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Generalanwalt am EuGH Paolo Mengozzi
"Welche Alternativen hätten die Kläger denn?"

Der Europäische Gerichtshof veröffentlicht an diesem Dienstag sein Urteil darüber, ob EU-Staaten Asylsuchenden in bestimmten Notlagen humanitäre Visa ausstellen müssen. Der zuständige Generalanwalt am EuGH, Paolo Mengozzi, hatte dies in einem Gutachten gefordert.

Von Gudula Geuther | 07.03.2017
    Am 21.06.2015 rettete die Fregatte Schleswig-Holstein vor der libyschen Küste Hunderte Menschen aus einem Holzboot.
    Viele Flüchtlinge wählen den gefährlichen Weg übers Meer (picture alliance/dpa/Bundeswehr/Winkler)
    Der Grund, warum Verantwortliche wohl aller EU-Mitgliedstaaten heute gebannt nach Luxemburg schauen, heißt Paolo Mengozzi. Der renommierte italienische Völkerrechtsprofessor ist Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof. Als solcher schreibt er unverbindliche aber einflussreiche Gutachten, wie das Gericht entscheiden möge.
    Und sein jüngster Vorschlag hatte es in sich. Vereinfacht gesagt plädierte Mengozzi Anfang Februar dafür, dass diejenigen, die Gefahr für Leib und Leben, Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung, bei einer Auslandsvertretung eines EU-Mitgliedstaates plausibel belegen können, einen Anspruch auf ein Visum haben. Dieses humanitäre Visum würde ihnen dann erlauben, in dem Land einen Asylantrag zu stellen. Sie müssten also weder die Überfahrt über das Mittelmeer auf sich nehmen, noch den EU-Türkei-Pakt oder die geschlossene Balkanroute fürchten. Das würde die EU-Flüchtlingspolitik auf den Kopf stellen. Der Generalanwalt gesteht zu, dass die Zahl solcher Visa erheblich steigen würde, sollte der Gerichtshof seinem Vorschlag folgen. Aber, so schreibt er mit – gemessen an solchen Rechtstexten – ungewöhnlichem Pathos:
    "In meinen Augen ist es entscheidend, dass die Mitgliedstaaten, in Zeiten in denen die Grenzen sich schließen oder Mauern gebaut werden, nicht vor ihrer Verantwortung fliehen."
    Johannes Dimroth, der Sprecher des Bundesinnenministeriums, widerspricht.
    "Insbesondere das Verbot, einen Schutzsuchenden zurückzuweisen, das besteht nach einhelliger Meinung innerhalb der Bundesregierung immer nur an der eigenen Landesgrenze, aber nicht außerhalb."
    Entscheidung der Botschaft ist übermäßig formalistisch
    Konkret geht es um ein syrisches Ehepaar aus Aleppo und ihre drei minderjährigen Kinder. Die Familie stellte im Oktober vergangenen Jahres einen Antrag auf ein humanitäres Visum bei der belgischen Botschaft in Beirut. Im Libanon durfte die Familie nicht bleiben. Deshalb reiste sie nach Syrien zurück, sagen die Kläger. Belgien versagte das Visum. Nicht, weil die Familie nicht schutzwürdig wäre – die Kläger geben an, als orthodoxe Christen verfolgt zu werden, einer von ihnen sei entführt und gefoltert worden, bevor er gegen Lösegeld freigelassen worden sei. Belgien bestreitet das nicht. Aber: In Frage komme nur ein Kurzzeitvisum. Die Familie aber wolle ja länger in Belgien bleiben. Deshalb seien die Vorschriften nicht anwendbar. Übermäßig formalistisch nennt das der Gutachter Mengozzi. Vor allem aber sagt er: Mit den Visumsbestimmungen werde – egal, wo das geschehe – EU-Recht angewandt, deshalb gälten auch die EU-Grundrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention. Und die verlangten Schutz. Wörtlich:
    "Welche Alternativen hätten die Kläger denn? In Syrien zu bleiben? Unvorstellbar. Sich unter Lebensgefahr skrupellosen Schleppern auszuliefern um zu versuchen, Italien oder Griechenland zu erreichen? Unerträglich. Sich damit zu bescheiden, illegale Flüchtlinge im Libanon zu werden, ohne Aussicht auf internationalen Schutz, sogar unter dem Risiko, nach Syrien rückgeschoben zu werden? Nicht hinnehmbar."
    "Mitnichten ein Instrument für mehr Humanität"
    Ministeriumssprecher Dimroth dagegen sagt, das Recht greife erst in Europa. Und er widerspricht dem humanitären Argument:
    "Die Frage, wer es schafft zu einer deutschen Auslandsvertretung, die wird ja wiederum nicht danach entschieden, wer wirklich schutzbedürftiger ist. Sondern das sind ja in der Regel dann auch Menschen, die mobil sind beispielsweise, sich aus bestimmten Krisenregionen überhaupt wegbewegen können und all das. Insofern ist es auch mitnichten ein Instrument, das für mehr Humanität stehen würde."
    Er denkt dabei als Alternative an humanitäre Kontingente, an Menschen, die etwa aus Flüchtlingslagern direkt nach Europa gebracht werden. Generalanwalt Mengozzi stellt dem die tägliche Praxis gegenüber:
    "Unter den gegebenen Umständen wird die Weigerung, die beschränkten Visa zu erteilen, die Kläger motivieren, denjenigen ihr Leben anzuvertrauen, gegen die die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten – vor allem im Mittelmeer – sich derzeit mit großem Einsatz bemüht vorzugehen um ihre kriminellen Aktivitäten zu bremsen und zu zerschlagen."
    Auch wenn die Europarichter Mengozzi nicht folgen sollten – sein Votum, in dem er der EU den Spiegel vorgehalten hat, wird nachwirken.