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Heinrich August Winkler
Parforceritt durch die Geschichte von West und Ost nach '45

Im dritten Band seiner "Geschichte des Westens" analysiert der Historiker Heinrich August Winkler gewohnt souverän die Zeitspanne vom Kalten Krieg bis zum Mauerfall. Sein über tausend Seiten starkes Buch ist eine Weltgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Von Thilo Kößler |
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    "Ich glaube, man kann die Geschichte des Westens gar nicht schreiben, ohne die Antipoden miteinzubeziehen", sagt Heinrich August Winkler. (picture alliance / ZB / Karlheinz Schindler)
    Heinrich August Winkler macht nicht durch steile Thesen von sich reden, sondern durch bestechende Analysen und die Fähigkeit, die vermeintlich disparaten Entwicklungen der Weltgeschichte zusammenzudenken, zu bündeln und einer schlüssigen Bewertung zu unterziehen. Auch dieser dritte Band bewältigt wieder souverän eine geradezu unermessliche Materialfülle - dies umso mehr, als Winkler seinem Anspruch gerecht wird, eine transnationale Geschichte zu schreiben - mit entsprechend ausuferndem Quellenstudium. Besonders beeindruckend ist aber, wie stringent Winkler seine These verfolgt, wonach "der Westen" ein normativ-prägendes Projekt ist und es folglich ein gemeinsames historisches Erbe gibt: Diese These scheint sich auf jeder Seite gewissermaßen wie von selbst zu bestätigen.
    Das normative Projekt des Westens - das sind für Winkler die Ideen von Freiheit, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Demokratie und sozialer Verantwortung, deren Ursprung er im lateinischen Europa sieht:
    "Das alles hat es im orthodoxen Europa nicht gegeben, wo die geistliche Gewalt der weltlichen untergeordnet blieb, da fehlt diese Keimzelle der Freiheit und vieles andere mehr, was den dualistischen Geist des Westens ausmacht. Und dann entsteht daraus das, was ich das normative Projekt des Westens nenne - die Summe der Ideen von 1776 und 1789, das gemeinsame Erbe der beiden atlantischen Revolutionen, der amerikanischen und der französischen."
    Auch in diesem dritten Band der Geschichte des Westens bleibt Winkler seinem doppelten Bezugsrahmen treu. Auf der einen Seite schreibt er geradezu enzyklopädisch die Chronologie der Ereignisse fort: also die Zeit zwischen 1945 und 1989, zwischen Kriegsende und Zusammenbruch des Sowjetimperiums, die Epoche der Teilung Europas, des Kalten Krieges, der Konfrontation der beiden Supermächte bis hin zu den Reformprozessen, zu Glasnost und Perestroika, dem Sturz der Regime und dem Fall der Mauer. Auf der anderen Seite spiegelt er diese Ereignisse konsequent im Licht dieses "normativen Projekts des Westens": So konstituierend die Revolutionen von 1776 und 1789 für die westlichen Gesellschaften waren, so folgenreich waren die Erklärung der allgemeinen Menschenrechte der UNO von 1948 und die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975. An deren Prinzipien wurden all jene Regime im sogenannten Ostblock, die sie unterzeichnet hatten, fortan gemessen: Menschenrechte und Meinungsfreiheit wurden für die Dissidenten zum politischen Kompass im Protest gegen die kommunistische Einparteien-Herrschaft.
    Eine Weltgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
    In diesem Sinne schreibt Heinrich August Winkler eben nicht nur eine transnationale Geschichte des Westens, sondern auch eine Geschichte ihrer Antipoden - mithin eine Weltgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
    "Ich glaube, man kann die Geschichte des Westens gar nicht schreiben, ohne die Antipoden miteinzubeziehen, das heißt für die Zeit nach 1945, ohne ausführlich auf die Sowjetunion und den sogenannten Ostblock einzugehen. Aber auch auf einen anderen östlichen Widersacher, die Volksrepublik China."
    Das Jahr 1945 war die Wegmarke, die nicht nur die Befreiung von Nationalsozialismus und faschistischer Diktatur bedeutete - sondern auch die neue Ordnung von Jalta, die Teilung der Welt in die Interessensphären der beiden Supermächte. An die Stelle des alten multilateralen Gleichgewichts in Europa trat ein bilaterales Gleichgewicht des Schreckens. Winkler schreibt:
    "Nie zuvor hatte der transatlantische Westen so sehr eine Einheit gebildet wie in den viereinhalb Jahrzehnten zwischen 1945 und 1990. Wem innerhalb des Westens die Rolle der Hegemonialmacht zufiel, war nie zweifelhaft(...) Spätestens 1945 wurde das 20. Jahrhundert vom 'amerikanischen Jahrhundert' auch zum 'transatlantischen Jahrhundert'."
    Von den Anfängen des Kalten Krieges zum Koreakrieg und zur Kubakrise; von Chruschtschows Sturz zur Breschnew-Doktrin, vom Vietnamkrieg zur Ölkrise, von den Reagan-Jahren zur Kanzlerschaft Helmut Kohls, von den ersten Rissen im Gefüge des Sowjetimperiums zum Protest auf der Danziger Werft: Heinrich August Winkler schickt den Leser in einem zwölfhundertseitigen Parforceritt durch die Geschichte - und ist sich der Gefahr bewusst, sich dabei immer wieder im Dickicht der Einzelheiten zu verlieren. Es kostet ihn eine gehörige Portion Disziplin, dann doch immer wieder die Kurve zu kriegen und den Kurs zu halten.
    Großartig das Kapitel über die Suezkrise von 1956, in der er die letzten Zuckungen im Großmachtgebaren Großbritanniens und Frankreichs schildert. Brillant die Darstellung des schleichenden Erosionsprozesses im sowjetischen Machtbereich mit den Sonderwegen Jugoslawiens und Ungarns. Und sehr konzise die Schilderung der bahnbrechenden Ereignisse in Polen, die zur Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc führten und schließlich zum Runden Tisch in Warschau: Dieses Forum war für die Oppositionsbewegung im Sommer 1989 das Sprungbrett zur Beteiligung an der Macht.
    "Die Kohabitation eines kommunistischen Staats- und eines nicht-kommunistischen Regierungschefs war Teil jenes "historischen Kompromisses", der einen radikalen, aber zugleich geregelten und ausbalancierten Transformationsprozess einleiten sollte. Wenn das Experiment gelang, hatte Polen, der erste postkommunistische Staat Europas, eine einzigartige Chance: Es konnte zum Pionierland eines fundamentalen Systemwandels in Ostmitteleuropa werden - zum Vorreiter einer transnationalen friedlichen Revolution, wie sie die Geschichte noch nicht gesehen hatte."
    Ohne Michail Gorbatschow keine deutsche Einheit
    Aber auch daran lässt Heinrich August Winkler keinen Zweifel: Ohne Michail Gorbatschow, ohne den am Ende gescheiterten Reformer des untergehenden Sowjetimperiums, wäre der Prozess der Deutschen Einheit völlig unvorstellbar gewesen.
    "Bei allem, was Russland an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie immer noch fehlt, wurde es durch Gorbatschow doch freier, als es jemals war. Ohne ihn wäre es nicht zu jenen friedlichen Revolutionen gekommen, die Millionen von Menschen in Ostmitteleuropa die politische Freiheit brachten. (...) Kein anderer Staatsmann hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen derart tiefgreifenden internationalen, politischen und gesellschaftlichen Wandel bewirkt wie er. Darin liegt seine historische Größe."
    Und doch haben sich viele Hoffnungen von 1989 nicht erfüllt. Russland konnte nicht auf das "normative Projekt des Westens" eingeschworen werden - und wie die Ereignisse auf der Krim und in der Ukraine zeigen, ist auch die Hoffnung zerstoben, europäische Staaten würden niemals wieder gewaltsam Grenzen verrücken. Heinrich August Winkler hält das Jahr 2014 deshalb bereits heute für ein ähnlich epochemachendes Jahr wie 1989.
    Man darf gespannt sein auf den vierten und letzten Band seiner "Geschichte des Westens". Heinrich August Winkler hat versprochen, sich dieses Mal kurz zu fassen. Mehr als 600 Seiten sollen es nicht werden.
    Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens.
    Vom Kalten Krieg zum Mauerfall
    C.H. Beck Verlag, 1.258 Seiten, 39,95 Euro
    ISBN 978-3-406-66984-2