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Joachim Lottmann: "Alles Lüge"
Pop meets Flüchtlingspolitik

Joachim Lottmann versteht sich gerne als "Pop-Literat". In seinem neuen Roman "Alles Lüge" wird erstmals die Politik zum tragenden Element. Immerhin sind die Deutschen durch die Flüchtlingskrise politisiert und polarisiert wie seit Langem nicht. Protagonist Johannes Lohmer jedenfalls neigt bei dem Thema zur Polemik.

Von Wolfgang Schneider | 29.03.2017
    Der Buchautor und "Pop-Literat" Joachim Lottmann, aufgenommen am 27.01.2005 in der rbb-Sendung "Leute am Donnerstag" zum Thema "Abschied vom Jugendwahn".
    Buchautor und "Pop-Literat" Joachim Lottmann (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    "Alles Lüge" beginnt mit einem albtraumhaften Urlaub im schuldengeschüttelten Griechenland, zeichnet dann die Eskalation der Flüchtlingskrise seit dem Sommer 2015 nach und endet im terrorgeschockten Südfrankreich. Joachim Lottmann macht in seinem neuen Roman nichts anderes, als die Ereignisse eines Jahres und ihre mediale Begleitmusik mitzuschreiben.
    Und natürlich die Debatten darüber im linksliberalen Freundeskreis seines Protagonisten Johannes Lohmer: lauter Autoren, Künstler, Medienmenschen. Mit feinem Gespür für falsche Töne zeigt Lottmann die hysterische Willkommensrepublik Deutschland in ihrem Komödienpotenzial.
    Lohmer kann es jedenfalls nicht mehr hören: Etwa nach Terroranschlägen die stereotype Mahnung, man dürfe jetzt "keine voreiligen Schlüsse" ziehen, mit dem Islam habe das alles doch nichts zu tun – und wer das Gegenteil behaupte, betreibe eine "schändliche Instrumentalisierung des Geschehenen im Dienste" - nun ja - "rassistischer Hetze". Die meisten Muslime seien doch friedliebende Bürger.
    "Es war, als hätte man früher aktive Faschisten dadurch verharmlost, dass es doch auch gute Deutsche gab…"
    Polemisiert Lohmer. Islamophobie-Angst wird zum Maulkorb der Aufklärung, die in jahrhundertelangen Kämpfen Freiräume gegen die Religion erkämpft hat – ohne dass dabei von so etwas wie Christophobie die Rede gewesen wäre. Der Erfolgsschriftsteller und Religionsexperte Navid Kermani wird für Lohmer zur Verkörperung des Zeitgeists:
    "Der Mann war brillant, sympathisch, ernst und humorvoll zugleich. Dennoch befand sich sein gesamtes Denken in der Vormoderne, als lebten wir nach wie vor in der Zeit zwischen Goethe und Adenauer. Er beschäftigte sich mit dem Religiösen, der Bibel, dem Koran, und er tat so, als hätte niemand von uns etwas anderes und vor allem Besseres zu tun. Und die Zuschauer bestätigten ihn darin. Ich sah mich um. Überall nur muffige, weißhaarige Gutmenschen. Die Generation der Ahnungslosen."
    Man liest mit permanentem Fake-Verdacht
    Lottmanns Texte bieten ein schillerndes Gemisch aus Fiktion und Realität, man liest sie mit permanentem Fake-Verdacht. "Alles umlügen, dass sich die Balkan biegen, aber so verblüffend intim, dass es jeder glaubt" – so hat der Autor seine Arbeitsweise einmal charakterisiert. Zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens geistern durch seine Romane. Auch in "Alles Lüge" ist die Dichte an Prominenz wieder hoch. Neben Kermani und einer Reihe weiterer Schriftstellerkollegen bekommt der Schauspieler und Bestsellerautor Joachim Meyerhoff sein Fett weg, Norbert Blüm wird abgestraft, und die Feuilletonisten der "Welt" werden als "fabelhafte Springer-Boys" zu Tode gepriesen.
    Pop goes Politik! Ausflüge in diese Sphäre hat Lottmann schon früher unternommen, etwa im Roman "Zombie Nation", wo er als "Schröderist" dem damals gerade abgewählten Bundeskanzler huldigte. In "Alles Lüge" aber wird die Politik nun erstmals zum tragenden Element eines Lottmann-Romans. Schließlich sind die Deutschen durch die Flüchtlingskrise politisiert und polarisiert wie seit Langem nicht, mancher Riss geht mitten durch Freundes- und Bekanntenkreise, durch Familien und Beziehungen. Daraus bezieht der Roman seinen sehr zeitgemäßen Grundkonflikt. Denn auch zwischen Lohmer und seiner Lebensgefährtin Harriet schwelt es. Sie ist eine linksorientierte Journalistin; Lohmers Gedanken aber driften in die Gegenrichtung. Lottmann inszeniert sein Alter Ego seit je als Querkopf und Widerspruchsgeist.
    "Ich sah die Dinge notorisch anders, als es gerade vorgeschrieben war…"
    Bekennt er an einer Stelle. Und rupft die Blüten der politischen Korrektheit.
    "500 Millionen Europäer sahen nun seit Jahren diese Sendungen über Krieg und Wüste, den IS mit flatternden Fahnen, Pick-ups mit Maschinengewehren, Männer, Kämpfer, Moscheen, Muezzin-Rufe, Bärte, wieder Wüste, zerschossene Gebäude, Ruinen, Fahnen, betende Männer, martialische Männer und Allahu-Akbar-Rufe. Immer nur Beten und Morden. Religion und Gewalt. War es nicht möglich, dass viele Europäer eine natürliche Abneigung entwickelten? Und dass sie diese Leute nicht in Europa sehen wollten, selbst wenn nur jeder Zehnte von ihnen so abscheulich tickte wie diese 'Kämpfer'? Dass sie, die Europäer, keine abstrakten 'Ängste' hatten, die sie rechtspopulistisch wählen ließen, sondern ganz konkrete und reale Abneigungen?"
    So grübelt Lohmer. In den Streitgesprächen mit Harriet aber hält er meist nur zaghaft dagegen, um den Konflikt mit seiner geliebten Frau nicht zu schüren. Und letztlich weiß er auch gar nicht so genau, was nun richtig ist, schwankt in seinen Sympathien.
    Küchendienst im Flüchtlingsheim
    Wo man mit seiner Meinung nicht weiterkommt, ist Erfahrung hilfreich. Gemeinsam mit Harriet besucht Lohmer als Reporter einen AfD-Parteitag, den er als deprimierende Ansammlung von schlechtangezogenen alten Männern erlebt. Dann schleicht er sich in Berliner Flüchtlingsheime ein, mal gibt er sich als "Unterkunftsbeauftragter der Stadt Wien" aus, mal als vermeintlicher Nachbar, der helfen will – und wird prompt zum Küchendienst eingeteilt. Dort erlebt er apathische Geflüchtete und Menschen mit fragwürdigem Helfersyndrom. Direkt von diesen Unterkünften begibt er sich dann wieder zu den Partys und Lesungen der Bohème von Berlin-Mitte – und macht die Erfahrung, dass in dieser Szene die Flüchtlingskrise ein komplettes Tabu ist:
    "Auf meinem Pullover klebte immer noch das Kreppband mit meinem Namen, das ich im Flüchtlingsheim getragen hatte, und jetzt machte ich es hastig und verschämt ab. Von den Redakteuren, Lektoren, Herausgebern, Literaturagenten und Autoren wollte wohl keiner mit dem Flüchtlingsthema belästigt werden. Ich sprach im Lauf des Abends mit unzähligen von ihnen, doch nicht ein einziges Mal kam die Rede auf das hässliche Dauer-Sujet der Deutschen. (…) Wenn ich von meiner Küchenarbeit in der Notunterkunft erzählte, schalteten alle innerlich sofort ab und verabschiedeten sich schnell."
    Mit der Schließung der Balkanroute ändert sich Lohmers Sicht auf die Flüchtlingskrise. Wenn nicht noch weitere Millionen Migranten zu erwarten sind, kann er anfangen, die Million, die schon da ist, zu schätzen – als Jungbrunnen für die "deutsche Seniorengesellschaft". Die Türken und Araber in ihren "warmen Verbänden" erscheinen ihm beim Flanieren durch Neukölln plötzlich viel sympathischer als zum Beispiel die, wie er sagt, "neuen deutschen Eltern im Prenzlauer Berg mit ihren rechthaberischen Gesichtern". In diesen Passagen lässt er das neue muslimische Deutschland in der ironischen Manier von Michel Houellebecqs Roman "Unterwerfung" hochleben:
    "Die Cafés waren offenbar entweder für ganz junge Männer reserviert oder für ganz alte. Frauen sahen wir nie, die durften sich wohl nicht ausruhen. Manchmal schleppte eine schwere Tüten und ein paar Neugeborene vorbei. Diese Welt war eine Männerwelt, die Harriet sicher missfallen hätte, aber da ich ein Mann bin, fühlte ich mich in ihr wohl. Frauen wurden ganz schön verachtet, glaube ich, aber das war ja nur die eine Seite der Medaille. So lieblos das schwache Geschlecht behandelt wurde, so liebevoll das eigene. Sobald ich einen Blickkontakt mit den jungen Muslimen hatte, strömten mir Liebe und Vertrauen entgegen, eben weil ich das richtige Geschlecht hatte."
    Schräger Humor in guter Form
    Joachim Lottmann versteht sich gerne als Popliterat; mit mehr Recht könnte man ihn als den Schriftsteller für ironische Herren jenseits der Lebensmitte bezeichnen. Seine Stärke ist kein knalliger, gebärdenreicher, sich authentisch gebender Stil, sondern ein gemächlich-gemütliches Parlando, das seine doppelbödigen Reize durch schrägen Humor bekommt.
    "Alles Lüge" hat allerdings Längen. Inzwischen nervt Lottmanns Szene-Getue ein wenig, diese Selbstinszenierung als gefragter Mann, dieses Dabeigewesenseinwollen überall dort, wo der Scheiß heiß ist und die angesagten Partys stattfinden. Lottmanns Romane berichten oft von Niederlagen und Demütigungen; gerade deshalb sind sie zugleich geprägt von einer verzehrenden Sehnsucht nach Pop, Glamour und Celebrity. So ist Lohmer auch in "Alles Lüge" wieder auf der urbanen Pirsch, im Visier hat er frisch ausgewilderte Pop-Autorinnen wie Ronja von Rönne. Dieser Jugendwahn ist eine Krise des Alterns – und erscheint inzwischen als ziemlich abgenutzte Masche.
    Davon abgesehen ist Joachim Lottmann hier aber in guter Form. "Alles Lüge" schließt nach einigen schwächeren Büchern wieder an die Stärke seiner Romane "Endlich Kokain" und "Der Geldkomplex" an. Die Werke dieses Autors sind Bruchstücke einer eigenwilligen Konfession, die inzwischen auf mehrere tausend Seiten angewachsen ist. Whole lotta Lottmann! Seine Mischung aus Satire, Polemik, übler Nachrede, scharfer Beobachtung und klugen Gedanken bietet eine offensive Auseinandersetzung mit der Gegenwart, wie man sie in der deutschen Literatur sonst nur selten findet.
    Joachim Lottmann: "Alles Lüge". Roman. Kiwi, Köln 2017, 351 Seiten, 12 Euro