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Internierung
Das Jahrhundert der Lager

Stacheldraht, Wachtürme, Baracken: Wie prägend waren Lager für unser Bild des 20. Jahrhunderts? Um diese Frage zu klären, richtete die Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen eine Tagung zum "Jahrhundert der Lager" aus, parallel zur aktuellen Gulag-Wanderausstellung. Und schon über den Namen wurde gestritten.

Von Isabel Fannrich |
    Holzbretterzaun und Stacheldraht am ehemaligen Straflager Perm 36, das bis 1989 von der Sowjetunion als Gefängnis für Dissidenten und andere Häftlinge benutzt wurde, aufgenommen am 24.07.2009. Die Anlage wird heute als GULAG-Museum benutzt.
    Holzbretterzaun und Stacheldraht am ehemaligen Straflager Perm 36, das bis 1989 von der Sowjetunion als Gefängnis für Dissidenten und andere Häftlinge benutzt wurde, aufgenommen am 24.07.2009. Die Anlage wird heute als GULAG-Museum benutzt. (dpa / Matthias Tödt)
    Darf heute der Blick auf das 20. Jahrhundert verengt werden auf seine NS-Konzentrationslager und den Gulag, die sowjetischen Lager und ihre Verwaltung in der Zeit der 1920er- bis 50er-Jahre? Trotz der großen Bedeutung von Lagern – auch über KZ und Gulag hinaus – bezweifelten die Wissenschaftler auf der Tagung "Der Gulag und das 'Jahrhundert der Lager'" in Schwerin den Sinn dieses Schlagwortes:
    "Millionen von Menschen machen Erfahrungen mit Lagern: Flüchtlingslager, Internierungslager, Kriegsgefangenenlager, Lager als politische Häftlinge. Aber wenn es zur Epochensignatur erklärt wird, bedeutet es für mich, dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts anders verlaufen wäre, wenn es das Lager in dieser Form, in der es eben existierte – das klassische Lager mit Zaun und Wachturm und Tor – wenn es das nicht gegeben hätte."
    Die große Zahl von Lagern im 20. Jahrhundert, ihre über den KZ- und Gulag-Terror weit hinausgehende Verbreitung erklärt der Historiker Dr. Christoph Jahr von der Berliner Humboldt-Universität mit ihrer besonderen Form und Architektur.
    "Das Lager, so wie es entstanden ist, ermöglicht das Experimentieren mit Menschen. Weil das Lager modularisiert ist. Man kann es jederzeit leicht aufbauen, umbauen, erweitern, verkleinern, woanders hin versetzen."
    Der Berliner Historiker hat frühere Lagertypen untersucht. So suchte das Militär seit dem 17./18. Jahrhundert nach einer Lösung, wie es seine Soldaten auf einem Feldzug kompakt und bewacht unterbringen konnte, um sie schnell einsetzen zu können. Mit Blick auf römische Militärlager sei die sogenannte "Lagerkunst" perfektioniert worden.
    Lager im Ersten Weltkrieg
    Europäische Kolonialmächte wiederum griffen um 1900 auf diese Kenntnisse zurück. Sie richteten in ihren Kolonien Internierungslager für die Bevölkerung ein, wie die Spanier 1886 auf Kuba. Im Burenkrieg pferchten die Briten in Südafrika die burische Bevölkerung in sogenannte "concentration camps" – ein Begriff, der rasche Verbreitung fand.
    "Ein wichtiger Bruch dann ist natürlich der Erste Weltkrieg, eben dieses Entstehen von ganzen Lagersystemen, wo Menschen zum Teil eben auch verschiedene Lager nacheinander durchlaufen. Erst ein Kriegsgefangenenlager, dann ein Flüchtlingslager, dann ein Umsiedlungslager, dann eventuell ein Lager als politische Gegner eines Regimes."
    Jochen Oltmer, Professor für Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück, hat ein Buch über "Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs" herausgegeben. Er bezeichnet die großen Lagerlandschaften als Novum dieser Zeit.
    "Was wir ausmachen können, ist, dass Lager eine Bedeutung haben, wie sie sie vorher nie hatten. Lager sind zu diesem Zeitpunkt, sind nach 1914 tatsächlich Masseneinrichtungen, sind Massenlager. Wir haben Millionen von Menschen, die in Europa in Lagern interniert werden. Und wir haben tatsächlich die Ausprägung, die Entwicklung von echten Lagerlandschaften mit ganz vielen unterschiedlichen Lagertypen, die ineinandergreifen und tatsächlich so etwas ausmachen wie ein Lagersystem."
    Zentral in diesem System waren die Kriegsgefangenenlager in verschiedenen europäischen Staaten. Niemand hatte sie geplant. Die europäischen Mächte seien davon ausgegangen, dass der bewaffnete Konflikt nur von kurzer Dauer und die Zahl der Kriegsgefangenen begrenzt sein würde.
    Tatsächlich gerieten acht bis neun Millionen und damit ein Siebtel aller mobilisierten Soldaten in Gefangenschaft. Das Deutsche Reich etwa musste Ende August 1914 100.000 gefangene Soldaten unterbringen und versorgen, ein Jahr später waren es bereits mehr als 1,3 Millionen Männer. Leer stehende Fabriken, Schlösser und Festungen wurden genutzt, Erdhöhlen ausgehoben. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr wurden provisorische durch Dauereinrichtungen, Zelte durch Baracken ersetzt. Und desto dringender wurden Arbeitskräfte benötigt.
    "Tatsächlich wird seit 1915 zunehmend stärker ermöglicht, dass Kriegsgefangene in der Kriegswirtschaft beschäftigt werden. Dazu muss das gesamte System der Unterbringung von Kriegsgefangenen, das bis dahin etabliert wurde, umgestellt werden. Die großen Stammlager haben in diesem Zusammenhang ihre Funktion verloren und es geht darum, tatsächlich diese Arbeitskräfte im ganzen Reich oder in den verschiedenen europäischen Staaten zu nutzen in Handwerksbetrieben, in landwirtschaftlichen Betrieben, in Industriebetrieben."
    "Ökonomische Komponente" des Lagers

    Die Erfahrung und das Wissen jedoch, Massen von Menschen - Kriegsgefangene, so genannte feindliche Ausländer und Flüchtlinge - unterzubringen und zu versorgen, waren nach 1918 noch vorhanden, sagt Jochen Oltmer. Außerdem blieb ein Teil der Struktur erhalten, und manche Lager wurden nach dem 1. Weltkrieg als Flüchtlings- und später als Konzentrationslager genutzt.
    Historische Kontinuitäten will Bernd Faulenbach, Professor für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum, dagegen nicht überbetonen. Vielmehr fordert er auf der Schweriner Tagung, die Hauptlager des 20. Jahrhunderts genau zu betrachten und in ihren zeitlichen Kontext einzuordnen. Übernahmen doch die NS-Konzentrationslager und der nach dem russischen Schriftsteller Alexander Solschenizyn benannte Archipel Gulag in beiden modernen Diktaturen unterschiedliche Funktionen. Und veränderten sich im Laufe der Zeit.
    "Aber gar keine Frage, dass in der Stalin-Zeit seit '29/30 eben auch ein ökonomischer Faktor ist. Also das sind Arbeitssklaven dann auch zum Teil, die an diesem forcierten Prozess des Kanalbaus, des Eisenbahnbaus und der Gewinnung von Bodenschätzen also eingesetzt werden, ohne Rücksicht auf das Leben dieser Menschen. Diese ökonomische Komponente ist vergleichsweise sehr stark ausgebildet, während beim NS dieser Strafvollzug, dieses Aussortieren, Ausgrenzen und gegebenenfalls Vernichten im Vordergrund steht."
    Die Wissenschaftler und Vertreter der Moskauer Gesellschaft "Memorial" fordern mit Blick auf die Gulag-Ausstellung, die russischen Archive für die Forschung zu öffnen. Erst dann könnten die Wissenslücken über jene Lager geschlossen werden, in denen rund 20 Millionen Menschen unter teils schlimmsten Bedingungen Zwangsarbeit leisten mussten.
    Erst dann sei auch ein Vergleich der beiden größten Lagersysteme des 20. Jahrhunderts weniger problematisch. Allerdings nur, wenn man sehr genau hinschaue.