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Graphic Novel
Im Packeis verloren

"Im Eisland" ist ein punktgenau realistisch gezeichneter Schwarzweiß-Comic von Kristina Gehrmanns, der anfänglich die Erwartungen der Leser irritieren mag. Die Bilder werden aber durch ein erstaunliches Einfühlungsvermögen in die möglichen Seelenverfassungen der verschiedenen Charaktere auf wundersame Weise bunt und vielschichtig.

Von Siggi Seuss |
    "Tausend Meilen segeln, dann acht Monate im Eis warten, dann wieder einige hundert Meilen segeln und wieder warten - jeder Begriff von Langsamkeit würde solche Leute schon bald verlassen haben."
    Dieser bedeutsame Satz Sten Nadolnys über die Ungeduld der Fortschrittsgläubigen steht zwar nicht in dem Buch, um das es hier geht, aber er wirft ein Licht auf den Expeditionsleiter und Polarforscher Kapitän Sir John Franklin, dessen Leben - vor allem dessen bescheidene und besonnene Lebensführung - Nadolny vor über 30 Jahren mit seinem Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit" gewürdigt hat. Der Satz wirft zudem ein Licht auf die junge Illustratorin und Autorin Kristina Gehrmann, die sich auf außergewöhnliche Weise der letzten Expedition Franklins widmet: In einer dreibändigen Graphic Novel unter dem Titel "Im Eisland", deren erster Teil, "Die Franklin-Expedition", vor kurzem erschienen ist. Der mit Unterstützung digitaler Techniken punktgenau realistisch gezeichnete Schwarzweiß-Comic, der sich in der Gesichtszeichnung der Charaktere an der Illustrationskunst des Manga orientiert, der Schwarzweiß-Comic mag anfänglich die Erwartungen der Leser irritieren. Selbst vielen Fans der Ligne Claire, der Klaren Linie in der Comic-Kunst, wird die Farbe fehlen.
    Die mögliche Enttäuschung legt sich allerdings nach der Lektüre der ersten Seiten. Der Künstlerin geht es nicht darum, den ungezählten Comic-Abenteuerromanen, die trotz fantastischer Colorierung häufig ziemlich schwarzweiß erzählt sind, eine weitere Fantasiegeschichte hinzuzufügen. Nein, sie möchte den tragischen Verlauf einer Nordpolarexpedition, die als "Expedition des Jahrhunderts" begann, so realistisch wie möglich nachzeichnen. Im Frühjahr 1845 stach man im Auftrag der britischen Krone mit zwei Schiffen, der "Erebus" und der "Terror", in See. 1848 endete das Unternehmen mit dem Tod aller 129 Expeditionsteilnehmer im Packeis.
    Das Wissen über das tatsächliche Geschehen hält sich bis heute in Grenzen. Trotz einer großen Zahl von Rettungsexpeditionen in den Folgejahren der Katastrophe wurde das Wrack der Erebus - des Schiffs, das Franklin befehligte - erst im vergangenen Jahr auf dem Meeresgrund im kanadisch-arktischen Archipel geortet. Von der "Terror" gibt es noch keine Spur. Sicher ist nur, dass die nach der dritten Überwinterung im Packeis noch lebenden 105 Expeditionsteilnehmer die Schiffe aufgaben und vergeblich versuchten, einen Außenposten der Hudson's Bay Company zu Fuß zu erreichen. Sicher ist auch, dass es unter den letzten Überlebenden zu Kannibalismus kam.
    Kristina Gehrmann hat die Geschichte penibel recherchiert und die bekannten Tatsachen aus Forschungsergebnissen und verfügbaren Dokumenten in die fiktive Geschichte dieser letzten, bestens vorbereiteten und voller Optimismus begonnenen Expedition Franklins eingeflochten. Das Unternehmen des erfahrenen, besonnen und sorgsam handelnden Polarforschers - einer Vaterfigur für seine Mannschaft - stand ganz unter dem Stern des beginnenden Zeitalters der unbegrenzten Möglichkeiten und der damit verbundenen Selbstüberschätzung des Menschen. "Zum Ruhm und zur Ehre" Großbritanniens sollte die Expedition die Schiffbarkeit des kurzen polaren Seewegs von Europa nach Asien, der Nordwest-Passage, beweisen.
    Die schwarzweißen Bilder werden durch Kristina Gehrmanns Ernsthaftigkeit in der Recherche und durch ihr erstaunliches Einfühlungsvermögen in die möglichen Seelenverfassungen der verschiedensten Charaktere auf wundersame Weise bunt und vielschichtig. Die Autorin und Illustratorin erzählt die Geschichte - auch mit einem aufmerksamen Blick auf vermeintliche Nebensächlichkeiten - sorgsam und bedächtig und ohne Zugeständnisse an modischen Abenteueraktionismus. "Die Entdeckung der Langsamkeit" - das Lebensprinzip, das Sten Nadolny John Franklin zuschrieb -, man findet es auch in der Art und Weise, wie Kristina Gehrmann ihre Bildergeschichte erzählt.
    Kristina Gehrmann: "Im Eisland, Band 1: Die Franklin-Expedition", Hinstorff Verlag, Rostock 2015, 224 Seiten, 16,99 Euro, ab zwölf Jahren

    Band 2, "Gefangen", erscheint im Herbst 2015
    Band 3, "Verschollen", im Frühjahr 2016