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Biograf zu Karl Marx
"An vielen Stellen immer noch aktuell"

Noch heute gebe es viele Marxsche Sprüche, die "uns im Kopf herumschwirren", sagte der Biograf Jürgen Neffe im Dlf. Ihn selbst habe eher der Wissenschaftler Marx als der Philosoph interessiert, der neben allem vorausschauenden Denken eine Schwäche hatte: Er konnte nicht mit Geld umgehen.

Jürgen Neffe im Gespräch mit Michael Köhler |
    Der Journalist und Autor Jürgen Neffe
    Der Journalist Jürgen Neffe hat mit "Marx - Der Unvollendete" ein Buch über den vor 200 Jahren geborenen Philosophen geschrieben (imago/Photothek)
    Michael Köhler: Für die einen ist er ein rotes Tuch, für die anderen ein zeitgemäßer Philosoph. Er hat das "Kommunistische Manifest" verfasst und drei kapitale Bände über "Das Kapital". Am 5. Mai 1818, vor zweihundert Jahren, wurde Karl Marx in Trier geboren. Er war revolutionärer Denker, Flüchtling, Analytiker des Kapitalismus und selber unfähig, mit Geld umzugehen.
    Der Wissenschaftsjournalist Jürgen Neffe hat gelobte Bücher über Albert Einstein und Charles Darwin vorgelegt. In seinem neuen Buch widmet er sich Leben und Werk von Karl Marx und beschreibt, was sein Denken mit dem Finanzkapitalismus von heute zu tun hat.
    Zuerst habe ich Jürgen Neffe gefragt: Marx beschäftigt sich mit den wesentlichen Dingen, die Menschen ausmachen, nämlich bedürftige und arbeitende Wesen zu sein. Er macht sich Gedanken über den Doppelcharakter von Arbeit und Waren. Was tut er da?
    Jürgen Neffe: Arbeit erstmals, Interaktion mit der Welt, mit der Natur, also Veränderung dessen, was wir materiell vorfinden, ist ja immer Arbeit. Was tut er mit der Ware? Er nimmt die hegelschen Lehren über den Aufbau von Theorien ernst und findet eine Kategorie, in der sich witzigerweise alles abbildet. Denn in der Ware verbindet sich ja der Mensch mit seiner Produktion auf der einen Seite und der Markt, wo Waren getauscht werden, auf der anderen Seite. Genau da hat er einen Fokuspunkt entdeckt oder ausgearbeitet, der leider dann sein Werk am Anfang sehr schwer lesbar macht.
    Köhler: Das ist aber hoch interessant. Wir müssen uns vergegenwärtigen: Marx schreibt ja zu einer Zeit, als beispielsweise in England Kinderarbeit von zwölf Stunden noch üblich ist. Das heißt, er hat da richtig vor Augen, um was es geht.
    Neffe: Ich finde ja, dass der Marx immer wieder zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Dass es ihn nach England verschlug, nach London, war natürlich auch ein Glücksfall - nicht nur, weil dort die größte Bibliothek der Welt im British Museum stand unter der schönen riesigen Kuppel, sondern auch, weil er da natürlich einen viel weiter fortgeschrittenen Kapitalismus erleben konnte, als es zum Beispiel in Deutschland oder in Frankreich möglich gewesen wäre. Da war das Arbeiterthema, was ja auch Friedrich Engels so schön in der Lage der arbeitenden Klasse in England ausgearbeitet hat, viel weiter und sichtbarer. Es gab auch schon nennenswert das, was Marx dann Proletariat nennt, und insofern war das ein Glücksfall, dieses letzte Exil in London.
    Köhler: War Marx Marxist?
    Neffe: Er sagt: "Alles was ich weiß, ich bin kein Marxist." Ich bin jetzt bei dem Ausdruck ein bisschen vorsichtig geworden bei vielen Veranstaltungen. Man möchte ja niemandem auf die Füße treten. Ich unterscheide da zwei Marxismen, und zwar den politischen Marxismus oder Marxismus-Leninismus, wie er zum Beispiel in der DDR gepflegt und gelehrt wurde.
    "Eigentlich müsste man das Engelsianismus nennen"
    Köhler: … der ist durch.
    Neffe: Der ist durch und so ein Marxist war Marx auch nie. Aber es gibt ja große marxistische Denker. Denen möchte ich nicht auf die Füße steigen. Da könnte man Marx natürlich als marxistischen oder vormarxistischen Denker noch einordnen. Aber er war natürlich kein Marxist. Eigentlich müsste man das Engelsianismus nennen, denn Engels hat ja den Marxismus eigentlich geschaffen und gefördert.
    Köhler: Er war ein guter Philosoph, der sich für Ökonomie interessiert hat. Das war verhältnismäßig neu. Und er denkt über Dinge nach, die uns doch heute auch wahnsinnig begleiten: Zentralbegriff Arbeit, Zentralbegriff Zeit, Zentralbegriff Geld. Wie stehen die zueinander? – Wir reden heute von Erwerbsarbeit, Beziehungsarbeit, Liebesarbeit und was nicht allem. Wir reden von Lebenszeit, von Ausbildungszeit, Qualitätszeit. Wir reden davon, dass die Monetarisierung aller Lebensbereiche, das Kapital uns ergriffen hat. Wir reden von Tauschbörsen bis zur alternativen Währung. Im Grunde doch ein moderner Denker, oder?
    Neffe: Alles das findet man schon bei Marx. Der zentrale Satz für mich ist dabei: "Alle Ökonomie ist eine Ökonomie der Zeit." Da bin ich natürlich auch schon wieder nah bei Einstein, weil Marx neben den Raum eine vierte Dimension stellt, Zeit, und das Ganze als Bewegung betrachtet. Das zeichnet ihn ja auch aus vor Ricardo und Smith, dass Marx im Gefolge von Hegel sehr dynamisch denkt. Er sagt ja auch: "Geld und Kapital, das benutzen wir vielleicht synonym. Nein, Kapital ist Geld in Bewegung."
    Das Interessante ist ja, dass Marx dann sagt, die Menschen stehen in der Kontrolle einer Bewegung von Sachen, die sich selbst nicht kontrollieren. Dieser ganz moderne Ansatz passt natürlich auf all die Punkte, die Sie angesprochen haben. Marx sagt ja auch - der Mensch in der Bestimmung der Ware - voraus: Also die Produkte über die Menschen bestimmen und nicht die Menschen über die Produkte.
    Köhler: … der berühmte Satz vom Sein, das das Bewusstsein bestimmt, nicht wahr - das gesellschaftliche Sein.
    Neffe: Das gesellschaftliche Sein - bei dem Satz habe ich meine größten Probleme, muss ich Ihnen ehrlich sagen, weil ich habe das Gefühl, dass mein und auch Ihr Bewusstsein doch auch durch ganz andere Dinge bestimmt wird, nicht nur durch das gesellschaftliche oder ökonomische Sein. Da kommen ja auch meinetwegen die Prägungen durchs Elternhaus, Krankheiten und so weiter dazu.
    Köhler: Konfessionen.
    Neffe: Jetzt wieder ganz aktuell die Religion; da kommt ja sehr viel dazu. Das ist natürlich eine Zuspitzung, die dann mündet in der Geschichtsphilosophie, die dann heißt, die Geschichte ist immer eine Geschichte von Klassenkämpfen. Auch das ist ja keine absolute Wahrheit, sondern nur eine Zuspitzung.
    Köhler: Genau. Der Sieg des Proletariats hat sich irgendwie auch nicht bewahrheitet.
    Neffe: Ja, das wird sich auch nicht so bewahrheiten. Marx war ja auch ein Politiker. Er hat ja auch seine Werke als politische Werke verstanden und wollte schon den Ausgebeuteten und Unterdrückten eine Hoffnung geben. Aber was er sich auch ausgedacht hat oder auch vorgestellt hat, dass die Proletarier irgendwann mal die Mehrheit haben und demokratisch an die Macht kommen, und das haben wir ja dann doch schon erlebt. Der Sozialstaat ist ja vielleicht eine Folge davon, dass in einer freien Demokratie, wie sie dann irgendwann entstanden ist, auch mal irgendwann eine SPD plötzlich in einer Weimarer Republik an die Regierung kam als Arbeiterpartei, aber eben nicht zum Kommunismus geführt hat, sondern zu einem reformierten Sozialstaat, wie wir ihn heute erleben. Sie hat solche stehenden Sprüche und Sätze und Worte hinterlassen, wie Freud die Verdrängung, bei Marx die Entfremdung. Es gibt so viele Sätze, die uns noch im Kopf herumschwirren, und die verlocken natürlich dazu, …
    "Der Sound hat mich immer wieder begeistert"
    Köhler: Die auch richtig gut sind. "Geld gilt Zeit ab" hat nicht nur einen guten Sound, sondern trifft was auf den Punkt.
    Neffe: Ja, der Sound hat mich immer wieder begeistert. Bei aller Komplikation des marxschen Werkes kann man sich da auch so reinlesen, dass das einen fast süchtig machenden Sound kriegt. Es sind unglaublich viele Sätze. Aber auch, sagen wir mal, der Vorläufer zur Feuerbach-These, kurz vorher aufgeschrieben, wenn er sagt, man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt - für mich ein wunderbarer Satz eines jungen Mannes, der sagt, ich will die Welt so weit verstehen, dass ich sie aufgrund des Verständnisses verbessern kann.
    Köhler: Herr Neffe, was interessiert den Biochemiker an Marx?
    Neffe: Der Wissenschaftler. Der Wissenschaftler, der Theoretiker und ich glaube, das habe ich auch sehr detailliert ausgearbeitet in meinem Buch. Marx ist ja kein Prophet, wollte auch keiner sein, sondern er ist eher wie - ich nehme mal ein Beispiel - Einstein, der eine Theorie aufstellt, allgemeine Relativitätstheorie, die besteht aus Feldgleichungen und diese Theorie erlaubt Vorhersagen. Ähnlich verhält es sich mit Marx. Er hat eine sehr fundierte, philosophisch ausgearbeitete Theorie der politischen Ökonomie vorgelegt und diese Theorie erlaubt Vorhersagen. Deshalb ist er auch an so vielen Stellen immer noch aktuell.
    Köhler: Finanzkapitalismus und Globalisierung.
    Neffe: Ja. Der sieht das alles schon voraus, ohne voraussehen zu können, dass wir mal lichtschnellen Handel oder diese Derivate und das Ganze haben. Aber in Ansätzen - er konnte halt weiterdenken und hat gesagt, ein System, was sich immer weiter in Raum und Zeit ausbreiten muss, um zu überleben, was wie ein Krebsgeschwür wachsen muss, führt am Ende dazu, dass auch soziale Beziehungen kolonialisiert und kommerzialisiert werden.
    "Er hat irgendwie in der Stunde gefehlt, als es ums Haushalten ging"
    Köhler: Er war viel krank, er war viel pleite und er ging, soweit ich das richtig weiß, natürlich auch fremd. Wohlfahrt, Eigentumsbildung und Caritas waren nicht so sein Ding. In praktischen Dingen, da brauchte er immer andere.
    Neffe: Ja, da hat er irgendwie in der Stunde gefehlt, als es ums Haushalten ging. Leider hat Jenny Marx, geborene von Westphal, auch in dieser Stunde gefehlt. Die wussten beide mit Geld nicht umzugehen. Man sieht dann teilweise, dass sie doch nennenswerte Erbschaften, die fünf Jahre bürgerliches Leben garantiert hätten, in einem Jahr durchbringen. Dann wird gleich ein neues Haus bezogen, neue Möbel gekauft, sogar die Puppen der Kinder werden vom Schneider eingekleidet, es gibt Partys, es gibt Champagner und Kaviar - alles sehr sympathisch, finde ich, keine schwäbische Hausfrau. Aber ich habe natürlich zuhause gelernt, wenn die Kasse sich doch schnell leert, dass man dann sein Verhalten ändert. Die sind voll immer gegen die Wand gefahren und nach einem Jahr standen sie wieder mit leeren Taschen da und mussten beim Pfandleiher ihr Tafelsilber und schließlich sogar Marx’s Mantel versetzen.
    Warum sage ich das? Weil Marx einen Kontrollverlust beschreibt, und da wird er sehr aktuell. Er beschreibt, dass den Menschen im Kapitalismus, in der Warenproduktion die Herrschaft über ihre eigene Hervorbringung verloren gegangen ist. Er benutzt sehr viel Goethe auch in seinen Schriften und sagt, die Menschheit gleicht dem Hexenmeister, der die Gewalten, die er heraufbeschwor, nicht mehr beherrscht.
    Köhler: "Zauberlehrling"?
    Neffe: Genau. Später spricht er davon, dann benutzt er den Faust und spricht von diesem faustschen Pakt, dass wir die Kontrolle über das Geschöpf, über unser eigenes Geschöpf verloren haben, mit dem schönen Satz in der deutschen Ideologie: "Die Schöpfer neigen sich vor ihrem Geschöpf."
    Das ist deshalb so wichtig heute und aktuell, weil wir gerade wieder so einen marxschen Moment erleben. Gerade jetzt in unseren Jahren drohen wir, noch einmal weit mehr mit der Digitalisierung, der Datenwirtschaft, der Industrie 4.0, den sozialen Netzwerken - wir alle spüren es ja auch - die Kontrolle zu verlieren und möglicherweise auch endgültig zu verlieren.
    Bei Marx galt ja noch der Herwegh-Satz - jeder kennt ihn: "Alle Räder stehen still, wenn ein starker Arm es will." Wir haben es gerade wieder erlebt. Mit Streiks kann man noch seine Interessen durchsetzen. Bei dem Kontrollverlust, der uns nun droht, ist das möglicherweise gar nicht mehr machbar. Ich habe mal gesagt, das Internet kommt mir inzwischen vor wie eine Maschine, die weiterläuft, auch wenn man den Stecker rauszieht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.