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Gefühlte Ewigkeit

Sie quengeln nach fünf Minuten, weil sie nicht warten können, oder schmeißen nach kürzester Zeit ihr Spielzeug weg: Kinder mit der Aufmerksamkeitsdefizitstörung ADHS. Eine Studie zeigt nun, dass die betroffenen Kinder Zeit anders wahrnehmen als gesunde Gleichaltrige.

Von Carina Frey | 18.09.2012
    Eine Schulstunde kann quälend lange sein. 45 Minuten still zu sitzen, fällt vielen Kindern schwer. Für Mädchen und Jungen mit ADHS – der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung – ist diese Herausforderung besonders groß. Eine Studie der Universität Düsseldorf zeigt jetzt, dass sie Zeitspannen als wesentlich länger empfinden als gesunde Gleichaltrige. Das stützt eine Theorie, die seit einigen Jahren unter ADHS-Forschern stärker diskutiert wird.

    "Es gibt die Theorie bei ADHS der schneller laufenden inneren Uhr. Wenn ich beispielsweise objektiv 60 Sekunden gegeben habe, ist für Kinder mit ADHS in diesen 60 Sekunden die Uhr schneller gelaufen, und ihnen kommt diese Minute vielleicht vor wie 70 oder 80 Sekunden",

    erklärt Marco Walg, Psychologe am LVR-Klinikum der Universität Düsseldorf. Gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Frankfurt und Bad Kreuznach verglich er 31 ADHS-Kinder mit 29 gesunden Mädchen und Jungen. Die 10- bis 14-Jährigen bekamen an einem Computerbildschirm Kreissymbole gezeigt. Ein Kreis erschien zum Beispiel für 1,3 Sekunden, ein anderer für 2,5 oder 4,5 Sekunden. Insgesamt gab es drei Durchläufe. Von Durchgang zu Durchgang wurden die Kreise entweder länger oder kürzer gezeigt. Die Kinder mussten einschätzen, ob der jeweilige Kreis lang oder kurz zu sehen war und entsprechende Tasten drücken. Dabei zeigte sich,

    "dass von den Kindern mit ADHS deutlich mehr Zeitreize als lang empfunden worden sind als von den Kindern ohne ADHS."

    Das könnte erklären, warum sich Kinder mit ADHS häufig auffällig verhalten.

    Bei ADHS liegt so eine Symptomtrias zugrunde, nämlich eine Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität und Impulsivität. Und beispielsweise Impulsivität ist dadurch gekennzeichnet, dass betroffene Kinder Aufgaben früher abbrechen, vorschnelle Antworten geben oder große Schwierigkeiten haben, auf etwas zu warten. Und wenn man sich jetzt eben überlegt, es gibt eine schneller laufende innere Uhr, dann kann das die Impulsivität ganz gut erklären. Sie warten nämlich gefühlt länger als Kinder ohne ADHS.

    ADHS zeigt sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Es gebe viele verschiedene theoretische Ansätze, um die Probleme der Betroffenen zu erklären, sagt Prof. Caterina Gawrilow, Leiterin des ADHS-Forschungsprojektes am IDeA, einer Einrichtung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung und der Universität Frankfurt.

    "Diese Zeitwahrnehmung taucht in den verschiedensten Modellen durchaus auf und offensichtlich spielt es wirklich eine Rolle. Auch diese schneller laufende innere Uhr",

    so die Forscherin. Sinnvoll sei jetzt, in Folgestudien mehr Kinder zu erfassen. Dabei könnte untersucht werden, ob zum Beispiel auch jüngere oder ältere Kinder mit ADHS ähnliche Probleme mit der Zeitwahrnehmung haben. Doch schon jetzt kann das Wissen Eltern und Lehrern helfen.

    "Wenn man weiß, dass die Zeit etwas schneller vergeht bei Kindern mit ADHS, dann sollte man das unserer Meinung nach im schulischen Alltag berücksichtigen. Sei es, dass diese Kinder häufiger Pausen bekommen oder eben verkürzte Unterrichtseinheiten. Das könnte helfen, die Konzentration im gesamten Schulalltag zu fördern."

    Die Forscher wollen nun untersuchen, ob sich ihre Tests zur Zeitwahrnehmung auch für die Diagnose von ADHS eignen. Möglicherweise können sie mit anderen Untersuchungen gekoppelt werden. Denn eines ist klar, sagt Gawrilow: Nicht jedes ungeduldige Kind hat ADHS.

    "Das ist gerade im Bereich der ADHS enorm wichtig, eine gezielte Diagnostik durchzuführen, die nicht in einer Sitzung von einer Stunde abgehandelt ist, sondern die wirklich viel aufwendiger ist. Das heißt, so eine reine Ungeduld oder eine reine Problematik in der Zeitwahrnehmung kann niemals ein Indikator dafür sein, ob ein Kind ADHS hat oder nicht."