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Günther Rüther: "Die Unmächtigen"
Die mahnende Stimme der Intellektuellen

Viele Schriftsteller haben sich auf die politische Bühne begeben und ihr Wort in die Waagschale geworfen - ihr politisches Wort, nicht das poetische. Dafür ernteten sie von einer Seite Beifall und von der jeweils anderen Seite Spott, Häme und Ignoranz. Ihnen widmet sich Günther Rüther in seinem Buch "Die Unmächtigen. Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945".

Von Henry Benhard | 23.05.2016
    Leipziger Buchmesse
    Die Rolle der Intellektuellen für die Politik analysiert Günther Rüther in seinem neuen Buch. (AFP / Robert Michael)
    Unmächtig, nicht ohnmächtig, sind die Intellektuellen in Günther Rüthers Augen, weil sie der Macht auf Augenhöhe begegnen. Kritisch bis zum Dissidententum oder auch schmeichlerisch als Günstlinge der Regierenden. Rüther schreibt:
    "Die Wahrheit hat viele Gesichter. Hier liegt der Urgrund des Konflikts zwischen Geist und Macht. Beide Seiten streiten um die Deutungshoheit der Wahrheit. Die Politik möchte sie nicht verlieren, deshalb fürchtet sie das offene, ungeschminkte Wort der Dichter und Denker. Sie umgarnt sie, um sie für sich zu gewinnen. Sie fördert sie, um sie zu besänftigen. Sie stört sie, um sie abzulenken. Sie missachtet sie, um sie auszugrenzen. In Diktaturen droht sie ihnen, wenn ihre Worte und Erzählungen ihre Macht gefährden. Doch die Unmächtigen verfügen in der Regel über den längeren Atem."
    Es ist von unbedingtem Vorteil, dass Rüther beide deutsche Staaten und deren jeweilige Intellektuelle in den Blick nimmt. Und er beginnt noch vor den Staatsgründungen, bei der angeblichen Stunde Null. In der NS-Zeit emigrierte Intellektuelle diskutierten mit den Dagebliebenen, mit den innerlich emigrierten, wer den richtigen Weg eingeschlagen hat – mit teilweise ätzenden Argumenten.
    Wenige Remigranten konnten an frühere Erfolge anknüpfen. Im Osten umwarb man die vertriebenen Denker. Sie sollten durch ihre Rückkehr die neue Gesellschaftsordnung adeln. Bertolt Brecht kam, Hanns Eisler, Johannes R. Becher, Anna Seghers. Jedoch hatten sie sich ganz in den Dienst einer Sache zu stellen. So formulierte der SED-Funktionär Otto Grotewohl 1947.
    "Die Idee in der Kunst muss der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen. Was sich in der Politik als richtig erweist, ist es auch unbedingt in der Kunst."
    Hier sahen aber nicht nur die SED-Genossen, sondern auch die Intellektuellen ihre Chance: Einfluss nehmen, den großen Ideen und Visionen zum Durchbruch verhelfen. Dies versuchten DDR-Autoren – mit abnehmendem Optimismus – bis zum Ende des Systems. Rüther differenziert sehr fein zwischen den Apologeten der SED-Macht, den Angepassten, den Kritischen, den wenigen Widerständigen – will verstehen, nicht verurteilen. Er zeigt, wie sie und die mal schärfer, mal lockerer agierende Kulturpolitik der SED sich mitunter gegenseitig drangsalierten, arrangierten, kujonierten.
    Im Westen, so der Autor, habe es mit Alfred Andersch und Hans Werner Richter, der Zeitschrift "Der Ruf" oder der "Gruppe 47" diesen Traum von der Synthese von Geist und Macht auch gegeben.
    "Als sie sich als unrealistisch erwies, rückten sie von der Politik ab. Traumverloren wurden sie politisch heimatlos. Sie ließen sich von Visionen leiten, die jenseits des politisch Machbaren lagen. Der Bundesregierung warfen sie vor, überkommene soziale und politische Strukturen zu restaurieren."
    Dafür sieht Rüther keinerlei Anzeichen. Die 50er-Jahre seien vielmehr eine Zeit der vertanen Chancen gewesen – ohne Dialog mit der Politik, von dem beide Seiten hätten profitieren können. In Günter Eichs "Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt" sieht er eine Parole, die zum radikalen Widerspruch per se aufforderte, die Linksintellektuellen vom politischen Betrieb entfremdete und die Aufarbeitung der Nazizeit eher behinderte als beförderte.
    Selbst ins gesellschaftliche Abseits manövriert
    Die Intellektuellen hätten sich so selbst ins gesellschaftliche Abseits manövriert – aber nicht ohne die Medien für sich zu erobern. Mit den Intellektuellen im Westen geht Rüther ungleich schonungsloser ins Gericht. Vielleicht, weil sie sich, anders als ihre Kollegen im Osten, frei entscheiden konnten, vielleicht, weil sie seinen persönlichen Leitsternen Konrad Adenauer und Helmut Kohl so unbequem waren.
    Im Umgang der Intellektuellen mit seiner politischen Heimat CDU sieht er vor allem ein Feld des gegenseitigen Missverständnisses. In Günter Grass findet er einen, der sich im Wahlkampf für Willy Brandt aktiv in die konkrete Politik einmischte und die Bonner Republik gegen ihre Gegner von Rechts und Links verteidigte.
    "Mit der Wahl von Willy Brandt zum Kanzler 1969 erfüllten sich die lang gehegten Träume vieler Intellektueller. Die herbeigesehnte Symbiose von Geist und Macht sollte nun endlich Wirklichkeit werden. Sie träumten von einer neuen Republik, die sie mitgestalten, die sie ehren könnten und von der sie nobilitiert würden. Sie verloren ihre Unabhängigkeit und Radikalität im Denken und Schreiben."
    Der Radikalenerlass und der Wechsel der Kanzlerschaft zu Helmut Schmidt, dem jedes unkonkrete Träumen suspekt war, desillusionierte sie bald. Auch die Schriftsteller im Osten ließen viele Hoffnungen fahren, gut sichtbar im Aderlass an Künstlern nach Wolf Biermanns Aussperrung 1976. Günther Rüther schreibt äußerst kenntnisreich über beide Seiten der Mauer, faktengesättigt und mit buchhalterischer Strenge noch bis in die letzte Verästelung der unberechenbaren SED-Kulturpolitik.
    Rüther bescheinigt kollektives Versagen zur Wiedervereinigung
    Verblüfft stellt er am Ende fest, dass die Intellektuellen auf beiden Seiten zur Wiedervereinigung nur als Kritiker, Warner und Mahner, nicht aber als Sinnstifter auftauchten. Er bescheinigt ihnen kollektives Versagen.
    "Die großen Verbrechen des 20. Jahrhunderts wurden im Namen einer Idee an der Gesellschaft begangen. Diese Idee wurde von Intellektuellen, allzu oft von Schriftstellern und Künstlern, argumentativ gestützt, besungen und gutgeheißen."
    Warum das so war oder ist, kann Günther Rüther nicht schlüssig beantworten. Heute sieht er das Feuer der Intellektuellen erloschen. Rüther hält sie gerade mit Blick auf Europa jedoch immer noch für wichtig:
    "Europa braucht die Stimme der Intellektuellen. Wer, wenn nicht sie, können sich bei den politischen Eliten Gehör verschaffen. Ihre Aufgabe liegt nicht darin, sie zu beraten. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, Defizite öffentlich bewusst zu machen und die Sprache der Macht in eine allgemein verständliche Sprache zu übertragen. Ohne ihre Hilfe besteht die Gefahr, dass die europäische Einigung ihr geistig kulturelles Fundament verliert. Sie selbst können dabei in eine neue Rolle hineinfinden und als Unmächtige der Macht erneut auf Augenhöhe begegnen."
    Rüther ist kein Mann der Visionen. Er bleibt sachlich und wohltuend distanziert in alle politischen Richtungen, solange er über die weitere Vergangenheit schreibt. In der Zeitgenossenschaft jedoch wird er Partei, da preist er seitenweise Helmut Kohl als das ewig unerkannte Genie. Dennoch ein sehr lesenswertes, informatives Buch, über das man streiten kann.
    Buchinfos:
    Günther Rüther: "Die Unmächtigen. Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945",
    Wallstein Verlag, 350 Seiten, 24,90 Euro.