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Große Hoffnungen, kleine Ergebnisse

Die Leiterin des Hauptstadtstudios von DLF und DKultur, Sabine Adler, und der Ex-"FAZ"-Herausgeber Hugo Müller-Vogg debattieren über Erreichtes und Künftiges der Großen Koalition.

25.09.2009
    Jürgen Liminski: In zwei Tagen ist Bundestagswahl, Anlass für uns, in dieser Woche und an dieser Stelle in den "Informationen am Morgen" wichtige Themen des Wahlkampfes aufzugreifen, sie kritisch zu beleuchten, und zwar jeweils im Gespräch zwischen Deutschlandfunk-Redakteuren auf der einen Seite und Kollegen anderer Medien auf der anderen. Es geht uns darum, Positionen kenntlich zu machen und sie zugleich zu hinterfragen. Heute wollen wir den Blick auf die Leistungen oder auch Unterlassungen der Großen Koalition insgesamt richten. Ein im Kleinen und Ganzen eher positives Urteil fällt dabei die Leiterin unseres Hauptstadtstudios, Sabine Adler. Ich begrüße sie im Studio in Berlin. Und dort ist auch der Publizist und ehemalige Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Hugo Müller-Vogg. Er steht der Großen Koalition mit eher vernichtendem Blick gegenüber. Auch an Sie einen guten Morgen.

    Hugo Müller-Vogg: Guten Morgen.

    Sabine Adler: Guten Morgen.

    Liminski: Herr Müller-Vogg, die SPD hat die CDU von ihrem neoliberalen Kurs abgebracht, die Union hat die Sozialdemokratie wirtschaftsfreundlicher gemacht, alle trafen sich in der Mitte. Ist das kein guter Platz?

    Müller-Vogg: Das ist per se kein schlechter Platz. Nur wenn man nur um des lieben Koalitionsfriedens willen falsche Entscheidungen trifft, dann weiß ich nicht, was daran für das Land gut sein soll.

    Liminski: Frau Adler, alle verdammen die Große Koalition, offenbar auch Ihr Gast im Studio. War alles Murks?

    Adler: Das finde ich überhaupt nicht. Ich fand, dass bei ganz wichtigen Themen richtige, gute Weichenstellungen vollzogen worden sind und auch gelungen sind. Das allerwichtigste Thema: Krisenbewältigung. Da haben die beiden gut zusammengearbeitet. Bei den Bundeswehreinsätzen! Wir erinnern uns, wie quälend der erste Einsatz in der Großen Koalition beschlossen worden ist. Das war der Libanon-Einsatz 2006. Die FDP (bei einem angestrebten schwarz-gelben Bündnis jetzt) war die Partei, die sich diesem Einsatz überhaupt nicht anschließen konnte. Das war also auch ganz gut, dass man eine große Mehrheit zustande bekommen hat. Oder Rente mit 67! Ich fand und finde, dass das Abendland nicht untergegangen ist mit der Großen Koalition und dass es noch nicht mal so fürchterlich wäre und in einer Katastrophe enden würde, wenn es eine Neuauflage gäbe.

    Müller-Vogg: Ich bin zunächst einmal auch nicht der Meinung, dass alles Murks war. Das haben Sie jetzt, glaube ich, etwas sehr zugespitzt. Die Große Koalition hat sicherlich im Bereich der Außenpolitik gute Noten verdient, aber ich bin mit der Wirtschaftspolitik nicht zufrieden. Allerdings muss ich sagen, die Krisenbewältigung, das hat die Große Koalition unterm Strich gut gemacht. Das waren allerdings auch Szenen einer Ehe. Da haben sich zwei auseinandergelebt und dann kommt ein großer Schicksalsschlag von außen und schweißt die zwei noch mal eineinhalb Jahre zusammen. Ansonsten war die Große Koalition eigentlich schon in Untätigkeit erstarrt. Es fehlte von Anfang an sozusagen der Überbau, das große Ziel, was man eigentlich erreichen will. Da waren zwei Partner schwer angeschlagen aus der Bundestagswahl herausgekommen und so sind die beiden dann zusammen ins Koalitionsbett gefallen.

    Adler: Aber gerade bei der Krisenbewältigung würde ich doch einen ganz entscheidenden Abstrich machen. Das ist nämlich die sogenannte Abwrackprämie. Das war der größte Murks, den diese Koalition in diesem Punkt beschlossen hat, und da gab es so ein Hase- und Igel-Rennen, wer nun den ersten brauchbaren Vorschlag machte, und diese Verständigung, die, fand ich, ist viel zu unkritisch gelaufen. Da hat es sich gerächt, dass eine Große Koalition einer so kleinen Opposition nur Rechenschaft ablegen muss und die Opposition überhaupt nichts leisten kann.

    Müller-Vogg: Aber es gab auch andere Dinge, die in der Großen Koalition eigentlich sehr negativ sind. Die Große Koalition hat die Rentenformel geopfert. Früher hieß es mal etwas spöttisch, die Parteien machen Rentenpolitik nach Kassenlage. Das ist ja jetzt viel schlimmer. Die Rentenpolitik wird nicht nach Kassenlage gemacht, sondern nach Wahlkalender. Weil wir jetzt eine Wahl haben, wurden einfach die Renten erhöht, einfach so. Die Rentenformel ist zerstört, es gibt keine Berechenbarkeit mehr bei diesem wichtigen Pfeiler des Sozialstaates. Das ist keine Glanzleistung.

    Adler: Da, finde ich, haben Sie nur bedingt Recht, denn das, was die Große Koalition da geleistet hat, nämlich diese ganz, ganz schwere Entscheidung, der demographischen Entwicklung nun auch bitte mal endlich Folge zu leisten und das Rentenalter auf 67 raufzuschrauben, das war ein mutiger Schritt.

    Müller-Vogg: Der mutige Schritt Rente mit 67 ist richtig. Allerdings ist auch richtig: mutig war er auch nicht, weil man den Übergang hinausgezögert hat bis zum Jahr 2029.

    Adler: Und der wird schon wieder aufgeweicht!

    Müller-Vogg: Es wird aufgeweicht und es steht vor allen Dingen auch in dem Beschluss drin, dass 2010 die Sache überprüft werden darf, und ich bin ganz sicher, dass wenn die wirtschaftliche Lage so bleibt – und sie wird ja im nächsten Jahr eher schlechter -, wird man überprüfen und wird sagen, das können wir doch nicht so machen. Wissen Sie, über der Koalitionsvereinbarung steht die Überschrift "Mut und Menschlichkeit". Damit können sie einen Kirchentag leiten, aber das ist eigentlich keine politische Aussage.

    Adler: Aber dazu muss man sich auch mal die beiden Protagonisten angucken, die da stehen. Stehen die beiden wirklich für Mut? Beide, ich würde sagen, eingeschränkt. Sie sind halt wirklich sicherlich gute Regierungschefs, die solide Arbeit machen, solide Regierungsarbeit, aber sie sind beide ja nun wahrlich nicht Menschen mit Visionen, die Massen hinter sich vereinen können. Noch etwas, finde ich, ist ein Nebeneffekt der Großen Koalition, und den finde ich gar nicht so schlecht. Das ist, dass nicht jede politische Idee von vornherein verteufelt wird, wenn sie vom anderen Lager kommt, also dass wir nicht mehr ganz so rot-schwarz denken oder eben schwarz-weiß, sondern dass da ein paar Grautöne dazugekommen sind. Das finde ich eigentlich gar nicht so übel.

    Müller-Vogg: Der Nachteil ist natürlich, dass die Opposition keine Rolle spielt, dass das Parlament eigentlich entmachtet ist.

    Adler: Das ist wahr, das ist der große Nachteil.

    Müller-Vogg: Ich weiß nur eines: in "normalen" Verhältnissen ist die Opposition von heute die Regierung von morgen. Diese drei Oppositionsparteien werden zusammen nie regieren. Die Koalition aus FDP, Linkspartei und Grünen können wir uns beide nicht vorstellen, das wird es auch nie geben.

    Liminski: Bevor es staatspolitisch ausufert, ein kleines Stichwort. Die Große Koalition hat doch versucht, den Haushalt zu sanieren. War das Mittel der Mehrwertsteuererhöhung falsch oder richtig, Herr Müller-Vogg?

    Müller-Vogg: Haushaltskonsolidierung um den Preis der größten Steuererhöhung aller Zeiten, dazu bedarf es wahrlich keines großen Einfallsreichtums, dazu braucht es keinen großen Mut, weil man im Parlament fast eine Zweidrittelmehrheit hat. Das war eigentlich sozusagen der billigste Ausweg zu sagen, wir greifen euch erst mal in die Tasche und dann lassen wir uns anschließend dafür feiern, wie toll wir den Haushalt saniert haben. Wissen Sie, der Staat hat einfach kein Einnahmeproblem. Das Steueraufkommen in der Bundesrepublik ist zwischen 1991 und 2008 von 338 Milliarden auf 561 Milliarden angewachsen. Und dann hat eine Große Koalition nichts anderes zu tun, als noch mal die Steuerschraube anzuziehen? Das war eigentlich im Grunde der bequemste und der billigste Weg.

    Adler: Und das Erstaunliche war, dass die CDU dafür in Haftung genommen wurde, die es ja angekündigt hatte, nicht 3 Prozent, aber 2 Prozent, und die SPD da vergleichsweise ungeschoren davon kam. Das fand ich erstaunlich in der Wahrnehmung, in der Perzeption auch durch uns, durch die Medien.

    Liminski: Beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit waren aber deutliche Erfolge zu verzeichnen?

    Müller-Vogg: Ja. Das war die Agenda 2010, die das angeschoben hat, und da war jetzt wiederum die andere Ungerechtigkeit. Gerhard Schröder, der das gemacht hat, der hat das auf den Weg gebracht, aber die SPD hat davon nicht profitiert, während die Früchte eigentlich eher Angela Merkel geerntet hat.

    Adler: Und sie hat davon nicht profitiert, weil sie sich, anstatt sich wirklich auf diesen Lorbeeren nicht auszuruhen, aber vielleicht auch mal darauf hinzuweisen, wer da die Vorarbeit geleistet hat, selbst zerfleischt hat. Das hatte auch noch andere Gründe, aber das war ganz sicherlich vollkommen kontraproduktiv und hat insgesamt der Wahrnehmung der SPD in dieser Großen Koalition geschadet, hat damit auch etwas eingeschlagen, dass auf der einen Seite sowieso die Kanzlerin immer diejenige ist, auf die die Scheinwerfer gerichtet sind, damit also auch ihre Partei, und die SPD, von der wirklich viele Vorschläge endlich durchgesetzt worden sind, was bei rot-grün nicht gelungen ist, das ist sozusagen unbemerkt geblieben und immer wieder auf das Konto der CDU gegangen.

    Müller-Vogg: Ja. Auf das Konto der CDU, der Familienpolitik geht die Tatsache, dass der Staat zum ersten Mal sagt, wenn ein Kind nicht nur von der Mama gewickelt wird, sondern auch vom Papa, dann zahlen wir für dieses Papakind bis zu 3600 Euro im Jahr mehr. Ich halte das für eine seltsame Rechnung. Wenn nur die Mama das Kind wickelt, dann ist das dem Staat nicht so viel wert, als wenn auch der Papa dabei ist. Das ist noch hinausgegangen über das, was rot-grün wollte, und wird der Union zugerechnet, wobei ich nicht weiß, ob es sich in Stimmen niederschlägt.

    Liminski: Ein kontroverses Thema ist auch der Mindestlohn gewesen. Frau Adler.

    Adler: Der flächendeckende Mindestlohn, den die SPD verlangt, der ist nicht gekommen, weil man sich die Mühe gemacht hat, aus einem Widerstand, ihn erst mal zunächst überhaupt abzulehnen, noch einen Kompromiss zu finden. Ich finde, das ist eines der wenigen Beispiele, wo die Kompromisssuche wirklich mal in ein gutes Resultat mündete, wo man gesagt hat, da ist die Übertragung in die eine wie in die andere Richtung völlig kontraproduktiv.

    Müller-Vogg: Frau Adler, sehen Sie es mir bitte nach, da muss ich Ihnen widersprechen. 9,80 Euro Mindestlohn für einen Briefträger, dessen einzige Qualifikation darin besteht, dass er den Straßennamen entziffern kann und weiß, dass die Nummer 13 entweder links oder rechts von der Nummer 14 ist, während Leute mit Ausbildungsberufen viel geringere Löhne haben, das war natürlich ein Treppenwitz. Der Mindestlohn ist ja gekommen, und zwar durch die Hintertür. Wir kriegen jetzt die Branchenmindestlöhne, das ist nicht ganz so schlimm wie der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn, aber geht genauso in die falsche Richtung. Abgesehen davon ist der Mindestlohn die größte Mogelpackung aller Zeiten. Von 7,50 Euro kann niemand leben.

    Liminski: Darf ich ein anderes Stichwort mal in die Runde werfen: die Energiepolitik. Reduziert sich da der Unterschied auf die Länge der Laufzeiten bei den AKWs, oder ist das eigentlich nur viel Lärm um eine im Prinzip gemeinsame Politik?

    Adler: Da sehe ich durchaus noch andere Unterschiede. Da haben wir natürlich die erneuerbaren Energien, die Solarindustrie. Eine Entwicklung zeichnet sich ab, dass es Überkapazitäten gibt. Das ist etwas, was die SPD eher nicht wahr haben möchte. Da gibt es schon Unterschiede und die wirklich neuen Technologien, die sind vergleichsweise sehr spät überhaupt erst in den Fokus dieser ganzen Energiediskussion geraten. Dass da wirklich innovative Sachen durchaus realisierbar sind, darüber wurde vergleichsweise wenig und spät geredet.

    Müller-Vogg: Ich hätte mir eigentlich gewünscht, dass die Große Koalition mit ihrer großen Mehrheit die Frage der Endlagerung anders angeht und dort eine Lösung findet. Es gibt politische Probleme, wofür eine Große Koalition prädestiniert ist, weil sie dann über alle Widerstände hinweg mit einer breiten Mehrheit was machen kann und in dem Fall CDU/SPD auch die Länder mit einbezogen wären, und da hat die Große Koalition versagt. Die Frage, ob das eine Kernkraftwerk ein bisschen früher oder später vom Netz geht, ist gar nicht so relevant. Ohnehin ist die Diskussion nicht sehr ehrlich. Diejenigen, die fürs Abschalten sind, sagen, dann importieren wir den Atomstrom aus anderen Ländern. Insofern ist das eine große Scheindebatte.

    Adler: Und auch eine große Schlamperei. Diese wirklich wichtige Frage nicht zu lösen, das geht eigentlich überhaupt nicht und sie hätte es gekonnt.

    Müller-Vogg: Frau Adler, ich bin völlig bei Ihnen, wenn Sie über die Große Koalition Kritisches sagen.

    Liminski: Die Große Koalition, für und wider. Das waren Sabine Adler, Leiterin unseres Hauptstadtstudios, und Hugo Müller-Vogg, Buchautor und Publizist. Ich danke Ihnen beide für das anregende Gespräch.

    Adler: Vielen Dank!

    Müller-Vogg: Ja, gerne. Vielen Dank.


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