal kein Spezialamt zur Beschäftigung mit den ehemaligen in der SED. Und deshalb ist in den Medien die Tätigkeit dieser Behörde stärker berücksichtigt worden als die Ergebnisse der Enquetekommission des Deutschen Bundestages - die vorliegen in 19 Bänden, da kann man nachschlagen, was wir wissen, und dann kann man die Lehrbücher holen . . .

    Thiel:. . . das steht doch nur in den Bibliotheken rum . . .

    Gauck:. . . ja, so ist es. Und das, was wir machen, hat dann oft zur Folge, dass man über die IM berichten konnte in der Zeitung. Und jetzt müssen wir halt sehen, wie wir zu einer nüchternen Betrachtung gelangen.

    Thiel: Herr Gauck, zehn Jahre deutsche Einheit. Trotzdem sind Ost und West sich immer noch fremd. Warum eigentlich? Ist da was schiefgelaufen?

    Gauck: Na ja, immer läuft irgendwas schief. Aber welcher Politiker hätte denn nun die Gabe, alles zu richten, wie unsere Träume sind. Das funktioniert nicht. Es gibt dicke Bücher, die über die Fehler des Vereinigungsprozesses geschrieben sind; mancher hat die Fehler sogar ‚Todsünden' genannt. Andere sagen ‚nein, wir haben Grund zur Freude'. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Wir haben Grund zur Freude - und zu einer Sorge, gerade gegenüber denen, die nicht mitgekommen sind auf den Erfolgstrip. Und wissen Sie, dass ist etwas, was unsere Bevölkerung im Osten unterscheidet von der Bevölkerung der frühen Nachkriegsjahre, als im Westen langsam das Wirtschaftswunder alle - aber wirklich auch alle - Bereiche der Bevölkerung umfasst. Natürlich kann nicht jeder gleich in einen Borgward-Isabella steigen, sondern einige haben nur einen Messerschmidt-Kabinenroller. Aber es gibt im Grunde eine Dynamik einer positiven Entwicklung im Bereich der Ökonomie. Alle haben irgendwie daran teil; sehr viele Arbeitnehmer fangen sogar schon an, Häuser zu bauen. Und Schritt für Schritt zieht das Wirtschaftswunder die Leute rein in die Demokratie. Und bei uns ist es so, dass strukturpolitische Fehler der Regierung nach der Einheit doch eine sehr langsame Wiederbesiedlung der devastierten Wirtschaftsbereiche im Osten nur nach sich gezogen hat. Vielleicht wäre hier eine etwas ungerechtere Steuerpolitik zugunsten bestimmter Industrien oder bestimmter Wirtschaftsbereiche im Osten angezeigt gewesen, um mehr Leute einzubeziehen in den wirtschaftlichen Erfolg. So viel zum Kritischen. Generell gilt: Reisen lohnt sich. Und wenn wir aus dem Osten öfter mal in die Gebiete reisen würden, in die wir früher allein reisen durften - in den Osten -, dann würden wir spüren, wie groß die Augen unserer östlichen Nachbarn sind, wenn sie auf Ostdeutschland schauen. Es ist hier doch ein so hoher Lebensstandard und Politikstandard erreicht, eine so hohe Rechtssicherheit, dass viele, die in Polen und in der Ukraine, auch in Tschechien und in Ungarn leben - geschweige von Bulgarien und Rumänien und dem Balkan -, dass die doch sagen: ‚Mensch, hätten wir's doch wie die Ostdeutschen'. Und so - aufs Ganze gesehen - können wir da doch einen Feiertag begehen am 3. Oktober, in der Hoffnung, dass wir nun nicht die Hände in den Schoß legen, und die, die arbeitslos sind, auch irgendwie mitziehen und den schwachen Strukturen - gerade in den flachen Ländern des Ostens - aufhelfen.

    Thiel: Der Bundesbeauftragte geht in Pension. Bleiben Sie trotzdem der Aufgabe treu, werden Sie sich weiter einmischen?

    Gauck: Nun, ich werde mich nicht einmischen in den Kernbereich der Aufgaben, die meine Nachfolgerin zu erfüllen hat. Die Reden soll sie dann halten. Aber ich werde natürlich zu den Themen ‚Diktatur' und ‚Diktaturfolgen', ‚Zivilcourage' oder ‚verweigerte, nicht eingeübte Zivilcourage' reden. Ich werde mir Sorgen machen weiterhin darüber, dass nach 40 Jahren Diktatur die Menschen eben nicht einfach eine Zivilgesellschaft leben können. Wir sehen, dass - wir können es mit Händen greifen im Osten - dass es zwar ganz interessante Figuren und Gruppen gibt, sozusagen zivilgesellschaftliche Inseln. Aber wenn man immer eine Pädagogik a lá Margot Honecker gehabt hat und eine Wehrkundeerziehung, aber nie einen Streit um die Wahrheit, sondern eine Einwegberieselung von Menschen, die eine Wahrheit hatten und meinten, dass sei die richtige - dann hat das Folgen. Diktatur geht nicht über ein Land wie ein Platzregen - und dann scheint gleich wieder die Sonne, sondern Diktatur hinterlässt in Strukturen und auch in Menschen, die lange gehorsam sein mussten, Folgen, und . . .

    Thiel:. . . bis hin zum Aufblühen des Rechtsradikalismus? . . .

    Gauck:. . . ja, das gehört mit dazu. Es ist ja nicht nur - leider, dass muss man ja auch sagen - es ist ja nicht nur ein Grund. Es gibt nicht nur einen Grund, aber natürlich hat die Art von Erziehung, die wir dort unsren Jugendlichen haben angedeihen lassen, schlimme Folgen - oder das Leben in einer Welt, wo schwarz - weiß gedacht wird, hat Folgen, wo Konflikte vornehmlich mit Gewalt gelöst wurden - hat Folgen. Und von daher sind die Zahlen, die belegen, dass es eine relativ größere Dichte solcher Vorfälle im Osten gibt, nicht irgendwie ein Wunder, sondern sie verdanken sich realen Entfremdungen einer Politik, die den Bürger nicht hervorgebracht hat, sondern im Grunde eine neue Form des Untertanen, und die zwar viel Mut bei Minderheiten hervorgebracht hat, aber nicht so etwas wie eine Zivilgesellschaft.