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Hörspiel "Unter dem Milchwald"
Alltag, Weiberklatsch und Häme

Dylan Thomas war ein walisischer Schriftsteller. Neben Gedichten, Drehbüchern, autobiografischen Erzählungen schrieb er auch ein Theaterstück: "Unter dem Milchwald" gilt als sein Hauptwerk, das als Hörspiel 1954 postum mit dem Prix Italia ausgezeichnet wurde. Anlässlich des 100. Geburtstags des Vollblutdichters gibt es gleich drei Hörspielfassungen.

Von Astrid Nettling | 24.11.2014
    Eine Plakette erinnert am Geburtshaus von Dylan Thomas an den Dichter.
    Eine Plakette erinnert am Geburtshaus von Dylan Thomas an den Dichter. (picture alliance/dpa/Barry Batchelor 6489845)
    Dylan Thomas, Under Milk Wood:
    "To beginn at the beginning: It is spring, moonless night in the small town, starless and bibleblack, the cobblestreets silent and the hunched, courters'-and-rabbits' wood limping invisible down to the sloeblack, slow, black, crowblack, fishingboat-bobbing sea."
    So fängt es an, das "Spiel für Stimmen" - in Dunkelheit und Schlaf und Stille und mit der Stimme des Erzählers, die dem bald erwachenden Geschehen seine ersten, schattenhaften Konturen gibt. In der BBC-Hörspielfassung von 1963 ist es Richard Burton, der mit seinem warmen Bariton das Stimmenwunderwerk von Dylan Thomas eröffnet. In der deutschen MDR-Fassung unter der Regie von Götz Fritsch aus dem Jahr 2003 spricht Harry Rowohlt mit sonorem Bass denselben Part.
    Dylan Thomas, Unter dem Milchwald:
    "Anfangen, wo es anfängt: Es ist Frühling, mondlose Nacht in der kleinen Stadt, sternlos und bibelschwarz, die Kopfpflasterstraßen still, und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zur schlehenschwarzen, zähen, schwarzen, krähenschwarzen, fischerbootschaukelnden See."
    Bereits 1954 hat Erich Fried "Under Milk Wood", das im Sommer '53 seine letzte Fassung erhielt, in einer bewundernswerten Übersetzungsleistung ins Deutsche übertragen. Noch im selben Jahr wurde "Unter dem Milchwald" vom NWDR in der Regie von Fritz Schröder-Jahn als Hörspiel produziert. Die Stimme des Erzählers hat hier Ludwig Cremer.
    Dylan Thomas, Unter dem Milchwald:
    "Komm nur her. Nur du kannst die Häuser schlafen hören. Nur du kannst in den vorhangblinden Schlafzimmern die Kämme sehen, die Unterröcke über den Stuhllehnen, die Krüge und Becken, die Gläser mit den falschen Gebissen, an der Wand das "Du sollst nicht" und die vergilbenden Bitte-recht-freundlich-Bilder der Toten. Nur du kannst hören und sehen, hinter den Augen der Schläfer: die Fahrten und Länder, Labyrinthe und Farben, Melodien und Wünsche; und Flug und Fall und Verzweiflung und die großen Seen ihrer Träume."
    Trinkfeste Männlichkeit in Sindbads Seefahrerschenke
    Gleich werden ihre Stimmen wach, und mit ihnen erwacht das walisische Fischernest Llareggub zu einem neuen Tag. Von der Morgendämmerung bis zum erneuten Einfall der Nacht lassen ihre Stimmen das Leben in dieser fiktiven Kleinstadt erstehen - seinen Alltag, Weiberklatsch und Häme, Zufriedenheit und Neid, Sehnsüchte, Verschrobenheiten, Seelenabgründe und trinkfeste Männlichkeit in Sindbads Seefahrerschenke in der "holterdiepolternden" Stadt am Meer. Ein Schauplatz oder vielmehr "Ohren-auf!"-Hörplatz aus Stimmfällen, Sprachklängen, überraschenden Wortfügungen und verrückten Geschichten, die der legendäre walisische Dichter Dylan Thomas sprachmächtig zu Gehör bringt.
    Da sind Miss Price und ihr Herzallerliebster, Mr. Mog Edwards, "mit siedeheißen Lenden und Augen wie Lötlampen", die sich von einem zum anderen Ende der Stadt glühende Liebesbriefe schreiben, ohne jemals zusammenzufinden. Da ist der Postbote Willy Nilly, dessen Frau über den dampfenden Kesseln ihrer Küche nicht bloß deren Liebesbriefe öffnet. Da ist Mr. Pugh, der verhinderte Giftmörder, der Mrs. Pugh jeden Morgen den Tee ans Bett bringt und davon träumt, es wäre Arsen. Jack Black, der Schuster, der seinen Hosenschlitz mit Schustergarn fest vernäht hat und Jagd auf die Pärchen im "johannisbeerstrauchelnden Doppelbett des Waldes" macht.
    Polly Garter, der Traum aller "Gänsemännchen" in der Stadt und Albtraum ihrer Ehefrauen, mit so vielen Kindern wie Liebhabern. Da ist der blinde Kapitän Cat, der alles sieht, weil er alles hört, selbst die Stimmen der ertrunkenen Seeleute. Und da ist Gossamer Beynon, Schullehrerin, unnahbar und doch allzu gerne nur nahbar.
    Dylan Thomas, Unter dem Milchwald:
    Gossamer Beynon stelzt hoch zu Absatz zur Schule hinaus. Die Sonne summt nieder, durch die Baumwollblumen auf ihrem Kleid schnurstracks in ihre Herzglocke. Augen laufen von den Bäumen und Straßenfenstern, in deren heißem Hauch das Wort "Gossamer" steht. Sie lodert nackt vorbei an der Seefahrerschenke, die einzige Frau auf dem Adamsapfel des Erdballs. Sindbad Seefahrer legt seine andächtig ziegenbärtigen Hände auf ihre Lenden, die immer noch taufeucht sind vom ersten Hahnenschreigarten, wo Manna und Männertreu wachsen. "Und wenn er auch gewöhnlich ist, das macht mir gar nichts aus!" Flüstert sie ihrem unschuldstiefen Ich zu. "Ich will ihn auffressen, mit Stumpf und Stiel! Und wenn er auch Dialekt spricht!"
    Er schwankte zwischen Hörspiel und Bühnenstück
    Vorbild für Llareggub war die südwalisische Kleinstadt Laugharne, wo der Dichter seit 1949 mit Frau und Kindern lebte. Dort schrieb und überarbeitete er auch die verschiedenen Fassungen von "Under Milk Wood". Bereits in den 30er Jahren waren die ersten Ideen zu seinem Prosa-Meisterwerk entstanden. Er schwankte zuerst zwischen Hörspiel und Bühnenstück, auch plante er anfangs eine Spielhandlung, die ihm jedoch bald als überflüssig erschien. Auf die Kraft seiner Sprache vertrauend, verzichtete Dylan Thomas in seinem "Spiel für Stimmen" auf jede Bühnen- und Musikkulisse und komponierte "Under Milk Wood" bis auf wenige Klangtupfer wie Hähnekrähen, Glockengeläut oder Harmonika-Akkorde gänzlich für das Register seiner vielen Sprechstimmen.
    Die BBC-Hörspielfassung von 1963 hält sich daran, und so kommt der Hörer in den Genuss, der lautmalerischen Qualität seiner mitreißenden und durch und durch musikalischen Sprache im Original lauschen zu können. Dies in der deutschen Sprache nachzubilden, konnte selbst einem kongenialen Übersetzer wie Erich Fried nicht gelingen. Die jüngere und in der Verwendung ihrer akustischen Mittel modernere Hörspielfassung von 2003 überzeugt daher durch ihren atmosphärischen Stimmen-, Geräusche- und Musikeinsatz, der Llareggub mit seinen Einwohnern als ein lebendiges Stimm- und Klangereignis erfahrbar macht.
    Lebenszugewandte Grundstimmung
    Den Hörspielgewohnheiten der 50er Jahre entsprechend, setzt die Fassung von 1954 ganz auf das dichterische Wort, während die Klaviermusik dem Stück vor allem schwere Gedankenstriche und tiefgründige Pausen beifügt, was den quicklebendigen Sprachfluss seiner Stimmen unnötigerweise unterbricht und die trotz walisischer Schwermut lebenszugewandte Grundstimmung des Ganzen vertrübt. Die Erstausstrahlung seines "Spiels für Stimmen" im BBC von 1954 hat Dylan Thomas nicht mehr erleben können. Im Oktober '53 war er zu einer Lesereise und Aufführung der erweiterten Fassung seines Stücks nach New York gereist. Am 09. November stirbt er dort im Alter von nur 39 Jahren. Geblieben aber ist neben seinem dichterischen Oeuvre dieses Ausnahmewerk radiophoner Wortkunst, das nun anlässlich des 100. Geburtstags des Vollblutdichters in den vorliegenden Hörspielfassungen gleich dreimal zu feiern ist.
    Dylan Thomas, Unter dem Milchwald:
    Die dünne Nacht wird dunkler. Eine Brise vom gekräuselten Wasser her seufzt durch die Gassen dicht unter dem milchwachen Wald. Das ist der Wald, der ein von Gott erbauter Garten ist für Mary Ann Seefahrer, die weiß, dass der Himmel auf Erden ist und das auserwählte Volk seines liebenden Feuers im Llareggubland lebt; der Wald, für die Knechte am Kirmesabend das wollüstige, unbedachte Bethaus voller Brautbetten, und für Ehrwürden Eli Jenkins eine grünbelaubte Predigt von der Unschuld des Menschengeschlechts - der plötzlich vom Wind gerüttelte Wald erwacht zum zweiten dunklen Male an diesem einen Frühlingstag.
    Dylan Thomas, Under Milk Wood:
    "(...) awake for the second dark time this one Spring day."
    Dylan Thomas: Unter dem Milchwald, (Der Hörverlag, München)