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Goldene Zwanziger in Berlin
Wie ein Tanz auf dem Vulkan

2014 erschien Bernard von Brentanos großer Roman "Theodor Chindler" in einer Neuausgabe. Nun kann auch die Fortsetzung wiederentdeckt werden: "Franziska Scheler". Wie schon im "Theodor Chindler" sind es auch hier Brentanos komplexe Frauenfiguren und ihr Kampf um eine eigenständige Rolle im Leben, die nachhaltig beeindrucken.

Von Oliver Pfohlmann | 18.08.2016
    Der Journalist und Schriftsteller Bernard von Brentano (1901−1964) in einer undatierten Aufnahme
    Der Journalist und Schriftsteller Bernard von Brentano (1901−1964) in einer undatierten Aufnahme. (dpa / picture alliance)
    Der Mensch ist, wie er ist, und lässt sich nicht ändern. Niemand hat das Recht, einen anderen Menschen ändern zu wollen; und wer es dennoch versucht, wird zwangsläufig scheitern. Diese pessimistisch anmutende Überzeugung liegt allen Werken Bernard von Brentanos zugrunde. Sein Motto als Schriftsteller lautete denn auch: "Sagen lassen sich die Menschen nichts, aber erzählen lassen sie sich alles."
    Das schrieb der Journalist und Romancier bereits zur Veröffentlichung seines Hauptwerks "Theodor Chindler". Dieser 1936 im Schweizer Exil erschienene Roman bietet das vielleicht akkurateste literarische Porträt der deutschen Gesellschaft während des Ersten Weltkriegs. Wie darin die politischen Entwicklungen mit den Schicksalen einer Familie kurzgeschlossen wurden, beeindruckte seinerzeit so unterschiedliche Autoren wie Thomas Mann und Bertolt Brecht.
    Brentanos Alter Ego Leopold verteidigt das Individuum
    2014, also pünktlich im Weltkriegs-Gedenkjahr, erschien Brentanos großer Roman in einer Neuausgabe. Inzwischen kann auch seine Fortsetzung wiederentdeckt werden. Sie trägt den Titel "Franziska Scheler" und erschien zuerst 1945 in einem Schweizer Verlag, vier Jahre später noch einmal im Berliner "Tagesspiegel" – und wurde seitdem vergessen. Die Neuausgabe nach der Fassung letzter Hand – erneut besorgt von dem Münchner Germanisten Sven Hanuschek – belegt vor allem eines: die politische Brisanz von Brentanos Menschenbild. Und zwar gerade in einem Zeitalter kollektivistischer Ideologien, die von links oder von rechts den Einzelnen nach ihren Vorstellungen ummodeln wollten. In "Franziska Scheler" ist es Brentanos Alter Ego Leopold, der das Individuum vor äußeren Zugriffen verteidigt, auch gegenüber seinem besten Freund:
    " - Du bist einer der gescheitesten Menschen, die ich kenne, aber du glaubst, man könne einen Menschen ändern, das verblüfft mich mehr, als mich ein sprechendes Pferd verblüffen würde oder ein singender Elefant.
    - Ich habe mich sehr geändert, sagte Wilhelm, und ich glaube, dass man einen Menschen ändern kann, vorausgesetzt natürlich, dass er die notwendigen Anlagen hat.
    - Das ist die Mode der Zeit, sagte Leopold, und du bist keineswegs ein Einzelfall. In Russland werden seit 1917 hundert Millionen Menschen erzogen und in Italien 40. Aber die Katze fällt immer wieder auf die Pfoten, und die Menschen bleiben, wie sie immer waren. (…)"
    Ein kluger Verteidiger der Republik
    Der Roman "Theodor Chindler" endete 1918, mit der Geburt der neuen Republik. Die Fortsetzung spielt im Berlin von 1929, also elf Jahre später. Es ist der Höhepunkt der "Goldenen Zwanziger" – und zugleich das Jahr, in dem die Weltwirtschaftskrise beginnt und damit der Untergang der neuen Demokratie. Was Brentano seine nichts ahnenden Figuren aufführen lässt, ist somit ein Tanz auf dem Vulkan:
    "Der Kurfürstendamm war taghell erleuchtet. Leopold blieb unter einer Laterne stehen und betrachtete die dunkle Kette der Automobile, die sich auf der Fahrbahn vorüber schoben (…). Eine Fülle lächelnder Göttinnen glitt langsam an Leopolds Augen vorüber. Einige hielten das Lenkrad in der Hand, andere kuschelten sich gegen ihren Begleiter, und der Zuschauer dieses Schauspiels empfing manchen Blick, der wie ein Pfeil war und das getroffene Herz mit einer kindlichen, vielleicht sogar kindischen Sehnsucht vergiftete, einer Lust nach Bewegung und Reichtum, nach raschen Abenteuern und schamlosen Küssen (…)."
    In dem Hauptstadtjournalisten Leopold Chindler – im ersten Teil noch der zornige jüngste Sohn des Familienoberhaupts – hat die Republik einen klugen Verteidiger gefunden. Leopold wirbt für diese noch unfertige vielstimmige Demokratie: gegenüber seinem Bruder Karl, der als Ministerialrat nach einer starken Hand ruft. Aber auch gegenüber seiner sozialistisch gesinnten Schwester Maggie. Im ersten Teil mit ihrem Engagement für die sozial Schwachen noch eine der Sympathieträgerinnen, hat sich Maggie zu einer verbohrten Kommunistin entwickelt, die ihren Bruder anwerben will:
    "- Ich möchte dich nicht kränken, sagte [Leopold], aber du sprichst manchmal wie eine Wahnsinnige. Deutschland ist das freieste Land der Welt! (…) bei uns kann jedermann alles sagen und alles schreiben, was ihm grad einfällt. (…) Nennst du das Terror?
    – Du verstehst uns nicht, sagte Maggie. Du bist ein erstaunlich bürgerlicher Mensch.
    – Ihr seid leichter zu verstehen, als du denkst, sagte Leopold. Ihr seid die Priester eines neuen Glaubens, aber ich finde, dass ihr manchmal eine verdammt leichtfertige Sprache redet. Das Terrorgeschwätz ist unerträglich. Die Berliner Arbeiter sagen "Terór", und da sie es jedem Polizisten ins Gesicht schreien dürfen, wissen sie gar nicht, was das ist. Euer Terror ist jedenfalls erheblich handgreiflicher."
    Ein berührender Liebesroman
    Brentanos junger Held macht sich mit seinen Leitartikeln in diesem Berlin von 1929 einen Namen – aber nur so lange, bis seine Gegner eine Gelegenheit finden, ihn abzuservieren. Doch auch wenn "Franziska Scheler" wie der erste Teil ein Gesellschaftsroman ist, der vom Meinungsstreit lebt, so ist er doch auch ein berührender Liebesroman. Die politisch-gesellschaftliche Ebene scheint sogar über weite Strecken in den Hintergrund zu treten gegenüber den privaten Irrungen und Wirrungen der Protagonisten. Tatsächlich aber ist in Leopolds Beziehung zu seiner Jugendliebe Franziska das Private immer auch politisch. Zumal seine titelgebende Geliebte als geschiedene Frau und um das Sorgerecht bangende Mutter per se eine eminent moderne Figur ist. Wie schon im "Theodor Chindler" sind es auch hier gerade Brentanos komplexe Frauenfiguren und ihr Kampf um eine eigenständige Rolle im Leben, die nachhaltig beeindrucken.

    Bernard von Brentano: "Franziska Scheler"
    Roman, herausgegeben und mit einem Nachwort von Sven Hanuschek,
    Frankfurt am Main, 2015, 440 Seiten, 22,95 Euro.