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John von Düffel
Mit 50 Rückfall in die Pubertät

Wenn man mit 50 auf die Idee kommt, einen Coming-of-Age-Roman zu schreiben, kann das eigentlich nur schiefgehen. Es sei denn, man heißt John von Düffel. Dem versierten Romancier gelingt es in "Klassenbuch", die Suche nach sich selbst in neun höchst unterschiedlichen Innenansichten nahezu perfekt zu erzählen - mit kleinen Einschränkungen.

Von Florian Felix Weyh | 26.04.2017
    Der Schriftsteller und Dramaturg John von Düffel bei einer Lesung am 10.3.2013 in Köln
    Der Schriftsteller und Dramaturg John von Düffel bei einer Lesung in Köln (picture-alliance / dpa / Rolf Vennenbernd)
    Eltern schauen nach unten und sehen ihre Kinder. Weil sie selbst mal jung waren, verstehen sie sie natürlich. Kinder blicken nach oben und sehen da ihre Eltern, die mit mildem Verständnis auf sie herabschauen. Das ist ein Generationskonflikt. Denn:
    "Sie verstehen nichts. Sie haben ihre Verständnislosigkeit nur gezähmt."
    Natürlich verstehen Eltern nie, was Heranwachsende umtreibt – die Tiefe und Aussichtslosigkeit ihres Welteroberungs- und Weltverzweiflungswahns bleibt ihnen verschlossen. Sie halten psychische Probleme für lösbar und nicht für eine Existenzform, die man nur durch eine Metamorphose wieder verlassen kann. Die Eltern von Beatrice – von der dieser Satz stammt – machen deswegen eine ganz schwache Figur, wenn sie ihrer Tochter erlauben, zwei Kumpel im eigenen Haus einziehen zu lassen, um dann dem Treiben zwischen Partys und Wechsel-Sex demütig zuzusehen. Es ist Teil einer hilflosen Problemlösungsstrategie, denn Beatrice hat einen Suizidversuch hinter sich – und wünscht sich statt der nun gewährten Freiheit genau das Gegenteil:
    "Sie haben zugelassen, dass Tarek und Cem bei uns eingezogen sind, sie haben mir nichts verboten und die beiden nicht einmal rausgeschmissen, als wir es immer wilder trieben. Wir konnten machen, was wir wollten. Das verzeihe ich ihnen nie."
    Denn "Freiheit!" lautet zwar die Hauptkampfparole der Pubertät, keinesfalls aber darf sie zu Lasten von Geborgenheit gehen.
    Ein versteckter Code
    "Ich wünschte, ich könnte nach Hause kommen, zu mir."
    Das ist der versteckte Code, der alle neun Heranwachsenden in John von Düffels "Klassenbuch" zu einer Gruppe Gleichgestimmter macht: Zu sich kommen will das bosnische Flüchtlingskind Stanko, wenn es aus seinem Geburtsland Deutschland flieht, um seine Wurzeln auf dem Balkan zu suchen. Zu sich kommen will der IT-Crack Lennart, wenn er sich ins Smartphone von Henk einhackt und diesen durch Manipulation seiner Playlist fernsteuert. Denn Henk lässt sich willenlos von der Abfolge an Musiktiteln in ein emotionales Wechselbad hineintreiben, um zu sich zu kommen.
    Mit Verbissenheit arbeitet die koreanische Waise Li an der Gesangsaufnahmeprüfung für die Musikhochschule, weil sie nur so zu sich zu kommen glaubt. In Wahrheit schwimmen sie alle, keiner hat auch nur mehr als eine Strohhalm-Identität, die im ersten Lebenssturm knickt – und Düffel gönnt seinen Protagonisten keinen Lichtblick, sind sie doch alle irgendwie gefährdet, bulimisch, suizidal, depressiv:
    "Ich stecke in einem Traurigkeitszusammenhang ohne Anfang, ohne Ende, und denke immerzu, es ist nur ein Problem der Beleuchtung, ich muss die Dinge bloß in einem anderen Licht sehen! Aber ich kriege den Schalter nicht umgelegt."
    Kann ein 50-jähriger Autor die Nöte von 17-Jährigen authentisch schildern? Natürlich, es ist nur eine Frage der literarischen Potenz. Doch genau da lauert die Gefahr für einen so versierten Romancier wie John von Düffel. Am Ende eines imposanten Fiktionsparcours bleibt der Eindruck, Düffel beute die Pubertät bloß aus, um – seinerseits ein bisschen spätpubertär – zu zeigen, was er so alles drauf hat. Und das ist viel, nie billig, nie einfach, immer doppelt und dreifach codiert. Düffel schreibt nicht nur in neun abwechselnde Binnenperspektiven mit komplett unterschiedlicher Stil- und Tonlage, er lässt seine Protagonisten auch ihrerseits eine mediale Mimikry betreiben: Mal ist der Text eine Mail, mal ein Cyber-Tagebuch, mal ein fußnotengespicktes Referat, mal ein stummer Monolog oder ein Protokoll; und einmal sogar das angebliche Blog einer Katze.
    Für die Gesangsaspirantin Li erfindet Düffel ein verschollenes Rossini-Libretto, fürs Cyber-Tagebuch eine futuristische Software-Umgebung samt Kleinstkamera-Drone. Denn die Krisendiagnose "Medienverseuchung" ergänzt den Themenstrang der klassischen Pubertätskrise.
    Auf der Suche nach sich selbst in medialen Zeiten
    Es ist noch schwieriger als früher, sein Selbst zu finden, wenn man sich fortwährend medial spiegelt. Vanessa, die das Cyber-Tagebuch führt (oder doch nur herbeifantasiert, denn diese Technik gibt es noch nicht), will wie alle Jugendlichen ein perfektes Bild ihrer selbst abgeben, wobei Erwachsene deutlich stören:
    "Mit meinen Eltern habe ich medial abgeschlossen und den Versuch aufgegeben, sie zum Performen zu bringen."
    Somit könnte John von Düffel kaum ihr Vater sein, denn er performt prächtig. Er weiß sich als perfekter Autor zu inszenieren, ja schafft es sogar, jenen Überschuss an Selbstüberschätzung in die jugendlichen Ego-Texte hineinzuschreiben, der diese als genau so peinlich-altklug erscheinen lässt wie eine echte Pubertätsentäußerung.
    Fast ein bisschen herablassend
    Allerdings droht die Fülle der literarischen Mittel die psychologische Intention des Romans zu ersticken. Neben zarten Innenweltdiagnosen gibt es viel Technik-Manierismus und selbstverliebte Jargonparodien – eben alles höchst performativ, auf dass niemand sagen kann, Düffel hinke den Jungen hinterher.
    Am Ende ist er ihnen doch wieder so weit voraus, dass es fast ein bisschen herablassend wirkt. Denn jede den Heranwachsenden in den Mund gelegte Selbsterkenntnis – etwa das zitierte Autoritätsverlangen von Beatrice – ist ja doch nur die Frucht einer gelebten Erwachsenenbiografie. In der Realität blicken die Kids eher grinsend auf die Folgen ihrer Entgleisungen, und die Reflexion kommt erst Jahre später.
    John von Düffel: "Klassenbuch",
    Dumont Verlag 2017, 318 Seiten, 22 Euro.