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Heinz Rein: "Finale Berlin"
Die letzten Tage des Krieges in Berlin

Der Autor Heinz Rein hat seinen dokumentarischen Roman "Finale Berlin" über das Ende des Zweiten Weltkrieges in Berlin innerhalb kürzester Zeit niedergeschrieben - er erschien schon 1947. Nun, sieben Jahrzehnte nach Kriegsende, folgt die dritte Auflage.

Von Ursula März | 01.03.2015
    Blick auf einen Linienbus im zerstörten Berlin der Nachkriegszeit (undatiertes Archivbild von 1945).
    Das Kriegsende bedeutete für Berlin Zerstörung, aber gleichzeitig auch schon Neuanfang. (picture alliance / dpa )
    "Der Morgen bricht herein, fahl sickert sein trübes Licht auf die Ruinenfelder herab: Ein neuer Tag zieht herauf.
    Berlin, 26. April 1945, einer der letzten Tage des Zweiten Weltkriegs.
    "Die Geschütze werden wieder aufbrüllen und Tod und Verderben über die Stadt schütten, die Flieger werden wieder wie vorsintflutliche Pterodaktylen über die Dächer rasen und mit eisernen Schnäbeln auf alles Leben einhacken, wieder werden Soldaten in einen sinnlosen Kampf getrieben, getötet oder verstümmelt werden, Frauen in bitterster Sorge um ihre Kinder nach Milch und Brot durch die zertrümmerten Straßen irren und von der Sense des Todes niedergemäht werden, Millionen Menschen weiterhin frierend, hungernd, fiebernd, angsterfüllt in Kellern und Untergrundbahnschächten kauern."
    Berlin als letzter Schauplatz des Krieges
    Zehn Tage zuvor, am 16. April, hat die Rote Armee mit der militärischen Eroberung der Reichshauptstadt begonnen. Vier Tage später wird Adolf Hitler im Bunker des Führerhauptquartiers Selbstmord begehen, zwölf Tage später die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht in Kraft treten. Berlin ist der letzte Schauplatz des Krieges. Für die knapp drei Millionen Einwohner und 800.000 verschleppten ausländischen Zwangsarbeiter zählt am 26. April für das Überleben des Infernos jede Stunde.
    "Der Kampf um Berlin ist in ein Stadium eingetreten, das später einmal als das Sodom und Gomorrha einer modernen Großstadt bezeichnet werden wird. Obwohl das Trümmermeer Berlin bereits in zwei Zonen zerfallen ist, in einen von den Russen eroberten und einen noch von den Deutschen verteidigten Teil, sind die Schrecken auch für die dem Kampf bereits entrückte Bevölkerung nicht geringer, denn die deutsche Artillerie nimmt befehlsgemäß die Häuser ihrer eigenen Stadt unter Beschuss, und die deutsche Luftwaffe wirft Bomben gleichermaßen auf die bolschewistischen Feinde wie auf die deutschen, eben noch von ihr angeblich verteidigten Volksgenossen, aber während dort die letzten kläglichen Reste der einstigen Gewaltordnung im blutigen Chaos verröcheln, sind hier bereits die ersten Ansätze einer neuen Ordnung zu erkennen, wird das erste Brot wieder gebacken und von den Lastwagen der Roten Armee herab verteilt. Aber die russischen Soldaten sind nicht nur Befreier, viele sind auch Plünderer und Vergewaltiger".
    Dieses Zitat könnte einem Geschichtsbuch entstammen. Aber es findet sich in einem Roman, der, verfasst in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Kriegsende, unter anderem die Intention eines dokumentarischen Geschichtsbuches verfolgt. "Finale Berlin", so sein Titel, erschien 1947. Sein Autor, der ehemalige Sportreporter Heinz Rein, muss dieses, nicht weniger als 800 Seiten umfassende Buch innerhalb weniger Monate in geradezu besessener Hast niedergeschrieben haben. Trotz größter Papierknappheit brachte der kommunistische Dietz Verlag "Finale Berlin" mit der Bestsellerauflage von 80.000 Exemplaren heraus. Im Jahr 1980 erschien der Roman ein weiteres Mal in der Büchergilde Gutenberg und nun, sieben Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, legt der Frankfurter Schöffling Verlag ihn neu auf. Ein publizistischer Glücksfall. Denn was der Leser hier vor sich hat, mag kein literarisches Meisterwerk im Sinn ästhetischen Ranges und kompositorischer Brillanz sein.
    Die Dialoge ähneln über weite Strecken Debattenbeiträgen, die an die Romanfiguren verteilt werden; die Dramaturgie rappelt; der Sprachstil geizt nicht mit geschwollenen Bildern und pathetischen Formulierungen; ohne Rücksicht auf Kongruenz stehen innere Monologe, szenische Beschreibungen, Zeitungsmeldungen, Funksprüche der Armeeführungen nebeneinander; die Sachlichkeit eines Tatsachenromans reibt sich mitunter am expressionistischen Beschreibungsgestus. Aber "Finale Berlin" zählt zu jenen Romanen, deren Rang jenseits künstlerischer Stärken oder Schwächen zu bemessen ist. Ihr Wert liegt in ihrer Zeugniskraft. "Finale Berlin" hat die Kraft historischen Rohmaterials. Gerade das Ungestaltete des Romans trägt zu seiner Unmittelbarkeit bei. Hier schrieb ein Autor, der vor allem eines wollte: Nichts vergessen von dem, was er im April 1945 in Berlin sah, hörte und erlebte.
    "In den frühen Nachmittagsstunden des 14. April 1945 wird die Tür eines Restaurants in der Straße am Schlesischen Bahnhof in einer Weise geöffnet, wie es niemals zuvor geschehen ist. Sie wird nicht weit aufgerissen oder einfach mit den Füßen aufgestoßen, wie manche Gäste es gerne tun, es wird auch nicht übermütig oder mit Kraftaufwand auf die Klinke geschlagen oder einfach ohne jede Zeremonie aufgeklinkt, nein, die Tür wird langsam, fast behutsam geöffnet, nur einen schmalen Spalt weit, die Lücke zwischen dem Türrahmen und dem flankierenden Schaufenster ist so breit, dass sich ein schmächtiger junger Mann eben noch durchzwängen kann."
    Hauptcharakter ein 20-jähriger Deserteur
    Der junge Mann, der sich im ersten Absatz des Romans so unauffällig wie möglich in eine Berliner Gastwirtschaft schiebt, heißt Joachim Lassehn und ist einer der Hauptakteure der Romanerzählung. Der 20-Jährige, in Zivil Gekleidete hat Grund zur Vorsicht. Denn ein paar Tage zuvor ist Joachim Lassehn aus der Wehrmacht desertiert. Jeder falsche Schritt könnte ihn verraten und einem Erschießungskommando der SS ausliefern. In Berlin sucht er nach einem Versteck. Dass er in der Kneipe von Oskar Klose dieses findet, ahnt er noch nicht, als er sich auf eine Eckbank setzt, ein Bier bestellt und eine Zeitung zur Hand nimmt.
    "Lass doch die Faxen!" sagt der Wirt, und in seiner Stimme mischen sich seltsam Befehl und Bitte. "Seit wann bist du denn unterwegs?" Der junge Mann wirft noch rasch einen Blick auf die Überschriften:
    "Ein verwüsteter Erdteil schickt Roosevelt seinen Fluch nach/ Der Kriegsanstifter vom Schicksal gerichtet/ Große Bestürzung in London/ Massenmorde auf seinem Schuldkonto".
    Dann lässt er die Zeitung sinken und starrt den Wirt mit weit aufgerissenen Augen an. "Wie meinen Sie das, Herr?" "Wann Du getürmt bist, will ich wissen", sagt der Wirt ungeduldig. "Ich verstehe Sie nicht", sagt der junge Mann und legt die Zeitung beiseite, als störe sie ihn jetzt, dann richtet er sich steil auf, legt beide Hände auf die Knie und schiebt den Oberkörper vor. Seine Haltung deutet Angespanntheit und Sprungbereitschaft an. "Mir machst du doch nichts vor, mein Junge", meint der Wirt und verzieht seinen dicken, schwabbeligen Mund zu einem breiten Grinsen, "du bist getürmt, bist abgehauen, hast in den Sack gehauen, hast die Faxen dicke oder - man kann es natürlich auch so ausdrücken - bist desertiert". Der junge Mann schnellt hoch und zieht hastig einen Revolver aus der Manteltasche. "Ich schieße Sie glatt über den Haufen, wenn Sie versuchen sollten, mich den Greifern auszuliefern", ruft er atemlos."
    In dieser ersten Szene wird deutlich, worum es dem Roman im Kern geht: Um eine Darstellung der doppelten Zerstörung Deutschlands am Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die äußere und die innere Zerstörung. Nicht nur die Stadt Berlin, auch die Seelen der Menschen gleichen einer Ruinenlandschaft. Misstrauen ist die Basis der sozialen Verkehrsformen, Verrat an der Tagesordnung, bewaffnete Selbstverteidigung ein normaler Reflex. Unter den Bedingungen der Diktatur wird jeder Satz zur Falle und jeder Ort zur Gefahr. Eine Atmosphäre thrillerhafter Spannung durchzieht den Text von der ersten bis zur letzten Seite.
    "Der Wirt lehnt sich behaglich in den Stuhl zurück, legt das Kinn auf die Brust und blickt unter hochgezogenen Augenbrauen auf. "Steck das Ding weg", sagt er ruhig. "Hast du bei mir nicht nötig." - "Ich traue Ihnen nicht", sagt der junge Mann erregt und nimmt den Finger nicht vom Abzug, "ich traue niemandem, jeder ist heutzutage ..." - "Nicht jeder, mein Junge, nicht jeder", unterbricht ihn der Wirt. "Leg das Ding weg und setz dich wieder hin." Der junge Mann nimmt zögernd wieder Platz, aber er legt den Revolver nicht fort und beobachtet jede Bewegung des dicken Gastwirts. "Wer sind SIE denn, dass Sie sich ausnehmen?" Der Wirt lacht schallend auf. "Ich bin Oskar Klose, Kneipenwirt. Mein Name steht draußen groß und breit dran für jeden, der zu lesen versteht. Und wer bist du?"
    Kneipe als konspirativer Treffpunkt
    Er ist im April 1945 nicht nur Kneipenwirt, dieser Oskar Klose. Er ist der Mittelpunkt einer Gruppe von Widerstandskämpfern, deren Geheimaktionen einen der Erzählstränge des Romans bestimmen. Der im KZ gefolterte Gewerkschafter Friedrich Wiegand und der Arzt Walter Böttcher gehören zu der Gruppe, die in Oskar Kloses Kneipe ihren konspirativen Treffpunkt findet. Unter zweifacher Todesgefahr - durch die SS und die Bombardements der Alliierten - begehen sie Sabotageakte, um das Kriegsende zu beschleunigen, stellen Flugblätter her, die deutsche Truppen zur Kapitulation aufrufen. Und die Gruppe hilft desertierten Soldaten, in der Illegalität unterzutauchen. Der Deserteur Joachim Lassehn ist durch Zufall an die richtige Adresse geraten.
    "Und wo stehen die Russen?" fragt Wiegand und beugt sich über die Karte. "Sie können nicht mehr weit sein", erwidert Schröter, "wenn der Wind günstig ist, kannst Du schon das Brummern ihrer Panzer hören. Soweit ich Meldung habe, kommen sie von Marzahn über die Hohenschönhausen hauptsächlich über die Landsberger Chaussee, die Große Leege- und die Berliner Straße, ihre Spitzen sollen schon ziemlich dicht am Weißenseer Weg sein. Unsere Aufgabe besteht nun darin", Schröter setzt die Worte jetzt vorsichtig, "unseren sogenannten Feinden den Weg dadurch frei zu machen, dass die drei erwähnten Stützpunkte keinen Widerstand leisten, denn er wäre nicht nur sinnlos, er wäre auch verbrecherisch, er würde die Häuser und Lauben, die noch stehengeblieben sind, in Schutt und Asche legen und Opfer unter der Bevölkerung, den Alten, Frauen und Kindern fordern. Das müssen wir verhindern"! Schröder bekräftigt seine Worte mit ein paar Schlägen auf den Tisch. "Euer Plan?" fragt Wiegand kurz."
    Dass eine Gruppe von NS-Gegnern durch die Handlung führt, somit die Kommentierung der politisch-historischen Situation im April 1945 und die Deutungsperspektive des Romans übernimmt, lässt sich aus der Biografie des Autors Heinz Rein erklären. Rein wurde 1906 in Berlin geboren, arbeitete in den 20er-Jahren als Bankangestellter, später als Sportreporter. Im Jahr 1933 erlegten die nationalsozialistischen Machthaber dem links engagierten Autor ein Schreibverbot auf. Er kam in Gestapohaft und musste für mehrere Monate Zwangsarbeit leisten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Heinz Rein Referent für Literatur in der deutschen Verwaltung der Sowjetischen Besatzungszone, lebte danach als freier Schriftsteller in der DDR, bis er nach dem Bruch mit der SED, der aus einem rückblickend kuriosen literaturästhetischen Zerwürfnis hervorging, nach Westdeutschland übersiedelte. Er zog nach Baden-Baden, wo Heinz Rein 1991 auch starb. Er schrieb Satiren, zahlreiche Kabaretttexte und Kurzprosa. Weder im Umfang noch in der Bedeutung konnte er mit einem späteren Werk an seinen Großroman "Finale Berlin" anschließen. Ein Roman, der in seiner ganzen Haltung getragen wird von der politischen Gesinnung des Autors und dessen aufgestauter politischer Mitteilungswucht.
    "Kommt jetzt", antwortet Schröter. "Wir haben unsere Gruppe in drei Untergruppen aufgeteilt, die eine mit Gregor" - er blickt auf den Mann in der grauen Uniform - "muss das Sturmgeschütz an der Storkower Straße, die andere mit Münzer das an der Thaer- und Oderbruchstraße ausschalten." - "Ausschalten?" fragt Wiegand. "Ja, ausschalten, entweder durch Überredung oder durch Waffengewalt, wenn es nicht anders geht. Es hört sich vielleicht gewaltig an, ist es aber tatsächlich nicht, mit den Geschützbedienungen und den paar Volkssturmleuten haben wir natürlich längst Fühlung aufgenommen und wissen genau, dass sie die Schnauze voll haben, sie wollen nicht mehr kämpfen." - Aber wenn irgendein Offizier oder ein wild gewordener Gefreiter dabei ist, dann ist der ganze Entschluss und aller guter Wille in den Wind geblasen", wirft Wiegand ein, "das Gehorchen sitzt unseren Landsern so in den Knochen, dass ein einziger Befehl irgendeines Schnösels Willen und Gewissen auslöscht wie ein schwaches Flämmchen."
    Empirisch-dokumentarische Ausführlichkeit
    "Finale Berlin" besitzt, als unmittelbar anschauliches Zeugnis der letzten Wochen und Tage des Zweiten Weltkriegs, jener fünf Minuten vor der eigentlichen Stunde Null, einen kaum hoch genug einzuschätzenden Seltenheitswert. Er verdankt sich vor allem der empirisch-dokumentarischen Ausführlichkeit des Autors. Vieles muss Heinz Rein im April 1945 Tag für Tag und unter Gefahr seines eigenen Lebens notiert und protokolliert haben: Radionachrichten, militärische Funksprüche, Gespräche zwischen Menschen, die auf den Straßen Berlins herumirren und bei Bombenalarm in die Keller flüchten.
    Dies macht "Finale Berlin" zu einem reichhaltigen Archiv, in dem sich unter anderem ausführliche Zitate der allerletzten Nazizeitung finden. Sie hatte den ebenso grotesk wie grausam verniedlichen Namen "Panzerbär" und wurde als Organ nationalsozialistischer Durchhaltepropaganda noch Ende April unter der zivilen Bevölkerung, vor allem unter Jugendlichen verteilt, die sich als Kanonenfutter den sowjetischen Geschützen entgegenstellen sollten, während Adolf Hitler die letzten Vorbereitungen für seinen Selbstmord traf. Der mörderische Wahn, der zwei Wochen vor der deutschen Kapitulation noch immer wirksam ist, schafft den Kontrast zu der unerhörten Einsatz- und Risikobereitschaft der Widerständler.
    "16. April, 16 Uhr. Als nach der öffentlichen Luftwarnung die Sirenen wieder den langen Heulton geben, verlässt Lassehn die Wohnung Dr. Böttchers. Die frohe Stimmung, die ihn vorhin ergriffen hat, als er seine ersten illegalen Schritte getan hat und im blanken Aprilsonnenschein die große Frankfurter Allee entlanggegangen ist, beherrscht ihn immer noch, sie hat sich sogar noch verstärkt. Er hat auch allen Grund, zufrieden zu sein. Zunächst hat er die Flugblätter heil abgeliefert und damit seine erste Aufgabe im Dienst der Widerstandsgruppe "Berolina" erfolgreich durchgeführt, er hat ferner die Zusage erreicht, in den nächsten Tagen mit Tolksdorff bei Dr. Böttcher erscheinen zu dürfen, dann hat er ausnehmend gut zu Mittag gegessen."
    Filmische Erzähltechniken
    Kriegsbericht, Trümmerliteratur, auch politische Gesinnungsprosa sind in diesem Roman vereinigt. Ästhetisch interessant ist aber vor allem der Rückbezug auf die literarische und filmische Kunst der Metropolendarstellung der späten 20er-Jahre. Deren, vom Nationalsozialismus zerstörte Spuren lassen sich in "Finale Berlin" leicht finden. Das breite Charakterensemble der Berliner Bevölkerung, die topografisch genaue Wiedergabe von Straßen, Plätzen, Hauskomplexen, die Fülle an Dialogen - das alles erinnert entfernt an Alfred Döblins "Berlin Alexander Platz" aus dem Jahr 1929, oder an Walter Ruttmans Filmklassiker "Berlin. Sinfonie einer Großstadt" aus dem Jahr 1927. In seinem Nachwort betont Fritz J. Raddatz die filmischen Erzähltechniken, derer sich Heinz Rein bediente. Raddatz nennt "Finale Berlin" nicht zu Unrecht ein "auf Papier gedrehtes Buch". Aber die Stadt, die der Roman zeigt, war nie zuvor in einem Film zu sehen oder in einem Roman dargestellt. Denn Berlin ist im April 1945 eine zerstörte, selbst in ihren Grundrissen kaum mehr erkennbare Stadt, eine Ruine.
    "Unten in der Straßenzeile türmen sich Schuttberge, sind Laternen- und Straßenbahnmasten umgebrochen, ist das Pflaster aufgesprengt, sind die Schienen aufgerissen, hängt die Oberleitung herab, sind die Geschäfte nur leere, ausgeraubte Höhlen, irren verzweifelte, hungrige, müde, heimatlose Menschen, taumeln Soldaten mit stumpfen Mienen und glanzlosen Augen zu den Sammelstellen, gellen die Schreie der vergewaltigten Frauen aus den Häusern. Dr. Böttcher schaudert zusammen, als er sich Wiegand zuwendet. "Es ist fast zu schwer", sagt er. "Diese Schreie werden uns noch lange verfolgen ..." - "Ach was!" fällt ihm Schröter ins Wort. "Du siehst zu schwarz". - "Wäre zu schön, wenn es so wäre", sagt Wiegand. Seine Miene drückt Skepsis aus. Dann gehen sie die Treppe hinunter. Auf der Straße weht ihnen ein feiner, dünner Regen entgegen. Sie schlagen die Mantelkragen hoch und gehen in die zerstörte Stadt hinein. An der Ecke hält gerade ein Lautsprecherwagen. Er verkündet die Kapitulation."
    Heinz Rein: "Finale Berlin"
    Schöffling Verlag 2015, 758 Seiten, 24,95 Euro.