Dienstag, 19. März 2024

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In Essen und Berlin
Türkische Forscher im akademischen Exil

„Wissenschaftler an türkischen Universitäten sind derzeit besonderen Einschränkungen und Repressionen ausgesetzt", sagte Kader Konuk, Professorin für Türkische Literatur- und Kulturwissenschaft im Dlf. Die Forscher können sich künftig in Essen und Berlin mit dem Exil wissenschaftlich beschäftigen.

Kader Konuk im Gespräch mit Manfred Götzke | 19.10.2017
    Wegweiser zur Universität und zum Universitätsklinikum in Istanbul, aufgenommen am 31.12.2006.
    Angesichts der Kriminalisierung von Regimegegnern in der Türkei suchen Wissenschaftler, die sich für Frieden und Wissenschaftsfreiheit einsetzen, nach Möglichkeiten, ihre Arbeit im Ausland fortzusetzen. (dpa/Lars Halbauer)
    Manfred Götzke: Frei forschen und lehren ist in der Türkei möglich, solange man sich als Freund des Erdogan-Regimes gibt, sonst kann es schnell passieren, dass man zum Terroristen abgestempelt wird, seine Stelle verliert oder sogar in Haft kommt. Tausende Forscher und Professoren haben seit dem gescheiterten Putschversuch vor über einem Jahr ihre Stellen verloren, manche von ihnen sind ins Exil nach Deutschland gegangen, beziehungsweise sie sind nach dem Putschversuch nicht mehr in ihre Heimat zurückgekehrt. Für diese Wissenschaftler hat die Universität Duisburg-Essen gestern eine Akademie im Exil gegründet, geleitet wird sie von Kader Konuk. Sie ist Professorin für türkische Literatur und Kulturwissenschaften. Ich grüße Sie!
    "Nicht nur humanitär handeln"
    Kader Konuk: Guten Tag!
    Götzke: Frau Konuk, es gibt ja bereits einzelne Programme für türkische Forscher, die in Deutschland sind, die gehen in der Regel zwei Jahre. Akademie im Exil, das klingt nach einer Dauereinrichtung.
    Konuk: Dies ist eine Initiative, um wirklich permanent in Deutschland eine Grundlage dafür zu haben, um über das Exil in Deutschland nachzudenken. Dass die Wissenschaftler das deutsche Exil suchen, ist keine Neuheit, sondern Beispiele dafür haben wir schon gesehen seit der iranischen Revolution 1979, als Journalisten und Wissenschaftler nach Deutschland kamen. Wir haben uns in Deutschland um dieses intellektuelle Exil, also Deutschland als Exilland, eigentlich noch nicht gekümmert, und die Idee hinter der Gründung der Akademie im Exil ist jetzt nicht nur, humanitär zu handeln, sondern es geht insgesamt auch darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir hier ein Potenzial in Deutschland haben.
    "Kritisch, säkular, divers"
    Götzke: Das heißt aber, Exilforschung, Wissenschaftsfreiheit, das sind auch Forschungsgebiete, mit denen Sie sich befassen wollen?
    Konuk: Richtig. Mich interessiert diese Exilwissenschaft an sich schon seit sehr langer Zeit, und jetzt ergibt sich die Gelegenheit, hier in Deutschland noch mal neu zu überlegen, was die Grundlagen für eine Exilwissenschaft, was das Potenzial für eine Exilwissenschaft ist.
    Götzke: Wie schätzen Sie dieses Potenzial denn ein?
    Konuk: Ich denke, dass das Leid der türkischen Wissenschaftler eigentlich eine Chance für uns hier in Deutschland ist, noch mal darüber nachzudenken, nicht nur wie die deutschen Universitäten sich internationalisieren, sondern auch wie wir die Wissenschaftsfreiheit und Säkularisierung von Wissen verstehen. Deswegen soll diese Akademie im Exil vor allem die Möglichkeit bieten, dieses kritische Denken, das kritische säkulare und diverse Denken dieser Wissenschaftler, die meist aus den Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften, Rechtswissenschaften kommen, sie noch mal so zu unterstützen, damit wir in Deutschland auch noch mal gemeinsam über diese Grundlagen von Pluralität, Demokratie, Menschenrechte nachdenken können. Also ich sehe das als eine Chance für uns.
    "Sie bringen einen anderen Blick mit"
    Götzke: Das heißt, es ist durchaus eine Bereicherung, wir können da von den türkischen Wissenschaftlern lernen, die möglicherweise auch kritischer sind als unsere Politologen und Sozialwissenschaftler hier in Deutschland?
    Konuk: Das möchte ich gar nicht so sagen, aber sie bringen einen anderen Blick mit.
    Götzke: Jetzt stehen Sie ja mit den Forschern auch schon in Kontakt, die Situation hat sich ja insgesamt noch weiter verschärft seit dem gescheiterten Putschversuch und ist danach ja auch noch weiter eskaliert. Wie sehen Sie momentan die Situation, wie sehen Sie die Chance für diese Forscher, auch für andere Forscher, die ihre Stelle verloren haben, nach Deutschland gekommen sind, in den nächsten ein, zwei oder drei Jahren wieder zurückzukehren? Gibt's die?
    Konuk: Die Wahlen stehen ja an in den nächsten zwei Jahren, und je nachdem, wie sich die Lage entwickelt – das ist sicherlich abhängig von dem Krieg in Syrien und in den kurdischen Gebieten –, müssen wir sehen, wie in zwei Jahren die Wahlen ausfallen. Dann kann sich schlagartig noch einmal etwas ändern, aber die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit, die seit dem Putschversuch vorgenommen worden ist, ist so leicht wahrscheinlich nicht wieder zurückzuholen. Das wiederaufzubauen, was in dem letzten Jahr vernichtet worden ist, wird sicherlich noch mal ein Jahrzehnt dauern, selbst wenn nach zwei Jahren Erdogan abgewählt wird. Aber ich denke, das Ziel ist immer, noch mal nachzudenken, wie wir hier in Deutschland mit Flucht umgehen, was intellektuelles Ziel heißt und wie wir das als Grundlage für ein neues Europaverständnis schaffen können.
    "Nicht nur auf die Türkei begrenzen"
    Götzke: Tut Deutschland da zu wenig?
    Konuk: Ich denke, humanitär wird viel getan. Es gibt ja die Philipp-Schwartz-Initiative, die sich besonders um Wissenschaftler kümmert, das sind individuelle Stipendien. Der Unterschied zu der Philipp-Schwartz-Initiative ist bei unserer Akademie im Exil, dass wir uns auch den Themen der Wissenschaftsfreiheit und Demokratie noch mal anders annehmen möchten. Wir möchten ein Forum bilden, in dem wir gemeinsam darüber nachdenken können und die Forschung zu Exil da auch noch mal fördern. Das heißt nicht, dass jeder Exilant, der kommt, zu dem Thema arbeiten soll, aber diejenigen, die mit der Akademie affiliiert sind, haben die Möglichkeit, ein Exilarchiv zu schaffen, sich mit Exil auf der Forschungsebene zu beschäftigen, da können Dissertationen entstehen, das ist also noch mal ein anderer Impetus, der dort hineingelegt worden ist in die Gründung der Akademie. Allerdings ist die Akademie nicht so gedacht, dass wir uns nur auf die Türkei begrenzen werden. In dieser ersten Runde ist das so, je nachdem, wie sich in den nächsten ein, zwei Jahren die Situation verändert, es andere Krisengebiete für Wissenschaftler gibt, werden wir uns auch dementsprechend öffnen. Also es ist jetzt aufgrund der Tatsache, dass die türkischen Wissenschaftler die meist gefährdeten Wissenschaftler auf der Welt gerade sind – das haben Scholars at Risk in New York und Scholar Rescue Fund beide bestätigt. Beides sind Netzwerke, die versuchen, gefährdeten Wissenschaftlern auf der ganzen Welt zu helfen. Die meisten Anträge seit dem letzten Jahr kommen aus der Türkei, das haben beide Netzwerke bestätigt. Das heißt, wir kümmern uns in dieser ersten Runde um die Wissenschaftler aus der Türkei, aber insgesamt interessiert uns die Möglichkeit, diese Akademie als eine bestimmte Reflexionsfläche zu nutzen.
    Götzke: Frau Konuk, vielen Dank für das Gespräch!
    Konuk: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.