Dienstag, 19. März 2024

Jüdisches Leben heute
Warum es junge Israelis nach Berlin zieht

19 Cent für einen Schoko-Pudding: Ein Foto davon und der damit verbundene Aufruf eines jungen Israeli an seine Landsleute, auch nach Deutschland zu kommen, hatten vor 2,5 Jahren für Aufruhr gesorgt. Inzwischen leben Tausende in Berlin und anderen deutschen Städten. Warum - damit beschäftigt sich eine Forschungsgruppe an der Bergischen Universität Wuppertal.

Von Otto Langels | 26.05.2017
    Wandgemälde einer deutsche Flagge mit Davidstern an der East Side Gallery in Berlin. Copyright: imageBROKER/EgonxBömsch
    Jüdisches Leben in Deutschland: Je höher die Zahl jüdischer Immigranten, so lässt sich vermuten, umso mehr schrumpft der Schatten der NS-Zeit. (imageBROKER/EgonxBömsch)
    In ihrem Stück "Berlin" singt die israelische Band Shmemel vom "Reichstag des Friedens", vom Euro und vom Licht, ein Lied, das von der Sehnsucht der Israelis nach Berlin und einem besseren Leben handelt. Was die Band humorvoll beschreibt, spiegelt eine wachsende Migrationsbewegung vor allem junger Israelis, die ihr Land Richtung Deutschland verlassen.
    Zum Beispiel der 23-jährige Uri Weingarten. Er kam vor anderthalb Jahren nach Berlin.
    "Berlin ist ziemlich billig, wenn man vergleicht mit Israel. Und es ist auch fast ein Witz, wie man bezahlen soll, um zu studieren, hier in Deutschland allgemein, in Israel ist es viel teurer."
    Uri Weingarten will Biologie studieren, lernt eifrig Deutsch für die Sprachprüfung und jobbt in einem kleinen israelischen Restaurant.
    "Berlin ist ganz liberal. Es gibt auch viele Leute, die hier Englisch sprechen. Und die allgemeine Atmosphäre in Berlin und Tel Aviv ist ziemlich vergleichbar. Viele junge Leute, viel Kultur."
    Uri Weingartens Lebensweg steht stellvertretend für Tausende von Israelis, die ihr Land wegen besserer Ausbildungs- und Berufsperspektiven verlassen haben.
    In Berlin kann man überleben
    Die Soziologin Dani Kranz forscht an der Bergischen Universität Wuppertal zur israelischen Migration nach Deutschland.
    "Berlin gilt als eine Stadt, wo man leben kann, im Sinne, man kann hier überleben, weil es nicht wahnsinnig teuer ist. Es sind Hochqualifizierte, es sind überproportional viele Menschen mit Abschlüssen in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften."
    Vor sechs Jahren kam der DJ und Musikproduzent Doron Eisenberg in die Hauptstadt, um in Neukölln mit einem Freund ein Café mit Plattenladen zu eröffnen.
    "Ich bin vor allem wegen der Musik nach Berlin gekommen, denn Berlin ist weltweit die Hauptstadt der elektronischen Musik. Eine Menge Künstler kommen wegen der offenen Atmosphäre und des billigen Lebens hierher."
    Das "Café Gordon" im Bezirk Neukölln liegt mitten in einem türkisch und arabisch geprägten Viertel, aber es gäbe keine Probleme mit den Nachbarn, betont Doron Eisenberg.
    Ein Eindruck, den Tal Rimon bestätigt. Die Journalistin kam vor zwei Jahren im Rahmen eines internationalen Austauschprogramms nach Berlin und arbeitet heute für eine englischsprachige Zeitung. Bewusst sei sie in den Wedding gezogen.
    "Das Erste, was ich hörte, war: Warum ziehst Du ausgerechnet dahin? Da leben doch nur Araber. Und ich: Ich bin in einer Gegend mit lauter Arabern groß geworden. Für mich ist das eine normale Umgebung."
    Gleichwohl berichten laut der Studie der Universität Wuppertal zwanzig Prozent der Israelis von antisemitischen Vorfällen in Deutschland.
    Niemand weiß genau, wie viele Israelis mittlerweile in Deutschland leben. Manche sprechen von mehreren zehntausend allein in Berlin. Die Zahl sei übertrieben, sagt die Soziologin Dani Kranz.
    "Es sind ungefähr 20.000 Menschen, die hier permanent leben. Das heißt, dass also die Schätzungen, dass es zwischen 30- und 50.000 Israelis in Berlin gibt oder 100.000 Israelis in Deutschland, absolut überschätzt waren."
    Die Vergangenheit und ihre Rolle im Alltag
    Warum sind weit höhere Zahlen im Umlauf? Auch mehr als 70 Jahre nach der Shoah ist es immer noch nicht selbstverständlich, wenn Israelis nach Deutschland emigrieren. Deshalb wird ihnen hierzulande besondere, manchmal übertriebene Aufmerksamkeit zuteil. Je höher die Zahl jüdischer Immigranten, so lässt sich vermuten, umso mehr schrumpft der Schatten der NS-Zeit.
    Immerhin sagen 80 Prozent der israelischen Zuwanderer, dass die Vergangenheit in ihrem deutschen Alltag keine Rolle spiele. Ze’ev Avraham kam vor neun Jahren der Liebe wegen nach Deutschland. Der gelernte Journalist betreibt heute ein kleines Restaurant.
    "Wenn man in Israel aufwächst, erfährt man viel über Tod und Zerstörung unter den Nazis. Aber wenn man hier lebt, erfährt man auch mehr über das Leben."
    Wie viele Immigranten dauerhaft in Deutschland bleiben wollen, ist ungewiss. Die Wuppertaler Studie geht von rund 50 Prozent aus. Ze’ev Avraham sieht – wie viele andere - für seine Familie keine Perspektive in Israel, solange der Nahostkonflikt nicht gelöst ist, ultraorthodoxe Juden das gesellschaftliche Leben zunehmend beeinflussen und weitere Terroranschläge in seiner Heimat drohen.
    "Ich denke nicht, dass wir zurückgehen, denn ich glaube nicht, dass es Frieden geben wird. Und ich will meine Kinder nicht an einem Ort aufwachsen sehen, wo keine Hoffnung auf ein Leben ohne Krieg besteht."