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Historiker Georg Schmidt
30-jähriger Krieg nur bedingt mit Syrienkonflikt vergleichbar

Den Vergleich des 30-jährigen Krieges mit dem Krieg in Syrien von Kanzlerin Angela Merkel teilte der Historiker Georg Schmidt im Dlf nur bedingt. In beiden Fällen sähen die Beteiligten die Kämpfe als gottgewollt an. Aber im Jahr 1618 sei es vor allem um imperialistische Bestrebungen und um Sicherheit gegangen - anders als im Nahen Osten heute.

Georg Schmidt im Gespräch mit Christoph Heinemann | 25.05.2018
    Der Tods des schwedischen Königs Gustav Adolf in der Schlacht bei Lützen (1632)
    Der Tods des schwedischen Königs Gustav Adolf in der Schlacht bei Lützen (1632) (imago)
    Christoph Heinemann: Beulen, Schrammen, Prellungen – auf jeden Fall haben die Herrschaften den Fall überlebt. In diesen Tagen jährt sich der Prager Fenstersturz, als böhmisch-protestantische Adelige die Vertreter des katholischen Habsburger Kaisers aus Fenstern der Prager Burg warfen. 1618 – der Aufstand gegen die Machtpolitik der Zentralregierung.
    Was folgte, hat der Dichter Andreas Gryphius in seinem Sonett "Tränen des Vaterlandes" mit dem vom Blute fetten Schwert beschrieben, der Totentanz des 30-jährigen Krieges.
    Und da eine Katastrophe selten allein kommt, wanderten mit den Heeren und den Flüchtlingen auch die Pest mit, führten ungewöhnlich kalte Winter und nasse Sommer zu Missernten. Die Mitte Europas entvölkerte sich.
    Professor Georg Schmidt war Ordinarius für Geschichte der frühen Neuzeit an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Er hat ein Buch vorgelegt mit dem Titel "Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des 30-jährigen Krieges". Ich habe ihn gestern gefragt, warum der Fenstersturz in Prag eine solche Sprengkraft entfaltete.
    Georg Schmidt: Diese enorme Sprengkraft des Prager Fenstersturzes war einerseits vorgesehen. Man hat bewusst in Kauf genommen, einen Bruch zu machen, einen Bruch zu der bisher friedlichen Opposition der böhmischen Stände gegen ihren habsburgischen König. Jetzt sollte mit Gewalt eine neue Phase in dieser Auseinandersetzung um die Freiheit der böhmischen Nation und die Freiheit für den evangelischen Glauben einsetzen.
    Heinemann: Die mussten aber damit rechnen, dass sich der Kaiser das nicht bieten lassen würde.
    Schmidt: Dass der Kaiser sich das nicht bieten lassen wollte, war ja vorauszusehen, und es ging um einen lokalen Konflikt in Böhmen, der zunächst für Deutschland oder für Europa relativ geringe Sprengkraft entwickelt hat, weil sich die europäischen und auch die deutschen Stände in diesen Konflikt nicht hineinziehen lassen wollten.
    "Es ist gefährlich, von einem Glaubenskrieg zu reden"
    Heinemann: 30 Jahre Krieg waren die Folge. Worum wurde gekämpft?
    Schmidt: Die Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Es ging natürlich wie immer um Machtfragen und es ging natürlich auch um die religiöse Deutungshoheit beziehungsweise das Durchsetzen eines Bekenntnisses. Es ist nur gefährlich, von einem Glaubenskrieg zu reden oder von einem eindeutigen Machtkrieg, sondern alle diese Dinge haben sich überlagert.
    Das Problem dieses Krieges beginnt im Herbst 1618, als ein Komet auftaucht, und dieser Komet wird als Zeichen Gottes gedeutet, dass Gott die sündigen Menschen nun entscheidend strafen will. Und dann addiert sich eins zum anderen. Wir haben einerseits den Krieg in Böhmen, wir haben zweitens seit etwa den 1560er-Jahren Hungersnöte aufgrund der kleinen Eiszeit, einer katastrophalen Klimaverschlechterung, und wir haben drittens den Übergang von einer latenten Inflation in eine Hyper-Inflation, also in eine enorme Geldentwertung, die mit entsprechenden Teuerungen verbunden ist, und das führt wiederum zu Not, Krankheit und Tod. Das alles findet sich in der Bibel, nämlich in der Offenbarung des Johannes, wo die vier Reiter der Apokalypse am Beginn des Weltendes losgelassen werden, um die Menschheit zu strafen.
    Heinemann: Welche Rolle spielte die Propaganda bei der Gewaltbereitschaft und auch bei der Brutalisierung dieses Krieges?
    Schmidt: Das ist eigentlich der erste Krieg, der auch als Medienkrieg geführt wird. Es gibt vorher schon mediale Aufwallungen, wenn ich das mal so nennen darf, etwa in der Reformationszeit mit Martin Luther, aber dieser Krieg über diese Dauer hat ein Medienecho hervorgerufen, was bis dahin unbekannt war. Und das führt natürlich dazu, dass die einzelnen Parteien versuchten, jeweils ihre Position im Lichte einer Öffentlichkeitsarbeit möglichst gut dastehen zu lassen.
    Das hat fraglos den Hass untereinander entscheidend noch mal angefacht, denn Sie müssen sich vorstellen, das Elend, die Not, die Folter, die Vergewaltigungen, die irgendwo in Deutschland passiert sind, wurden über die Flugschriften praktisch über den ganzen mitteleuropäischen Raum verteilt. Die konnte man auch im Bayerischen Wald oder im Thüringer Wald lesen. Von daher wurde das Elend woanders auch als eigenes Elend wahrgenommen, was in vorherigen Kriegen nicht so war.
    Heinemann: Welche Spuren hat der 30-jährige Krieg in der Identität, in der Mentalität, im Bewusstsein in Deutschland hinterlassen?
    Schmidt: Der 30-jährige Krieg verschwindet aus dem Bewusstsein der Deutschen im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts mehr oder weniger. Was nicht verschwindet ist der Westfälische Friede. Der gilt ja weiterhin als Reichsverfassung bis zum Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation 1806.
    Die Spuren, die sich dann finden im 19. Jahrhundert, sind Spuren einer neuen Kampagne, indem man den 30-jährigen Krieg jetzt als absoluten Tiefpunkt hinstellt und dazu auch den Westfälischen Frieden, weil er das Reich angeblich der Souveränität beraubt habe und zum Spielball fremder Mächte gemacht habe, und das soll nie wieder geschehen. Das deutsche Vaterland, so im 19. Jahrhundert, darf nie wieder von auswärtigen fremden Mächten zum Spielball oder Spielfeld ihrer politischen Interessen gemacht werden. Deswegen ist der kleindeutsche Nationalstaat wichtig, und diesen kleindeutschen Nationalstaat sollen die Preußen beziehungsweise die Hohenzollern schaffen.
    "Deutsche konnten Pluralitätserfahrung sammeln"
    Heinemann: Der kleine Nationalstaat. – Welche Folgen hatte der Krieg für die Stellung des Reiches oder Deutschlands, sofern man davon schon sprechen kann, im Konzert der europäischen Mächte?
    Schmidt: Deutschland ist kein, wie die meisten größeren europäischen Mächte, zentral gelenkter und dann absolutistisch regierter Staat, sondern das deutsche Staatensystem, wenn man das so nennen will, lässt sich am ehesten mit der heutigen Europäischen Union vergleichen. Es ist ein Mehr-Ebenen-Gefüge, ein politisches Mehr-Ebenen-Gefüge, in dem die unterschiedlichen Stellen miteinander etwas aushandeln müssen, damit die Gesamtheit, nämlich dieser Reichsstaat überhaupt handlungsfähig ist. Das heißt, der Kaiser kann nicht alleine entscheiden, aber die Reichsstände können auch nicht alleine entscheiden, sondern die Souveränität, wenn man das so nennen will, ist zwischen diesen beiden Gruppierungen in unterschiedlichster Weise geteilt.
    Und das hat dazu geführt, dass die Deutschen Pluralitätserfahrung sammeln konnten im Hinblick auf das politische Regime, aber auch im Hinblick auf die Religion. Der Irrweg, die Identität mit einer einzigen Konfession zu verbinden, der wurde in Deutschland dadurch vermieden, dass das nicht möglich war, weil Protestanten und Katholiken sich eigentlich immer in etwa die Waage gehalten haben.
    Heinemann: Kann man sagen, durch den Krieg wurde Deutschland zu der sogenannten "Verspäteten Nation??
    Schmidt: Die Verspätete Nation ist eine Interpretation, die vor allen Dingen nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Rolle gespielt hat und die darauf hinwies, dass durch diese Verspätung des Nationalstaates – das ist eigentlich damit gemeint – dieser Nationalstaat umso aggressiver geworden sei und deswegen zumindest große Teile zum Ersten Weltkrieg beigetragen, den Zweiten Weltkrieg verursacht habe.
    Diese ganze Geschichte mit der Verspäteten Nation beruht darauf, dass man im 19. Jahrhundert den Nationalstaat zu einer Träne Gottes erklärt hat und dass man das als Ziel der Geschichte ausgegeben hat – die ganze Welt eine Welt von Nationalstaaten, die in irgendeiner Form nebeneinander geordnet sind. Das passt für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation eben nicht, sondern das Heilige Römische Reich war ein anderes Gebilde, ein Gebilde, was die Möglichkeit gegeben hat, wie ich schon gesagt habe, Pluralitätserfahrung zu sammeln und die Regierungsmacht an einer Stelle immer von einer anderen kontrolliert wurde. Herrschaft wurde durch Herrschaft kontrolliert, um es etwas überspitzt zu formulieren.
    Das ist wiederum wichtig, wenn wir in die heutige Zeit sehen. Vielleicht tut sich Deutschland deswegen etwas leichter mit der Europäischen Union als seine Nachbarn, weil es unterschwellig diese lange Erfahrung mit anderen Systemen als zentral gelenkten Regierungssystemen gibt.
    Heinemann: Herr Professor Schmidt, Erster und Zweiter Weltkrieg, die Zeitspanne von 1914 bis 1945 wird von Historikern auch als Zweiter 30-jähriger Krieg bezeichnet. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ein Fenstersturz in Prag oder Schüsse in Sarajevo eine solche Gewalt und Enthemmung entfesseln können?
    Schmidt: Diese Rede von dem Zweiten 30-jährigen Krieg geht, glaube ich, auf Charles de Gaulle zurück, der das im Londoner Exil, glaube ich, 1941 gesagt hat. Das ist von Historikern aufgegriffen worden. Es passt aber meines Erachtens nicht. Es sollte andeuten, dass Kriege um Wertsysteme schwerer zu regulieren sind als Kriege, die aus Machtbewusstsein oder bestimmten staatlichen Interessen heraus geführt worden sind. Das muss im Einzelnen noch gezeigt werden, aber beispielsweise im 30-jährigen Krieg im 17. Jahrhundert gibt es so etwas wie den Holocaust gar nicht, und viele andere Dinge, die im 20. Jahrhundert dann an Grausamkeiten an die Öffentlichkeit kommen, hat es im 17. Jahrhundert in dieser Form auch nicht gegeben.
    Der Ausbruch des Krieges in so einer Situation, das ist mehr oder weniger Zufall. Die These, dass alle Kontrahenten in diesen Krieg hineingeschlittert sind, ist richtig. Andererseits haben sie diesen Krieg aber auch billigend in Kauf genommen. Das heißt, ab einem bestimmten Aggressionspotenzial heraus wird nicht mehr massiv auf den Frieden hingearbeitet, wie das auch vor dem Ersten Weltkrieg oder vor dem 30-jährigen Krieg einige der Akteure wollten, sondern man hat es einfach auf sich zukommen lassen und hat dann den Krieg billigend in Kauf genommen.
    "Eine Parallele zu den Kriegen im Nahen Osten"
    Heinemann: 400 beziehungsweise 100 Jahre später hat Angela Merkel die Lage in Syrien mit dem 30-jährigen Krieg verglichen. Fallen Ihnen Parallelen ein?
    Schmidt: Mir fällt natürlich eine Parallele ein. Das ist das Gottgewollte. Auch der 30-jährige Krieg ist von allen, die dort gekämpft haben, als gottgewollt angesehen worden – natürlich aufgrund der religiösen Propagandaschriften. Jeder der in diesem Krieg in irgendeiner Weise beteiligt war, oder ihn erleiden musste, konnte davon ausgehen, dass er dies als Werkzeug Gottes tut. Das ist vielleicht eine Parallele zu den Kriegen im Nahen Osten.
    Darüber hinaus sind die derzeit diskutierten Parallelen, also Krieg um ein Wertesystem, schwer zu beenden. Die sehe ich gar nicht als Alternativen und auch nicht als Lösungsmuster, schon gar nicht als Lösungsmuster, denn im 30-jährigen Krieg ist nicht um Werte gekämpft worden, sondern es gab sehr konkrete Kriegsziele der jeweiligen Parteien. Im Regelfall ging es um Machterweiterung, um imperialistische Bestrebungen von allen Mächten und um die Sicherheit, die jeder haben wollte. Und das kann ich jetzt für den Nahen Osten so im Einzelnen meines Erachtens gar nicht übertragen. Ganz davon abgesehen: Das Reich war kein gescheiterter Staat, was sehr wohl im Jemen oder in Syrien der Fall ist. Die Kriegsunternehmer sind keine Warlords, denn die Kriegsunternehmer sind, wenn sie politische Herrschaft ausgeübt haben, von der legitimen politischen Herrschaft eingesetzt worden.
    Und so könnte man noch viele einzelne Punkte machen bis hin zu Amnestie und immer währendem Vergessen, dem Friedensschluss, der die Grundlage des Westfälischen Friedens bildet. Das würde auf heute übertragen bedeuten, dass Ihnen demnächst Assad als freier Mann irgendwo in Europa auf der Straße begegnen könnte, und da muss man sich fragen, ob man das will, oder ob nicht diese Verbrechen, die dort begangen sind, unter dem heutigen Druck der Öffentlichkeit auch bestraft werden müssen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.