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"Jede Niederlage prägt"

Laut Uwe Harttgen verfügen erfahrene Spieler nicht unbedingt über die Fähigkeit, gegen einen schwierigen Gener mutiger vorzugehen als ihre jungen Teamkollegen. Wörtlich sagte der Diplompsychologe: "Wir haben auch schon mit älteren Spielern Spiele verloren".

Uwe Harttgen im Gespräch mit Friedbert Meurer | 08.07.2010
    Friedbert Meurer: Gehen wir einmal ein halbes Jahrhundert zurück. Vier Jahre nach dem Wunder von Bern verlor Deutschland 1958 bei der Weltmeisterschaft im Halbfinale mit 3:1 gegen Schweden, in den Monaten danach wurden schwedischen Touristen in Deutschland die Autoreifen aufgeschlitzt. – 1970 nach dem 3:4 im Halbfinale gegen Italien herrschte regelrecht Wut im Land. Die Italiener hatten es gewagt, Franz Beckenbauer und Uwe Seeler zu faulen. Die Volksseele kochte. Vielleicht ist Deutschland ja ein wenig reifer geworden. Heute Morgen gibt es kein Nachtreten, sondern schlicht die Ansicht, Spanien hat besser gespielt.
    Machen wir uns nichts vor: Das viele Lob, das die deutsche Mannschaft für ihre Spielweise gegen England und Argentinien geerntet hat, es tut zwar gut, endlich sind wir einmal nicht die stillosen Teutonen, aber enttäuscht sind viele schon. Der frühere Fußball-Weltmeister Pierre Littbarski kennt das Gefühl. Zweimal war er Vize-Weltmeister, bevor es dann 1990 klappte.

    O-Ton Pierre Littbarski: Durch die Niederlagen zweifelt man natürlich am eigenen Selbstvertrauen. Man braucht wirklich ein, zwei Wochen, um das zu verarbeiten, denn mit einem Schlag ist das Turnier zu Ende. Die Jungs haben sich vermutlich auf das Finale eingestellt und man wacht jetzt auf aus einem Traum.

    Meurer: Der Traum ist ausgeträumt, bei den Spielern und bei ihren Anhängern. Uwe Harttgen ist Diplompsychologe und Direktor des Nachwuchsleistungszentrums von Werder Bremen. Guten Tag, Herr Harttgen.

    Uwe Harttgen: Einen wunderschönen guten Tag.

    Meurer: Sind Sie noch enttäuscht heute Morgen?

    Harttgen: Nein, bei mir geht es. Ich bin ja beruflich wieder eingebunden hier und die Enttäuschung war nur kurz gestern Abend.

    Meurer: Sie lenken sich also ab? Das ist Ihre Methode?

    Harttgen: Ja. Mir bleibt ja nichts anderes übrig, hier eine Sitzung zu machen. Die kann ich nicht ausfallen lassen, weil ich enttäuscht bin, weil das Spiel gestern verloren gegangen ist.

    Meurer: Wie, glauben Sie, stecken das die Spieler heute Morgen weg, dass sie gestern Abend die Chance verpasst haben, ins WM-Finale zu kommen?

    Harttgen: Ja, diese Chance ist natürlich erstmal für viele denn auch einmalig. Vielleicht sagen viele auch, okay, in vier Jahren. Aber was in vier Jahren ist, weiß natürlich keiner. Eine kurzfristige Enttäuschung wird noch da sein, aber so langsam wird das dann auch kommen, dass sie eine gute WM gespielt haben und dass das alles in Ordnung war, dass die Rückmeldung aus der Heimat ja auch positiv ist. Insofern, denke ich, wird das in ein, zwei Tagen dann auch wieder Normalität sein. Es ist ja auch so, dass sie nicht zum ersten Mal verloren haben, die Spieler.

    Meurer: Aber zum ersten Mal ein so wichtiges Halbfinale, beziehungsweise bei einigen Spielern ist es das zweite Mal, bei Lahm und bei Schweinsteiger beispielsweise.

    Harttgen: Ja, das nagt dann immer, weil man denkt, man möchte dann irgendwann auch diesen Titel haben, man möchte nicht immer der ewige Zweite sein oder im Endspiel verlieren. Das möchte man nicht. Deshalb ist der Wunsch natürlich da und die Enttäuschung groß. Aber man hat natürlich noch mehrere Chancen und hofft auch, dass man noch mehrere Chancen bekommt. Ob es die gibt, das wissen die Spieler natürlich selbst noch nicht.

    Meurer: Der frühere Weltmeister Pierre Littbarski hat uns heute Morgen gesagt, als junger Spieler sei es ihm schwerer gefallen, eine Niederlage zu verkraften. Werden wir psychisch stabiler gegen Niederlagen, umso älter wir werden?

    Harttgen: Nein, ich glaube nicht stabiler. Die Enttäuschung bei Niederlagen ist immer groß, glaube ich, gerade in so wichtigen Spielen. Ich glaube, der Umgang, dass man wirklich sagt, was kann ich machen in solchen Momenten, das wird stabiler, weil junge Menschen wissen in solchen Momenten ja nicht genau, was sie tun können, wie sie damit umgehen. Ältere haben mehr Erfahrung, wissen, aha, es geht weiter, und beim nächsten Mal versuchen sie es dann wieder besser zu machen.

    Meurer: Was kann ich denn machen in solchen Niederlagesituationen?

    Harttgen: Ich kann das gut analysieren, warum das so gewesen ist, und kann das beim nächsten Mal dann besser machen. Wenn jetzt viele Spieler zum Beispiel das Gefühl haben, dass sie vielleicht nicht alles so eingebracht haben, wie es vielleicht notwendig gewesen wäre, dann versuchen sie das beim nächsten Mal, dementsprechend umzusetzen.

    Meurer: Wird man reifer mit Niederlagen, wie es immer heißt?

    Harttgen: Ja, sicher. Die gehören genauso dazu. Es gibt ja keinen Spieler, der in seinem Werdegang bisher nur gewonnen hat. Jede Niederlage prägt natürlich auch, gerade auch solche wichtigen Niederlagen, wo der Gegner denn auch dominant ist und man wirklich das Gefühl hatte, oh, was sollten wir machen? Daraus lernen die Spieler auf jeden Fall.

    Meurer: Was macht den Menschen reifer mit jeder Niederlage Ihrer Meinung nach?

    Harttgen: Dass ich mit diesen Anforderungen umgehen kann. Ich werde ja im Laufe des Lebens sowieso reifer, habe mehr Erfahrung, und das kann ich natürlich dann irgendwann auch in der Praxis umsetzen.

    Meurer: Gehen vielleicht ältere Spieler hin und relativieren das Ganze, indem sie sagen, meine Familie, meine Kinder sind mir wichtiger und Fußball ist ja eigentlich doch nicht das Allerwichtigste in der Welt?

    Harttgen: Ja, das ist ein Faktor, dass man auch weiß, dass es andere Dinge gibt, die wichtig sind, und das relativiert natürlich den sportlichen Werdegang, oder den sportlichen Erfolg oder Misserfolg, und das ist etwas, wo man dann diese Unterstützung bekommt, von der Familie, von dem Team, von dem Stab, von der Mannschaft, vom Trainer, das sind alles Dinge, die dann eine Rolle spielen -, als wenn man sich natürlich isoliert darstellt und sich alleine die Schuld gibt oder die Verantwortung trägt. Das ist dann etwas schwieriger.

    Meurer: Herr Harttgen, hat die deutsche Mannschaft gestern ängstlich gespielt und so respektvoll gegenüber Europameister Spanien, weil sie jung ist?

    Harttgen: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube erst mal, dass sie nach zehn Minuten gemerkt haben, dass Spanien wirklich gut ist, dass Spanien dominant ist, und dass sie dann nicht genau wussten, wie sie darauf reagieren sollen. Und dann wurde es immer schlimmer, sie mussten hinterher rennen, was natürlich die Konzentration auf die positiven oder die offensiven Aktionen dann noch mal reduziert. Aber ängstlich würde ich das nicht nennen. Sie wurden dann nachher immer ohnmächtiger, weil sie diese Lösung nicht parat hatten.

    Meurer: Verfügen ältere Spieler – nennen wir ruhig mal den Namen Michael Ballack – eher vielleicht über die Fähigkeit, in so einer kritischen Situation dann mutiger voranzugehen?

    Harttgen: Wir haben auch schon mit älteren Spielern Spiele verloren. Es gibt immer so einen gewissen Grat, wo man sagen kann, aha, da liegt vielleicht noch mal eine Initialzündung, da ist noch mal ein Einwirken auf die Spieler möglich. Ob es dann tatsächlich dann immer so funktioniert, hängt natürlich auch davon ab, wie stark der Gegner war. Aber da hat man noch mal eine Option, die man nutzen kann, und die gab es gestern nicht in dem Sinne.

    Meurer: Sie sind Direktor des Nachwuchsleistungszentrums von Werder Bremen. Wenn ich mal eigene Erfahrungen nehme: Wenn man Kinder beobachtet beim Fußballspielen, die in der Bambini- oder F-Jugend spielen, also die ganz kleinen, Fünf-, Sechs-, Siebenjährigen, wenn die 1:0 zurückliegen, dann ist das, als würde man da einen Stöpsel rausziehen und der Gegner, der blüht dann auf. Hält dieser Mechanismus auch an, wenn wir erwachsen sind?

    Harttgen: Nein. Die Erfahrungen, die dazwischen liegen, prägen natürlich auch und jeder Fußballer hat ja dann überwiegend positive Erfahrungen gesammelt. Das heißt, er wird häufiger gewonnen haben, sonst wäre er gar nicht so weit gekommen. Natürlich: Niederlagen, das gehört dazu. Das sagen auch die weltbesten Trainer und weltbesten Spieler. Die können nicht verlieren. Das ist ja eine Eigenschaft, die auch positiv wirkt. Es ist ja nicht nur, dass es den schlechten Verlierer gibt, sondern es gibt eben dieses Verlieren, was dazugehört, und wie man damit umgeht und dass man die Lehren daraus zieht und hofft und dann auch daran arbeitet, dass es demnächst dann besser wird und dass man gegen solche Mannschaften dann auch ein Mittel findet, um dagegen anzugehen.

    Meurer: Frage noch an den Diplompsychologen Uwe Harttgen. Was raten Sie uns denn, den Zuschauern und Fans? Wie sollen wir mit dieser Enttäuschung heute umgehen? An etwas anderes denken?

    Harttgen: Nein. Ich glaube, dass auch bei den Zuschauern jetzt dieses positive Signal aus der Mannschaft, aus den Spielen doch in Erinnerung bleibt und dass dann der Alltag wieder einkehrt und dann die Konzentration auf die Bundesliga wieder losgeht.

    Meurer: Uwe Harttgen, Direktor des Nachwuchsleistungszentrums von Werder Bremen, über Enttäuschung und Niederlagen im Fußball und im Leben. Danke, Herr Harttgen. Auf Wiederhören!

    Harttgen: Gerne! – Danke!