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Gegenwartsgedränge (2/3)
Mit dem Fahrrad durch die Stadt - Phase Gelb: heute

Viel hat sich seit den fahrradfeindlichen 80er-Jahren getan, wenn es um Zweiräder in der City geht. Für Johannes Ullmaier bewegt sich die Gegenwart irgendwo zwischen Autoland und grüner Zukunft.

Von Johannes Ullmaier |
Zwei Fahrräder fahren auf einem asphaltiertem Fahrradweg.
Solch gut ausgebauten Fahrradwege sind in den Städten selten, so dass sich Tausende den Verkehrsraum untereinander aufteilen müssen. (dpa/picture alliance/Bernd SettnikFriso Gentsch)
Diese Gegenwart hätte man damals in den Zeiten der PKW-Nation Deutschland nicht für möglich gehalten: Das Fahrrad hat sein antiquiertes Image abgelegt. Nun gilt es als Fortbewegungsmittel der Nachhaltigkeitsapostel: umweltschonend und nachhaltig, sogar leise ist es, gesund, sportlich und sogar hip.
Der städtische Raum ist vom Rad geprägt: Es gibt Fahrradwege, Fahrradampeln und Fahrradständer überall; die Zweiradindustrie bietet allen die Drahtesel, die sie sich wünschen: BMX-Bikes, Rennräder, Mountainbikes, Hollandräder, Liegeräder. Doch seinen Sieg hat das Rad als Fortbewegungsmittel noch nicht vollends errungen. Und so erlebt unser Autor, als er eine typische Strecke zurücklegt, dann doch viele Konflikte, die es nach wie vor zu moderieren gilt.
Der Literaturwissenschaftler Johannes Ullmaier ist Akademischer Rat am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Seine Spezialgebiete sind die Literatur des 20. Jahrhunderts, Avantgardebewegungen sowie die akustische Literatur (Lautpoesie, Hörspiel, Lesung und Spoken Word).
In der Serie "Gegenwartsgedränge – Mit dem Fahrrad durch die Stadt" geht die Sendung "Essay und Diskurs" der Frage nach, wie sich das Radfahren verändert hat, wie es in Zukunft aussehen wird – und was das über unsere Gesellschaft aussagt.


02.08. Phase Rot: gestern
16.08. Phase Grün: morgen

Bei dieser Serie handelt es sich um eine Wiederholung aus 2016

Phase Gelb: heute
Ich muss von A nach B und begebe mich zu meinem Rad. Dazu brauche ich fünf Schlüssel. Den ersten, um hinter mir die Wohnung zuzusperren, damit nicht wieder eingebrochen wird; den zweiten, um die Treppenhaustür zum Hof auf- und wieder abzusperren, schließlich soll nicht jeder gleich ins Haus kommen. Den dritten fürs Garagentor, eine unverschlossene Garage wurde neulich restlos ausgeräumt. Den vierten für das Bügelschloss am Fahrrad selbst, auch aus verschlossenen Garagen sind schon Räder weggekommen und den fünften für das Hoftor vor der Ausfahrt, damit nicht jeder an die Müllcontainer kann. Draußen lasse ich die Schlüssel in die Tasche rasseln, steige umsichtig aufs Rad und rolle durch die von der Einfahrt aufgestemmte Parklücke auf die gerade freie Straße.
Schon länger nutze und besitze ich nun ein modernes City-Bike. Und liege damit gut im Trend. 2017 feiert das Zweirad seinen 200. Geburtstag. Und in den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Summe, die für Neu-Räder im Mittel investiert wird, stark erhöht: auf über 500 Euro. Meines war sogar noch etwas teurer. Doch für den Weg zur Arbeit brauche ich etwas Solides. Zwar könnte ich es kaum mehr selber reparieren und die Wartung durch hochprofessionelle Radmechaniker nähert sich nach Wartezeit, Bürokratie und Kosten mittlerweile Autostandards. Aber dafür funktioniert auch alles.
So beginnt mein Alltagsweg durch eine durchschnittliche deutsche Mittelstadt mit allem, was dazugehört: Kreuzungen, eine verkehrsberuhigte Zone; Kopfsteinpflaster, Zebrastreifen; Radwege verschiedener Art; eine Steigung, eine Baustelle, ein Campus; eine Abfahrt, die auf eine heimtückische Ampelkreuzung zuläuft und zum Schluss ein großer Platz, wo der gesamte Stadtverkehr sich trifft - alles engmaschig genutzt von anderen Verkehrsteilnehmern: Autos von Smart bis SUV, Fußgängern mit und ohne Smartphones, vor allem aber von anderen Radlern in großer Zahl und Vielfalt.
Totale Vorfahrt heißt Vorfahrt vor den anderen
Von links schießt mir gerade einer mit Karacho aus der Deckung eines falschparkenden Möbelwagens in die Vorfahrt - eine neuere, aber umso dominantere Spezies: der Radler jenseits aller Vorfahrt. Denn Vorfahrt, selbst totale, hieße ja: Vorfahrt vor anderen. Diese anderen aber kennt er allenfalls vom Hörensagen. In der Realität ist ihm noch nie einer begegnet. Die anderen begegnen dort bloß immer öfter ihm. Im Jenseits jeder Selektionslehre.Dahinter stoppt ein schwarzer BMW und lässt mir gütig meine Vorfahrt. Sogar das urzeitliche Recht des Stärkeren schwächelt. Verkehrte Welt.
Seit ich mich auf dem Fahrrad durch die Stadt bewege, hat sich dort allerhand getan. War ich früher ein verlorener Spinner, der im Autogegenwind versuchen musste, möglichst wenig auf- und umzufallen, so hat der Wind sich seither weitgehend gedreht. Radfahren ist gesellschaftsfähig, ja zum Modetrend geworden. Immer mehr entdecken hier den (vorher scheinbar unsichtbaren) Königsweg, das praktisch Wahre mit dem ökologisch Guten und dem sportlich Schönen zu verbinden. Seit der Millenniums-Wende hat das Radaufkommen in der Stadt beträchtlich zugenommen. Und Studien prognostizieren, dass das Rad dort beim Verkehrsanteil schon bald das Auto überholen wird.
Kreuzung, stopp. Von links nach rechts durchquert jetzt eine andere neuere Radler-Spezies meine Spur: die Sicherheits-Termite. Insektenhaft behelmt, mit Protektoren und Reflektoren gespickt und grell in Elastan verschweißt, erscheinen diese Raumfahrer der Ebene oft drahtiger als ihre Drahtesel. Gleich ihrem evolutionären Vorbild treten sie - so wie auch jetzt - besonders gern als Straße in Erscheinung. Wie animierte Spermien wimmeln sie dahin. Zielstrebig, doch auch mit ungewissem Ziel.
Ich sehe etwas zu lang gelb. Hinter mir Geklingel. Jaja, bin schon weg.
Du bist, welches Rad du fährst
Im allgemeinen Radfahr-Boom kommt es zusehends auf die Nuancen an. Einfach unmarkiert daherzuradeln, ist mittlerweile kaum mehr möglich. Entsprechend heißen Radgeschäfte heute nicht mehr "Fahrrad Müller", sondern eher "Rad & Tat" oder "Das Fahrradies". Und wie ehedem beim Vierrad-Kult gilt es nun, sein Zweirad nicht bloß zu benutzen, sondern auch entsprechend zu performen. Was für ein Rad-Typ bin ich?
Holland? Custom? Speedbike? Trecking? Mountain? Karstadt-Normcore oder Vintage-Style? Oder wirklich etwas Altes? Ein Steyr Waffenrad von 1943? Oder ein Zusammenklapprad aus den Siebzigern? Ein schmuckes Brompton für den Zug? Soll das Rad zehn Kästen Bionade transportieren können? An der Eiger-Nordwand haften bleiben? Oder mehr was Exquisites, Handgefertigtes, so um die 100.000 Euro? Oder extravagant? Ein Breaser oder Biomega? Bob Jackson’s Tricycle? Oder das mondtaugliche Biria (im Unplugged TM-Design)? Oder gleich ein Liegerad? Und falls man sich als Tandem-Paar nicht einig wird: das Hase Pino Tour mit Sattelsitz und Liegesitz? Vielleicht elektrisch? Pedelec? Ein Flyer aus der Schweiz? Nach deutscher Norm auf 25 km/h gedrosselt? Oder heimlich hochgetuned? Oder gleich das bis auf 100 km/h hochschnellende Black Trail, mit dem man Autofahrer demoralisieren kann?
Und da gehen die Entscheidungen erst los: Scheiben- oder Felgen-Bremse? 70 Gänge? Oder keine? Schimano oder Nicht-Schimano? Welche Farbe? Welcher Sattel? Welche Klingel passt zu mir? Eventuell die Trucker-Hupe? In der virtuellen Version? Sogar Baby-Zwillinge und Hunde performen heute in ihren High‑End‑Anhänger-Karossen schon fleißig mit.
Nach allen Seiten drängt die Radler-Welt aus ihren überkommenen Speziesgrenzen: hin zum Kinderwagen, Mofa, Laster oder Jeep. Sofern das Recht sie nicht regulierend zurückpfeift. Oder die rote Karte zieht: Ein Radfahrer mit aufgeschnalltem Flugpropeller etwa gilt laut Gesetz als Auto.
Schnell jetzt aber noch im Windschatten des Kinderwagens mit über den Zebrastreifen huschen.
Anders als früher brauche ich als Radfahrer inzwischen nur noch selten illegal zum Auto oder Fußgänger zu werden. Es genügt, auf deren Rechten mitzusurfen. Umso mehr, als meine eigene Rechtssphäre sich mit der Radfahrer-Novelle von 1997 maßgeblich erweitert hat. Man darf jetzt Fahrradfahren. Seither sprießen "Schutzstreifen" und "Radfahrstreifen".
Seit Beginn des Kfz-Verkehrs gab es mehr als 40 Millionen Unfalltote. Dieser permanente Weltkrieg der Verkehrsmoderne war irgendwann nicht mehr zu ignorieren. Schließlich rief sogar die UNO: "Make Roads Safe!” Nicht zuletzt auch für die Radler.
Eine bunte Mischung verschiedener Radphilosophien
Freilich besteht auch in der Radler-Emanzipation die Spannung zwischen Absonderung - dem Wunsch nach eigenen Wegen - einerseits und Gleichstellung - also Eroberung der hegemonialen Räume - andererseits. Sie spiegelt sich in "passiv"-separierenden und "aktiv"-integrierenden Sicherheitskonzepten, die sich in der Praxis manchmal seltsam überlagern. Auch ich schwanke bisweilen sehr konkret zwischen dem alten reaktiven und dem neuen aktiven Fahren, zwischen autonomer Autoferne und autonahem "Vehicular Cycling". Zum Beispiel jetzt, wo ich entschieden unentschieden gegen eine Einbahn fahre. Nunmehr allerdings auf meinem rechtmäßigen Streifen.
Hupt ihr nur, ihr Oldtimer.
Natürlich kam dieser Cycling Turn nicht einfach so. Jede Etappe musste hart erkämpft werden. Obstruktiv: von radikalen Aktivisten wie den Amsterdamer Provos oder der Critical-Mass-Bewegung in den USA, die sich ihr Recht auf Stadt demonstrativ in bunten Street Parades, Parking Days und Corkings nahm und das Stadtradfahren dabei erstmals stolz und cool aussehen ließ. Konstruktiv: von visionären Verkehrsplanern wie Jan Gehl in Kopenhagen, der die Utopie einer Radfahrer-Metropole beispielhaft realisierte und inzwischen weltweit exportiert; schließlich aber auch reformistisch: von eisernen Umweltgrünen in der Politik, die nach und nach die Autofestung schliffen.
Parallel zu alldem gibt es mittlerweile einen breiten Rad-Diskurs: Radkolumnen, Online-Rad-Portale und eine Vielzahl guter Bücher von fachkundigen, begeisterten und kämpferischen Radfahrern - allen voran der mega-anti-coole David Byrne. Sogar eine "Philosophie des Radfahrens" meldet sich zu Wort. Aus den belächelten Radfahrern von einst ist die Avantgarde einer hippen, nachhaltigen, kurzum: besseren Welt geworden.
In Holland will man jetzt bei Schnee die Radwege beheizen. Für mich, der in dieser neuen Epoche nach wie vor primär von A nach B möchte, hat diese Fahrrad-Wende zweifellos entscheidende Verbesserungen gebracht. Allerdings entstehen durch sie auch neue Ambivalenzen.
Das viel gerühmte Kopenhagen etwa gilt als postmodernes Fahrrad-Paradies. Doch wie jede Optimierung entgeht auch diese nicht den inhärenten Widersprüchen zwischen verkehrstechnischer Artgerechtheit, humanem Nachteilsausgleich, neuen Konkurrenzverhältnissen und inhumaner Bürokratisierung. Möchte ich beim Auffahren auf die Super-Rad-Spur unbedingt gezählt und für jeglichen Verstoß mit Bußgeldern belegt werden? Will ich in hochkompetitiven Drei-Spur-Rollkommandos mitwummern und trotz grüner Welle schlimmstenfalls drei Ampelphasen brauchen, um im Pulk der Tret-Engel die Kreuzung zu passieren?
Mir reicht schon, wenn ich, so wie jetzt, in einen ausgebüxten Spinning-Kurs hineingerate und mich konzentrieren muss, nirgendwo festzuhaken. Dann lieber die geheime Seitenstraße. Ein kleiner Umweg, dafür als entspannter Solitär.
Diversifikation der Radfahrtypen
Dass jetzt so viele Rad fahren, ist begrüßenswert, aber auch anstrengend. Denn parallel zur Diversifizierung der Modelle diversifizieren sich auch die Fahrertypen. Dabei realisieren die allermeisten die heutzutage kaum vermeidliche soziale Adressierung auf sehr soziale Weise - und bleiben dementsprechend unauffällig. Andere dagegen zelebrieren sie - so nett ihre Vertreter abseits des Sattels oftmals sind - entschieden asozial und stechen dadurch aus dem großen Feld heraus. Je purer, desto übler.
Da ist zunächst der eben schon gesehene Jenseits-Vorfahrer, im Volksmund Honk genannt für Horn-Ochse Neuen Kalibers. Wenn er denken könnte, wäre seine Weltanschauung folgende: Bremsen? Nö. Licht? Nö. Gucken? Nö. All das sowie das Denken überlässt dieses Genie gnädig den anderen.
Am kaum weniger fatalen Gegenpol siedelt die ebenfalls bereits gesichtete Sicherheits-Termite, deren Problematik sich als dreifache Verpanzerung manifestiert: der Selbstsorge, der "Outfitness" sowie des Rechthabens - wobei der Umgang mit Unfehlbarkeit beim Radfahren nicht leichter ist als generell.
Als konfliktträchtig erweist sich ferner eine dritte Spezies, die umso heikler ist, als sie genetisch gerade aus der fortschrittlichen Anerkennungspolitik der jüngsten Zeit hervorgegangen ist: nämlich der Opfer-Rowdy, der auf jedem Zentimeter zu verstehen gibt: Ich bin benachteiligt! Bin nämlich Radfahrer, Fußgänger, alt, behindert, weiblich, krank, unterbezahlt, psychisch labil, voll im Stress, gehöre einer chancenlosen Generation an oder wuppe hier als elterlicher Lastesel eure späteren Rentenzahler durch die Gegend. Ergo bin ich präventiv beleidigt! Ergo bin ich prinzipiell im Recht! Wer nicht das nächste Opfer werden will, weicht tunlichst aus.
Als eher harmloser Problemfall fällt neuerdings auch noch der selbstgewisse Unbeholfene auf, vermehrt auf Leih- und Bahnrädern. Mit der Meinungsstärke des gewohnten Autofahrers, doch schwankender Balance performt er eine Kunst, die er früher nicht lang überlebt hätte. Gerade ist wieder einer hinter mir und übt sich in einer seiner Lieblingsdisziplinen: drängeln, ohne schneller zu sein. Na dann tschüss.
Zurück aufs pittoreske Kopfsteinpflaster, das inzwischen unter allgemeinem Denkmalschutz steht. So wie mein Gehirn inzwischen unter individuellem. Für beider Konservierung sorgt jetzt eine Federung.
Paradigmenwechsel in Freudscher Fahrradpsychologie
Kurzbesorgung bei der Post. Mein Ich denkt: Lass doch das Fahrrad offen, in den paar Sekunden wird es ja wohl keiner klauen, während mein Es schon automatisch abgeschlossen hat, was das Ich erst beim Zurückkommen bemerkt. In den letzten Jahren hat sich die Freudsche Fahrradpsychologie verschoben. Von Es = Beine, Ich = Bauch und Über-Ich = Kopf hin zu Es = Körper, Ich = Kopf und Über-Ich = Helm. Doch ich habe keinen Helm.
Jetzt aus der verkehrsberuhigten Zone langsam auf die rote - nein, schon gelbe Ampel zu. Ein Taxifahrer prescht mir linksabbiegend in die Vorfahrt. Blinken wäre Energieverschwendung. Als ich nicht gleich weiche, tritt er einfach durch. Tonlos sehe ich ihn durch die Scheibe zetern. Warum tut er das? Weil er es muss. Weil er bald abgeschafft wird. Und es jetzt schon weiß. Und sich im Voraus dafür rächen muss. An wem auch immer.
Nach wie vor ist Deutschland weitgehend ein Autoland. Und da es in der Erdbevölkerung in dieser Hinsicht viele Deutsche gibt, wird das für den Exportweltmeister auch auf absehbare Zeit so bleiben. Dennoch stößt die Auto-Herrlichkeit inzwischen unleugbar an ihre Grenzen. Selbst die schönste Abwrackprämie wirkt auf Dauer etwas abgewrackt.
Andererseits darf man die Zähigkeit der Autowelt nicht unterschätzen. Denn Funktionalität hin oder her, so ist das Auto doch für manch einen der letzte Ort, wo er halbwegs selbstbestimmt für sich sein kann, noch dazu extrem bequem. Viele stehen in Wahrheit gern im Stau. Denn besser wird es für sie nicht. Zumal am Horizont bereits die autonomen Autos auffahren. Und schon erste Einparkhilfe leisten. Gleichzeitig vermischen sich im postmodernen Stadtverkehr unentwegt die überkommenen Spezies - und zwar bis in die einzelnen, zunehmend schi- oder trizophrenen Fortbewegungscharaktere:
Einfach mal die Rollen wechseln
Der gerade autofahrende Radfahrer denkt beim Rechtsabbiegen: Achtung, Radweg! Da könnte ich jetzt kommen! Und der gerade radfahrende Autofahrer: Arme Autos, an denen ich mich hier so fies vorbeischlängle. Und während der gerade fußgehende Radfahrer sich selber anfaucht: He, was suchst du auf dem Radweg?, fragt sich der gerade radfahrende Auto‑Fußgänger zehn Meter weiter: was mache ich hier auf dem Bürgersteig? Doch hoffentlich nicht parken?
Früher konnte ich in meiner verkehrstechnischen Küchen-Psychologie noch ohne Weiteres mit reinen, wesentlich über die benutzten Prothesen definierten und auf sie beschränkten Typen operieren: Raser, Drängler, Motzer, Schleicher, Besoffene und Einparker waren fraglos Auto-, höchstens einmal Mofafahrer. Trickster, Klingler, Zögerer und Drehkreisel dagegen waren per se Radfahrer. Und Fußgänger waren eben Fußgänger. Naturtalente im Imwegsein.
Heute ist die Typologie bei weitem komplizierter, weil meiner Erfahrung nach mittlerweile jeder Typ in jedem Apparat erscheinen kann. Nicht Multikulti, sondern Multikombi. So kann ich nicht mehr einfach sagen: Alles klar, ein Raser! Denn der Raser kann heute im Zweifelsfall auch auf dem Roller oder im Rollstuhl angefahren oder zu Fuß dahergelaufen kommen. Deshalb muss ich streng genommen immer alle Schichten einzeln durchgehen und mich fragen: Ist die wahrgenommene Verkehrsentität beweglich oder unbeweglich? Wie weit weg? Wie schnell? Wie schwer? Kontingent oder kontrolliert? Durch eine Intention? Kreatürlich oder maschinell? Ist diese zu erkennen? Kennt sie Regeln? Welche? Wird sie sich danach verhalten? Ist sie ansprechbar? Gestisch? Sprachlich? Kann ich ihr pauschal begegnen? Oder muss ich individualisieren?
Ach, Tim, entschuldige, ich hab dich erst gar nicht gesehen. Na, wie isses?
Theoretisch wären stets erst sämtliche Objekte zu bestimmen, um dann die erwartbaren Interaktionen ausrechnen und das Bestmögliche tun zu können. Da ich hierfür aber - von banalen Fällen abgesehen - zu dumm bin und es auch sonst wahrscheinlich zu lang dauern würde, bewege ich mich aus rationalem Kalkül zunehmend intuitiv. Umso mehr, als die Fahrmaschinen immer smarter werden, während die Fußgänger sich tendenziell verdinglichen. Sieht der Lieferwagen mich jetzt hier, im toten Winkel? Auf einem Kameraschirm? Früher konnte ich sicher sein: nein. Jetzt ist es unklar. Wer kann wodurch schuldig werden? Schwer zu sagen.
Als allgemeine Regel bleibt da kaum viel mehr als: Umfahren statt umfahren. Auch die Verkehrsjustiz bemüht sich offenbar, der zunehmenden Komplexität von Fall zu Fall gerecht zu werden. Das führt, wie Urteilssammlungen der jüngsten Zeit belegen, vermehrt zu Grauzonen und Divergenzen. Bis zu welchem Lebensjahr etwa ein Kind wie unbeaufsichtigt auf welcher Art von Bürgersteig womit in welche Richtung fahren darf, damit der Haftungsanteil sich im Unfall so oder so verteilt - das mag in Köln und Konstanz abweichend beurteilt werden. Im Ganzen jedoch indiziert das wachsende Kuddelmuddel zunehmende Realitätsnähe. Und damit durchaus einen Fortschritt.
In der Verkehrsrealität ist es ohnehin noch nie egal gewesen, wer was macht.
Im Verkehr ist sich jeder selbst der Nächste
Vor mir mitten auf dem Radweg: zwei Menschen ordnungswidrig in versunkener Umarmung. Bin ich etwa auf der Welt, um sie jetzt aus dem Weg zu klingeln? Entschieden ordnungswidrig umfahre ich sie auf dem Bürgersteig.
100 Meter weiter tritt mir ein viriler Eumel in den Weg, mit O-Beinen quer über die Spurbreite. Hier ist kein Radweg! Hier bin ich! Aha? Wart’s ab, Junge. Wart’s ab. Ich senke das Visier und nehme Fahrt auf. - Wenige Sekunden später fühle ich, wie meine Primatenvorfahren in mir lauthals La‑Ola machen. Nur ein paar neuere bleiben skeptisch außen vor.
Bin ich noch halbwegs in der Zeit? So gut wie alle öffentlichen Uhren sind kaputt und werden nicht mehr repariert. Auf einem Stück zwischen zwei Überwachungskameras halte ich kurz auf dem Bürgersteig. Nur mal eben schnäuzen. Sogleich kommt eine Gruppe Gehender und setzt mich damit als Stehenden ins Unrecht. In der mobilen Gesellschaft ist der Mobilere immer im Recht. Selbst die Toten auf dem Friedhof werden zusehends zum Hindernis.
Am Rand der vierspurigen Straße ist neuerdings ein Schutzstreifen markiert. Und die weiße Strichellinie gibt sich wirklich alle Mühe. Doch aus altem Argwohn traue ich den Autos keinen Zentimeter über den Weg. Obwohl sie geradezu erschütternd brav sind. Um diese Uhrzeit ungewöhnlich kreischt mir eine junge Horde aus dem offenen Fenster im Vorbeifahren irgendetwas zu. In einem Triumphgefühl der Unbelangbarkeit, das - so pubertär es hier erscheint - doch auch längst unter Denkmalschutz gehört.
Nun offiziell ausgewiesener Radweg. Auf dessen Mitte wandelt mir zu Fuß ein Smartphone ohne Außenwelt entgegen. Ich fahre stoisch darauf zu, bis es panisch aufschreckt und zur Seite hüpft. Ambulanter Realitätsdienst. Ich muss schließlich hier fahren. Es folgt die moderate, aber langgezogene Steigung. Leicht keuchend halte ich den Blick aufs jeweils nächste Ministück vor mir gesenkt. Hinter mir naht, ich spüre es, ein durchtrainierter Schenkelfrosch und hängt sich auf mein Schutzblech. Ich weiche sofort aus, aber er überholt mich nicht. Wieso? Ist ihm seine Rückansicht peinlicher als meine?
Weiter oben sinkt der Steigungswinkel. Bis vor ein paar Jahren gab es an der Böschung neben diesem Fahrradaufstieg mindestens fünf Sitzbänke. Mittlerweile sind sie alle abmontiert. Wohl weil dort sonst Arbeitslose sitzen und die Aufwärtsstrampelnden auf ihrem Weg zur Arbeit irritieren könnten.
Immer klarer separieren sich die Klassen: Bore-Out, Burn-Out oder Buy-Out, zu Deutsch: die unbeschäftigt Abgehängten, die abhängig Beschäftigten und die großen Abhänger. Da sie untereinander ohnehin kaum mehr verkehren, scheint es nur probat, auch ihre Verkehrswege zu separieren. Wem hilft es, wenn sie sich dauernd begegnen?
Der Rad-Lifestyle schlägt um sich
Einzelne Arbeitgeber reagieren auf die Zunahme verschwitzt eintreffender Rad-Pendler mit Duschen. Die Entscheider kommen in der Mehrzahl freilich nach wie vor im Auto. Wenn nicht mit dem Helikopter. Bei aller Lifestyle-Euphorie ist die Explosion des städtischen Radverkehrs deshalb auch zweischneidig: Man braucht kein Auto mehr, kann sich aber oft auch keins mehr leisten. Die Grenze zwischen hipper Armut und verarmter Hipness gibt sich fließender, als sie auf Dauer ist.
In der Höhe wartet eine altgediente Baustelle, die sich gleichwohl ständig neu erfindet: Jeden Tag entzückt die Umleitungslogistik im Radspur-Labyrinth mit immer neuen Assemblagen: von querstehenden Planierraupen und kleinen Baggerseen über Betonpflöcke und Überraschungsschotter bis zur spontanen Sackgasse. Hier lebt sie noch, die gute alte Kunst der fahrradfeindlichen Verkehrsführung, die allgemein im Aussterben begriffen scheint. Jetzt auf den überfüllten Campus zum Passanten-Lücken-Slalom. Heute jedoch recht entspannt - bis mir plötzlich ein behelmter Geister‑Slalom‑Fahrer aus zwei versetzten Fünfer-Geh-Ketten entgegenspringt. "Geht’s noch?", fragt er sich, als ich erscheine.
Auf der schnellen Radweg-Abfahrt. Jetzt bloß keinen Unfall bauen, das halten meine Knochen nicht mehr aus. Von unten kommt mir der amtierende BMX-Honk-Weltmeister entgegen. Da er schon in die falsche Richtung fährt, muss er auch noch so schnell wie möglich und in Schlängellinien fahren. Und dabei in sein Smartphone gickern. Nur das Ohne-Licht-Fahren kommt tagsüber nicht recht zur Geltung - deshalb ein kleiner Punktabzug. Unter Stoßgebeten springe ich von der Bordsteinschanze auf die vierspurige Schnellstraße, um diesem Jenseits-Bolzen zu entgehen.
Fahrradampel: Gut gemeint ist nicht immer gut
Bei nächster Gelegenheit wieder zurück auf den Radweg. Auf die komplexe Ampelkreuzung zu. Dort ist jetzt neuerdings eine Radfahr-Ampel, ein grandioser Fortschritt! Nicht nur repräsentationspolitisch, sondern auch praktisch. Dabei dreht es sich um die im Einzelfall nur wenigen, über die Jahre aber vielen Sekunden, die man als Radfahrer an schon auf Rot gesprungenen Fußgänger-Ampeln, die zurecht auf alte Menschen ausgerichtet sind, warten sollte oder musste, obwohl man mit seiner Geschwindigkeit noch lang gefahrlos durchgekommen wäre. Deshalb haben die neuen Fahrradampeln dementsprechend länger grün. Perfekt!
In der Praxis wird dadurch jedoch alles noch komplexer. Denn seit die Fahrradampel installiert ist, muss ich, wenn ich von fern auf die - jetzt dreigeteilte - Ampel zurase, noch wesentlich mehr vorausberechnen: Wann kriegt wer wo Grün? Wer ist gerade da? Und wird sich wie verhalten? Etwa die Sicherheits-Termite, die starr die neue Rad-Ampel fixiert und sich, sowie sie umspringt, blindlings in Bewegung setzen wird; daneben zwei entspannte Holland-Fahrrad-Freundinnen in angeregter Unterhaltung, die nur die alte Fußgängerampel beachten und selbst deren Umspringen womöglich erst bemerken werden, wenn der gerade von rechts an mir vorbeiheizende Honk sie streifen wird, wobei natürlich nach wie vor auch noch die Autoampel nebst der realen Autolage mit im Blick zu halten bleibt, etwa nach kleinen Männern, die bei Tieforange noch unbedingt rechts ab müssen. Wieder einmal gerate ich hier an die Grenzen meiner Liebe zur Verkehrs-Diversität. In der Hektik übersehe ich zwei stolze Tauben auf dem Radweg, die nicht weggehen wollen und mich nach links abdrängen, zu früh auf die Straße, vor eine Rechtsabbiegerin, die denkt, sie hätte grün, weil sie in ihrem hohen SUV nur die höherhängende Geradeaus-Ampel zur Kenntnis nimmt. In ihrer drei-Tonnen-Knautschzone fühlt sie sich einfach sicherer.
In meiner Vision sehe ich in ihrer Panzerkabine hinten einen leeren Kindersitz. Und höre sie sich fragen: Nanu? War da was? Ein Huggel? Im Sterben auf der Straße liegend sehe ich ihre Heckfront sich davonbewegen mit dem Aufkleber: Baby an Bord. Zu solcher Wirklichkeit fehlten hier fünf Zentimeter. Nach diesem Schreck erscheint das Grand Finale, die Überquerung des großen Bahnhofsplatzes, heute wie ein Kinderspiel: ein paar linear bewegte Smartphone-Anhängsel, dazwischen Eilige und umlaufende Kinder; drei Pendler stürzen in verschiedene Richtungen zu ihren gerade erspähten Bussen; ein Hund springt zwischen einparkenden Autos durch; ein Verwirrter kreiselt schwer berechenbar an einem herumstehenden Polizeiwagen entlang; Bahnsecurity steht pfropfenhaft im Weg, bis sie in einem freundlichen Touristenschwarm verschwindet; zwei kurze Tänzchen mit zwei Immer-auf-die-selbe-Seite-Ausweichern - beim ersten beiderseits freundliches Losgrinsen, beim zweiten unbezwingliche Verhärmung. In toto aber alles sehr zivil und nacheinander heute. Gegen Schluss muss ich zwar doch absteigen, aber das hätte ich ja eh schon bald gemusst. Nur keine Reibereien.
Ankunft. Ziel. Geschafft. Allerdings braucht man jetzt schon Glück, hier noch einen Radparkplatz zu kriegen. Ein gebührenpflichtiges Fahrrad-Parkhaus ist freilich schon in Planung. So erlebe ich das Stadtradfahren in der Gegenwart. Doch die Zukunft des Verkehrs kommt unaufhaltsam näher.