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Indianische Medizin

In Deutschland ist indianische Medizin nicht so populär wie Ayurveda oder Chinesische Medizin, angeboten werden bislang Schwitzhüttenzeremonien, indianische Kräuterheilkunde, schamanische Praktiken. Die Medizin der nordamerikanischen Ureinwohner ist eng verbunden mit Religion und Spiritualität.

09.07.2019
Ein Schamane tanzt
Indianische Medizin - Balance und die ganzheitliche Betrachtung von Körper, Geist und Seele spielen eine große Rolle (picture alliance / dpa /RIA Novosti / Alexandr Kryazhev)
"Im Mesa-Ritual gibt es zwei wichtige Komponenten, die Kontrolle der Körperenergien und die Arzneien. Ich arbeite in der Mesa vor allem mit der Dragunpflanze, dem Drachenkraut."
Gerardo Pizarro ist ein indianischer Schamane, Nachfahre der Prä-Inka-Kultur der Mochicas in Peru. Seit mehr als 20 Jahren reist er durch ganz Europa mit seiner traditionellen Heilungszeremonie, die aus Massagen, Kräuteranwendungen, Trommeln und Gesängen besteht.
"Die Mesa ist ein Ritual, um dich innerlich zu reinigen."
Indianische Medizin ist zwar hierzulande nicht so populär wie Ayurveda oder die Traditionelle Chinesische Medizin. Aber jedes Jahr finden zahlreiche Messen zur "Ganzheitsmedizin" oder Workshops statt, bei denen Schwitzhüttenzeremonien, Einführungen in die indianische Kräuterheilkunde und schamanische Praktiken angeboten werden.
Zwar sind die Indianer so verschieden wie die Europäer oder die Afrikaner, betont die Ethnologin Angelika Wolf von der Arbeitsgruppe Medizinanthropologie der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde. Aber bei den medizinischen Vorstellungen lassen sich doch gemeinsame Grundzüge erkennen, vor allem die Idee des Gleichgewichts:
"Der Organismus steht im Zusammenhang mit bestimmten Kräften, die sich in irgendeiner Art und Weise ausgleichen müssen, also die Idee von Balance steckt dahinter, und der Mensch ist gesund, wenn er sich in Balance mit den verschiedenen Kräften befindet, und wenn also eine Störung eintritt, dann ist das eine Krankheit. Wenn jemand in einem kalten Element wie dem Wasser war, dann wird der Körper zu kalt und muss dann eben mit warmer Nahrung zum Beispiel ausgeglichen werden."
Ganzheitliche Betrachtung
Balance und die ganzheitliche Betrachtung von Körper, Geist und Seele – diese Elemente der indianischen Medizin sind auch in europäischen Gesundheits- und Krankheitsauffassungen zu finden, sagt Dr. Rainer Stange, Leitender Arzt der Abteilung für Naturheilkunde am Immanuel-Krankenhaus Berlin.
"Umgekehrt muss man natürlich sagen, dass in den indianischen Medizinen – das sind ja ganz unterschiedliche auch – überwiegend eine starke Verbindung zwischen Medizin und Religion und Spiritualität da ist."
Angelika Wolf bestätigt, dass besonders Geistervorstellungen eine große Rolle in der indianischen Heilkunde spielen.
"Wenn ein Mensch etwas getan hat, was einen dieser Geister erzürnt hat, dann kann das eine negative Auswirkung haben. In so einem Fall wird er den Schutz und die Hilfe eines Mächtigeren suchen und zwar eines kompetenten Heilers, der in Südamerika dann auch Schamane genannt wird. Er ist in der Lage, einen Geist, der vielleicht zu einem Menschen gehört und ihn beschützt hat, der entwichen ist, wieder einzufangen und dem Menschen zurückzugeben, oder andere böse Geister, die sich vielleicht an die Gemeinschaft herangemacht haben oder an ein Individuum, zurückzudrängen und zu besänftigen."
Schwitzhüttenzeremonie
Weitere "ausleitende" Verfahren, mit denen das Eindringen einer Krankheit in den Körper rückgängig gemacht werden sollte, waren das Erbrechen mithilfe bestimmter Kräuter oder der Aderlass. Und Reinigungsrituale für Körper, Geist und Seele, vor allem die Schwitzhüttenzeremonie. Es gab und gibt sie in vielen unterschiedlichen Formen, nicht nur bei den indianischen Völkern Nordamerikas.
Die Teilnehmer der Zeremonie errichten ein niedriges kuppelförmiges Zelt – ein Symbol für den schwangeren Bauch der Mutter Erde: Ein Gerüst, früher meist bedeckt mit mehreren Schichten von Tierhäuten und Fellen, heute sind es meist schwere Wolldecken oder Planen. Drinnen ein Erdloch, um das sich alle, leicht bekleidet, herumsetzen. Es ist gefüllt mit zuvor stundenlang erhitzten, glühend heißen Steine, die ständig mit Wasser und Kräuterauszügen begossen werden. Der Dampf wird immer dichter. Dr. Rainer Stange:
"Ja, das Schwitzen gehört in der Tat in vielen Medizin-Kulturen dazu. Man hat natürlich beobachtet, dass Menschen mit Infektionskrankheiten, die Fieber entwickeln, oft sehr stark schwitzen, bevor es zu irgendeinem kathartischen Moment kommt, also zu einer Wende in der bedrohlichen Krankheit, deshalb ist dem Schwitzen vermutlich eine etwas übertriebene Bedeutung zugesprochen worden."
Es ist stockdunkel, zwei bis fünf Stunden, manchmal noch länger, dauert eine solche Zeremonie, während der Leiter verschiedene Rituale vollführt.
"Im Falle dieser Schwitzhütten handelt es sich um ein rituelles Geschehen, das auch sehr stark natürlich von kosmischen und religiösen Motiven geprägt war."
Pflanzenheilkunde in der indianischen Medizin
Kosmisch-magische Elemente spielten auch bei der zweiten Säule der indianischen Medizin eine Rolle, der Pflanzenheilkunde. Sie war vor allem Aufgabe von Frauen. Oft benutzten sie Heilkräuter wegen ihrer Symbolkraft, erklärt die Medizinethnologin Angelika Wolf:
"Gehen wir mal von einem Hautausschlag aus, der eine ganz bestimmte Form und Spuren auf dem Körper hinterlässt, da wird dann als geeignetes Therapeutikum eine Pflanze erachtet, deren Blatt eine ähnliche Figur oder Ausbildung hat, und entsprechend wird dann auf dieser symbolischen Ebene einen Heilung für möglich gehalten und wird dann diese Pflanze als Heilpflanze eingesetzt."
Diese "Signaturenlehre" gab es früher auch in der europäischen Medizin. Manchmal passte die Symbolik, meist jedoch hat die Form oder Farbe einer Pflanze nichts zu tun mit ihrer therapeutischen Wirkung. Aber weil die Indianer auch sehr aufmerksame Naturbeobachter waren, zeigte ihre Kräutermedizin zum Teil doch beachtliche Erfolge: Sie nutzten den Vitamin-C-haltigen Saft von Feigenkakteen und Elsbeeren gegen Skorbut und kannten die antibiotische Wirkung von Schimmelpilzen, die sie aus vermoderten Eichenrindestämmen gewannen. Und bis heute werden in der modernern Naturheilkunde zwei "indianische" Pflanzen benutzt. Dr. Rainer Stange:
"Das ist der Sonnenhut, die Echinacea, die ist in unseren alten Sammlungen von Pflanzen und Rezepten ihrer Zubereitung nicht enthalten, ebenso wenig wie der Zaubernussstrauch, Hamamelis virginiana, der Name sagt es schon, also vorwiegend im heutigen Virginia beheimatet, also bei den Apalachenindianern, sehr beliebt als wundheilungsförderndes Mittel, als Mittel gegen viele Ekzeme, das sind so die Indikationen, die wir kennen."
Keine Naturheilkunde, sondern Teil der Religion
Und in der Hygiene, heute eine der wichtigsten krankheitsvorbeugenden Maßnahmen, waren die "dreckigen Wilden" den ach so zivilisierten Weißen weit überlegen. Die Indianer – Männer, Frauen und Kinder – badeten täglich nackt in Flüssen oder Seen und wuschen sich gründlich mit Kräuteressenzen - bei Wind und Wetter, das diente auch noch der Abhärtung.
Die indianische Medizin ist trotz intensiver Beobachtung und Nutzung natürlicher Gegebenheiten keine Naturheilkunde, sondern Teil der Religion. Genau deshalb begeistert sie viele in Europa, gilt gelegentlich sogar als Wunderheilkunst, weil sie spirituell, ganzheitlich, weise sei. Aber eine dieser indianischen Weisheiten – von Philip Deere, einem Medizinmann und Kämpfer für die Rechte der nordamerikanischen Ureinwohner – lautet:
"Jedes Volk hat seine eigenen Traditionen und seine eigenen Zeremonien und Rituale. Ich kann eine Krähe nicht zwingen, sich wie ein Huhn zu verhalten, und ich kann einen Falken nicht wie einen Kanarienvogel singen lassen."
Wiederholung vom 25.10.2016